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Sexuelle Belästigung im Europaparlament
"Kultur des Schweigens muss aufgebrochen werden"

Die frauenpolitische Sprecherin der Grünen im Europaparlament, Terry Reintke, fordert eine unabhängige Untersuchung der Vorwürfe wegen sexueller Übergriffe im Europaparlament. Zudem seien weitere Mechanismen notwendig, damit Frauen über sexuelle Belästigung berichten könnten, sagte Reintke im Dlf.

Terry Reintke im Gespräch mit Rainer Brandes |
    Rainer Brandes: Und auf einmal diskutiert die ganze Welt über Sexismus. Und es ist ja nicht nur die Filmbranche, wo diese Vorwürfe herkommen. Auffällig ist, überall da, wo es ein Machtgefälle gibt, sind häufig sexuelle Übergriffe im Spiel. Im Europaparlament gibt es Vorwürfe von Mitarbeiterinnen gegen Abgeordnete, in London musste Verteidigungsminister Michael Fallon seinen Hut nehmen und ein weiterer Tory-Abgeordneter wurde jetzt suspendiert. Nur in Deutschland ist noch kein großer Name bekannt geworden.
    - Terry Reinke ist frauenpolitische Sprecherin der deutschen Grünen im Europaparlament. Sie fordert, die Vorwürfe gegen EU-Parlamentarier müssten detailgenau aufgearbeitet werden. Und jetzt ist sie live am Telefon. Guten Morgen!
    Terry Reintke: Guten Morgen, Herr Brandes.
    Brandes: Es heißt, unter den Abgeordneten, gegen die Vorwürfe erhoben werden, seien mindestens zwei Deutsche. Können Sie das bestätigen?
    Reintke: Ich glaube, jetzt ist nicht der Zeitpunkt, zu spekulieren, sind da Deutsche dabei, um wen handelt es sich genau. Wir müssen ein System schaffen, in dem die Frauen, die sexuell belästigt worden sind, sich nicht nur anonym an die Presse wenden, sondern sich befähigt fühlen, auch mit Beschwerdemechanismen im Parlament, aber dann auch weitergehend, mit juristischem Beistand auch gegenüber der Polizei, dazu auszusagen, damit sie wirklich wissen, worum es sich hier handelt. Und das habe ich mir mit meinen Kolleginnen im Europäischen Parlament auf die Fahnen geschrieben, dass wir genau so eine Situation schaffen wollen. Und dann können wir diesen Vorwürfen erst richtig nachgehen.
    Brandes: Nun gibt es ja bereits seit einiger Zeit im Europäischen Parlament eine Beschwerdestelle, wo man sich melden kann mit Vorwürfen wegen Sexismus. Offenbar hat sich dort aber bisher niemand gemeldet. Woran liegt das?
    Reintke: Diese Beschwerdestelle beschäftigt sich nicht nur mit sexueller Belästigung, sondern mit jeder Form von Belästigung. Es gibt ja ein sehr direktes Abhängigkeitsverhältnis zwischen Mitarbeiterinnen von Abgeordneten und Abgeordneten. Und es hat in der Tat Fälle von Belästigung gegeben. Wenn es um sexuelle Belästigung geht, dann ist das aber nie dieser Beschwerdestelle vorgetragen worden. Ich kann das nur darauf zurückführen, dass es offensichtlich nach wie vor eine besondere Stigmatisierung gibt, wenn es um sexuelle Belästigung geht. Und deswegen wollen wir weitere Mechanismen schaffen, damit Frauen sich wirklich befähigt fühlen, über sexuelle Belästigung zu berichten und dann eben auch die nötigen Schritte zu gehen, um eventuell den Tätern beizukommen.
    Brandes: Wie könnten denn solche Mechanismen aussehen?
