Triggerwarnung:
Im folgenden Beitrag werden sexualisierte Gewalthandlungen und deren Folgen für die Betroffenen geschildert, die belastend und retraumatisierend sein können. Das Hilfetelefon Sexueller Missbrauch bietet anonym und kostenfrei Hilfe und Beratung: 0800 22 55 530.
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Saal B 129 des Berliner Landgerichts.Die Plätze gut gefüllt. Unter den Zuhörenden viele Eltern und einige Jungen, manche im Grundschulalter. Sie hören, wie Richter Björn Jesse das Urteil gegen ihren ehemaligen Jugendwart verkündet: "Was Sie getan haben, ist monströs", wendet sich der Vorsitzende direkt an den Angeklagten.
Monströs vor allem im Hinblick auf die Folgen für die sieben betroffenen Jungen: Jede dieser Taten sei ein Stich in die Seele der Kinder.
"Der Vorsitzende Richter hat das Urteil selbst als außergewöhnlich hohe Strafe bezeichnet und das damit begründet, dass es sich um außergewöhnlich schwere Verbrechen gehandelt habe. Der Angeklagte habe das Vertrauen der Kinder in seine Person ausgenutzt und planmäßig missbraucht", ordnet Gerichtssprecherin Lisa Jani das Urteil ein, das noch nicht rechtskräftig ist.
Kinder wollten im Gericht dabei sein
Die Jungen und ihre Familien begrüßten die hohe Haftstrafe, erklärt Rechtsanwältin Manuela Liane Groll, die einige der Familien in der Nebenklage vertreten hatte.
Dass die betroffenen Jungen bei der Urteilsverkündung im Gerichtssaal sein wollten, kann die Juristin nachvollziehen:
"Das sind ja eigentlich die Akteure hier, sag ich mal, das sind die, die das erlebt haben, die dann nichts gesagt haben, die sich dann getraut haben, die Sachen zu benennen. Und die wollten eigentlich viel häufiger hierherkommen, und das haben wir dann so ein bisschen gebremst. Aber das war der Wunsch der Kinder, heute dabei zu sein."
Kinder als Requisiten des Täters
Vielleicht auch deshalb betont der Richter in seiner Urteilsbegründung immer wieder: "Wir haben den Kindern geglaubt", sagt er, denn sowas könnten Kinder sich nicht ausdenken.
Mit "sowas" meint er die schweren Straftaten, die Verbrechen. Für die trage der Beschuldigte allein die Verantwortung.
Richter Björn Jesse spricht von Oral- und Analverkehr, Vergewaltigung und davon, dass der Beschuldigte die Kinder dazu animiert habe, an sich gegenseitig sexuelle Handlungen vorzunehmen. Der Beschuldigte habe etwas nachgestellt, was in seinem Kopf gewesen sei. Die Kinder seien seine Requisiten gewesen.
Tatort: der Wohnwagen, den der Angeklagten auf dem Gelände des Angelvereins abgestellt hatte.
"Der Vorsitzende hat ausgeführt, dass der Angeklagte seine Position als Jugendwart in dem Verein ausgenutzt habe und damit eben auch nicht nur die Kinder getäuscht habe, sondern auch deren Eltern und den Verein. Es habe sich bei den Geschädigten um Jungs gehandelt, die allesamt verrückt gewesen seien nach dem Angeln. Und das habe er sich zu Nutze gemacht", so Gerichtssprecherin Lisa Jani.
Täter hatte selbst den Vorsitzenden instrumentalisiert
Der ehemalige Jugendwart sei strategisch und planmäßig vorgegangen, analysiert der Richter, habe auch den Vorsitzenden des Angelvereins instrumentalisiert. Ihn gebeten, den Computer mit belastendem Material verschwinden zu lassen, den die Polizei bei einer Razzia übersehen habe.
Der Vereinsvorsitzende habe den Computer dann aber zur Polizei gebracht. Im Prozess hatte er als Zeuge ausgesagt, schildert Nebenklagevertreterin Manuela Liane Groll. Unter anderem habe der Mann die Schwierigkeiten für kleine Vereine geschildert, Kinderschutz zu gewährleisten:
Manuela Liane Groll: "Das kriegen solche kleinen Vereine gar nicht hin. Das heißt die Kontrollmöglichkeit, das, was wir uns vorstellen, dass in Sportvereinen mehr kontrolliert wird, die scheitert in der Regel an finanziellen Mitteln. Weil überhaupt jemand Jugendarbeit macht, wird nicht kontrolliert."
Prävention sexualisierter Gewalt für viele Vereine nicht wichtig
Meral Molkenthin kennt das aus ihrer Praxis. Die Kinderschutzbeauftragte des Landessportbunds Berlinberät Vereine im Umgang mit Fällen sexualisierter Gewalt und Präventionskonzepten. Sie hat das Verfahren verfolgt, war bei mehreren Verhandlungstagen im Gerichtssaal. Auch bei der Urteilsverkündung:
"Ich bin ja relativ häufig konfrontiert mit der Thematik, und ich bin schon erschüttert und erschrocken von dem Ausmaß und den Taten, die da genannt worden sind."
Sie war bereits vor Beginn des Verfahrens über den Fall informiert, erläutert sie: "Der Verein ist auf uns zugekommen und hat bei uns gemeldet, dass es sexuelle Übergriffe durch einen Jugendwart passiert sind. Wir sind dann im Kontakt geblieben. Wir haben Beratungsgespräche, Unterstützung angeboten."
Eine Studie vor knapp vier Jahren zum Ausmaß sexualisierter Gewalt im Leistungssport hatte unter anderem ergeben: Nur die Hälfte aller Vereine hält das Thema Prävention sexualisierter Gewalt für wichtig. Erst wenn ein Fall im Verein bekannt werde, komme das Thema auf die Tagesordnung, sagen Expertinnen.
"Missbrauch hinterlässt lebenslange Wunde"
Im konkreten Fall sei das Hilfsangebot des LSB Berlin an den Angelverein durch Corona unterbrochen worden, so Molkenthin:
"Vor der Pause sah es so aus, dass wir eine systemische Beratung mit unterstützt haben, auf die Wege gebracht haben, so dass der Verein sich sortieren kann und gucken kann, wie sie in die Zukunft gehen und wie sie den Fall aufarbeiten werden."
Was die sieben Betroffenen Jungen angeht, sind die meisten laut Nebenklageanwältin Groll in therapeutischer Behandlung:
"Fakt ist, dass der Missbrauch eine lebenslange Wunde hinterlässt. Das wissen wir mittlerweile. Manche gehen besser, manche schlechter. Aber lebenslang bleibt diese Verletzung."
Wenn Sie sich an die Autorin wenden möchten: Andrea Schültke.