    "Verpflichtende Trainings für Abgeordnete und Mitarbeiterinnen"
    Reintke: Zunächst haben wir jetzt gesagt, dass wir eine unabhängige Expertenuntersuchung brauchen, dass sich sozusagen auch Leute von außen mal die Situation angucken. Weil viele der Frauen, die anonym berichtet haben, sagen, dass sie eigentlich den Strukturen innerhalb des Parlaments nicht richtig vertrauen, weil das häufig Abgeordnete sind, die eben in diesen Gremien sitzen. Und die sagen, die haben ja immer noch besondere Verbindungen eventuell zu Kolleginnen und Kollegen. Dementsprechend wollen wir externe Leute reinholen, die sich das angucken, dann weitere Empfehlungen geben, was wir noch machen sollten. Wir wollen aber zum Beispiel auch, dass es verpflichtende Trainings gibt für Abgeordnete und Mitarbeiterinnen, weil viele der Mitarbeiterinnen auch gesagt haben, dass sie die Beschwerdemechanismen, die es bereits gibt, überhaupt nicht kannten. Und das müssen wir sofort ändern.
    Brandes: Eine solche externe Untersuchung ist ja auch im Europaparlament von mehreren Abgeordneten vorgeschlagen worden. Parlamentspräsident Tajani lehnt das aber bisher ab. Warum eigentlich? Welches Interesse hat er, diese Aufklärung zu verhindern?
    "Kultur des Schweigens muss aufgebrochen werden"
    Reintke: Wir haben das ja letzten Donnerstag mit einer großen Mehrheit im Parlament in einer Resolution so verabschiedet. Wir haben jetzt auch eine Petition gestartet, in der wir noch mal Unterschriften dafür sammeln. Dementsprechend glaube ich, dass es für Antonio Tajani sehr schwer sein wird, sich dem völlig zu entziehen. Nichtsdestotrotz sieht man, dass eben einige offensichtlich nicht so ein großes Interesse daran haben, dass diese Vorwürfe wirklich aufgeklärt werden. Deshalb glaube ich, dass es umso wichtiger ist, dass wir mit lauter Stimme sagen, das kann nicht sein. Hier darf es keine Vertuschung geben. Diese Kultur des Schweigens, die es zum Teil gibt, die muss aufgebrochen werden. Und jetzt muss was getan werden.
    Brandes: Auf der anderen Seite gibt es ja die Befürchtung, man könnte über das Ziel hinaus schießen. In London zirkuliert ja jetzt diese Liste mit 40 Politikern aus Großbritannien, die sich angeblich unangemessen verhalten haben sollen. Beweise gibt es dazu aber bisher nicht, zumindest nicht öffentlich. Ist das der richtige Weg, mit geheimen Listen Menschen vielleicht auch vorzuverurteilen?
    Reintke: Genau eben nicht. Wir brauchen sinnvolle Mechanismen, die Opfer befähigen, wirklich auszusagen. Und dann brauchen wir belastbare Beweise. Auch Diskussionen natürlich, aber wir brauchen auch ganz klar ein formelles Verfahren, wie mit solchen Vorwürfen umgegangen wird. Genau deshalb haben wir ja gesagt im Europäischen Parlament, wir wollen solche konkrete Schritte vorschlagen, damit es eben nicht um Spekulationen geht, um Gerüchte, sondern wirklich um ganz klar nachzuvollziehende formelle Strukturen. Und dann müssen wir natürlich darüber sprechen, wie können wir die Kultur eigentlich verändern, in Machtpositionen, in Machtstrukturen, damit solche Vorfälle in Zukunft nicht mehr passieren.
    Brandes: Und solche Machtstrukturen gibt es ja überall, die gibt es ja nicht nur in Parlamenten. Heißt das, dass wir in jedem Betrieb und jeder Institution eine Beschwerdestelle brauchen, dass wir da klare Verfahren brauchen, damit Opfer sich dorthin wenden können und eben nicht weiter zum Schweigen verdammt sind?
    "Europäische Richtlinie gegen Gewalt an Frauen"
    Reintke: In der Tat. Es braucht genau solche Möglichkeiten für Opfer sexueller Belästigung, sexueller Übergriffe, an die die sich wenden können. Bei der sie auch erst mal nur juristischen Beistand bekommen, sich über ihre Situation informieren können, weil es ja noch mal eine ganz besondere Situation ist, wenn das Opfer in einer direkten Abhängigkeit zum Täter steht. Dementsprechend bräuchten wir solche Strukturen auch in anderen gesellschaftlichen Einrichtungen. Und ich glaube, dass diese Debatte natürlich auch jetzt weitergehende politische Schritte motivieren sollte. Wir haben im Europäischen Parlament zum Beispiel auch gefordert, dass wir eine europäische Richtlinie gegen Gewalt an Frauen fordern, damit wir nicht nur schauen, was können wir eigentlich im Parlament verändern, sondern auch schauen, welche gesetzlichen Schritte müssen wir eigentlich gehen, damit sexuelle Belästigung und sexuelle Übergriffe hoffentlich schon bald der Vergangenheit angehören.
    Brandes: Aber ist da mit Gesetzen diesem Problem wirklich beizukommen? Gerade in Deutschland ist ja das Sexualstrafrecht gerade erst verschärft worden. Trotzdem fordert die Bundesfamilienministerin jetzt noch einmal Gesetzesverschärfungen. Sie sagt, beim Hand-aufs-Knie-legen sollten wir juristisch schärfer werden. Im Prinzip sind ja all diese Fälle strafbar, und trotzdem geschieht nichts. Sind da die Gesetze wirklich das richtige Mittel?
    Reintke: Ich denke, wir brauchen beides. Ich denke, wir brauchen wirklich klare und eindeutige Gesetze, was diese Dinge angeht, weil das natürlich auch einen Einfluss darauf hat, wie die Diskussion dazu geführt wird. Andererseits brauchen wir aber auch sogenannte softe, weiche Instrumente wie zum Beispiel Beschwerdestellen. Wir brauchen auch eine bessere Ausbildung der Polizei und auch der Justizinstitutionen, weil wir ganz häufig immer noch Berichte haben von Frauen, die sexuell belästigt werden, dann zur Polizei gehen und zum Teil sogar lächerlich gemacht werden mit ihren Vorwürfen. So was kann nicht sein. Wir müssen ganz klar sagen, es ist ein großes gesellschaftliches Problem. Wenn Frauen Opfer sexueller Belästigung werden, dann muss dem nachgegangen werden. Und da muss die Polizei dann im Zweifel auch darauf vorbereitet sein.
    Brandes: Sind andere europäisch Länder da eigentlich weiter als Deutschland, denn auffällig ist ja, das unter diesem Hashtag #MeToo auch in Deutschland natürlich viele Frauen und auch Männer über sexuelle Belästigungen berichten, aber es hat noch keine großen Konsequenzen gegeben, es sind noch keine großen Namen gefallen, obwohl es ja sehr unwahrscheinlich ist, dass es das in unseren Institutionen nicht gibt. Das heißt, gibt es hier noch stärker so eine Kultur, die die Aufklärung verhindert?
    Reintke: Ich glaube, dass es häufig so ist, dass zum Beispiel im Fall von Großbritannien ein Land, wo eigentlich in der Vergangenheit auch schon viel getan worden ist, um Opfer darin zu bestärken, darüber zu sprechen, sich auch wirklich an die Polizei zu wenden, dass da natürlich solche Vorwürfe sehr viel schneller ans Tageslicht kommen. Und dass dann vielleicht auch fälschlicherweise der Eindruck entsteht, dass in anderen Ländern, in denen das in der Vergangenheit nicht so passiert ist, es solche Probleme nicht gebe. Ich glaube, dass das sehr gefährlich ist. Und dass wir eigentlich in Deutschland noch sehr viel mehr tun müssten, um genau so eine Kultur, genau so ein Klima zu schaffen, dass Opfer sexueller Belästigung, Opfer sexualisierter Gewalt sich an die Polizei wenden und eben mit diesen Vorwürfen dann auch Konsequenzen einfordern. Weil ansonsten wird sich diese Kultur nicht ändern.
    Brandes: Das war Terry Reintke, frauenpolitische Sprecherin der deutschen Grünen im Europaparlament, um 8:22 Uhr live im Deutschlandfunk. Danke für das Gespräch!
    Reintke: Vielen Dank!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.