Zwölf Jahre ist es her. Nun macht Marie Dinkel ihre Geschichte öffentlich: Sie war 13, als der Judo-Trainer in ihrer Wettkampfgruppe sexuell übergriffig wurde. "Wir waren drei Mädchen, und er als Trainer. Eins von den Mädels musste immer mit ihm trainieren, gerade wenn es ums Kämpfen ging. So ist es im Endeffekt zum Missbrauch gekommen, dass ich im Bodenkampf von ihm festgehalten wurde. Ich hatte keine Chance mich zu befreien, was ja eigentlich der Sinn von dem Übungskampf war. Aber er hat von dort aus dann quasi die Macht ausgenutzt und mir dann von dort in die Hose gegriffen."
Beim zweiten Mal waren sogar weitere Trainer und Jugendliche in der Halle zugegen. Die beiden anderen Mädchen mussten wohl ähnliches durchmachen, so die heute 25-Jährige, die als Physiotherapeutin in der Schweiz arbeitet. Sie banden sich gegenseitig ihre Hosen fest zu, um weitere Übergriffe zu verhindern, redeten aber nicht darüber.
"Ich habe einfach Angst gehabt, es jemandem zu erzählen. Ich habe ein großes Schamgefühl gehabt. Ich habe gedacht, ich habe das irgend womit verdient, dass mir das passiert. Und es wird schon richtig so sein. Das macht jemand, der Lehrer ist und der Trainer ist, das war damals mein Lieblingstrainer, der macht das ja nicht einfach so. Da muss es einen Grund für geben."
Das war 2009 – ein Jahr bevor ehemalige Schüler der hessischen Odenwaldschule und des Berliner Canisius-Kollegs ihren Missbrauch durch einen Schulleiter und Lehrkräfte öffentlich machten. Dass auch Jungen - zumal an Elite-Einrichtungen – betroffen waren, setzte eine gesellschaftliche Auseinandersetzung mit einem Tabu-Thema in Gang. Sie hat bis heute viel bewegt, die sexualisierte Gewalt beenden konnte sie nicht.
Missbrauchsbeauftragter will Druck ausüben
Daraus zieht Johannes-Wilhelm Rörig die Konsequenzen. Der "Unabhängige Missbrauchsbeauftragte für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs", kurz UBSKM, nach der früheren Bundesfamilienministerin Christine Bergmann (SPD) seit 2011 im Amt, hört vorzeitig auf. Nicht wie geplant noch vor der Bundestagswahl, aber doch im Februar 2022. Warum? "Um Politik in Zugzwang zu bringen und zwar, dass sie mehr investiert in den Kampf gegen sexuellen Missbrauch und seine Folgen und in die Aufarbeitung von verjährtem sexuellen Missbrauch."
Rörig ist empört: Alle Parteien hätten sexuelle Gewalt in ihren Wahlprogrammen links liegen lassen. Zehn Jahre lang hat er mit seinem Team dafür gekämpft, das Thema öffentlich zu machen. Auf seine Initiative gehen der Betroffenenrat und die "Unabhängige Kommission zur Aufarbeitung Sexuellen Kindesmissbrauchs" zurück. Beide Einrichtungen geben denen, die Missbrauch erleben mussten, eine Stimme und tragen so zu mehr Wissen und Aufklärung bei.
Der Jurist hat den Kampf gegen Missbrauch institutionalisiert. Seit Jahren appelliert er an Schulen, Schutzkonzepte einzuführen. Im "Nationalen Rat gegen sexuelle Gewalt an Kindern und Jugendlichen", den er 2019 mitbegründete, sitzen Politik und Forschung, Experten aus der Praxis und Betroffene an einem Tisch. Dennoch zeigt die Polizeiliche Kriminalstatistik, dass die Gewalt im Jahr 2020 weiter zugenommen hat. Bei knapp 15.000 bekannt gewordenen Straftaten ging es um den Missbrauch allein von Kindern, etwa 73 Prozent davon sind Mädchen. Die Polizei vermutet weit höhere Zahlen.
"Das Entdeckungsrisiko für Täter und Täterinnen ist immer noch zu gering, die wenigsten Fälle werden angezeigt, die meisten Taten werden auch gar nicht entdeckt. Und es ist einfach wichtig, dass wir in dem Bereich der Prävention sehr viel mehr investieren. Alleine mit höheren Strafandrohungen zu agieren, das hilft nicht, um sexuelle Gewalt gegen Kinder und Jugendliche einzudämmen."
Anstieg beim Delikt "Kinder- und Jugendpornografie"
Insbesondere die Zahl polizeibekannter Fälle von Kinder- und Jugendpornografie ist im vergangenen Jahr um mehr als die Hälfte angestiegen. Von Jahr zu Jahr gebe es mehr Missbrauchs-Darstellungen im Internet, erklärt auch Julia von Weiler, Geschäftsführerin der deutschen Sektion von "Innocence in Danger", einem Verein für digitalen Kinderschutz.
"Die Tendenz der letzten Jahre ist, dass die harten Missbrauchs-Darstellungen, da sprechen wir von wirklich sehr schweren Sexualstraftaten – mit Penetration zum Beispiel – zunehmen. Und dass die Kinder immer kleiner werden. Das hat einen ganz zynischen, praktischen Hintergrund. Kleine Kinder können sich nicht gut mitteilen. Und wenn sie sich mitteilen, dann glaubt man ihnen das nicht so recht. Und der andere Bereich ist, dass die sogenannten selbst generierten Missbrauchs-Darstellungen auch zunehmen. Ich als Täter oder Täterin manipuliere ein Kind digital so geschickt, dass dieses Mädchen, dieser Junge vor der Webcam sexuelle Handlungen an sich vornimmt."
Sexuelle Gewalt geschieht am häufigsten im direkten sozialen Umfeld. Digitale Medien und Kommunikationswege spielten dabei in den meisten Fällen eine Rolle, so die Psychologin. Noch mangele es an genauer Analyse: "Wie sehr spielen digitale Medien in der alltäglichen sexualisierten Gewalt eine Rolle? Wir von Innocence sagen seit 2007, jetzt inzwischen seit 14 Jahren, wir müssen bei jedem Fall sexualisierter Gewalt an Kindern die Möglichkeit von Missbrauchs-Darstellungen und deren Verbreitung in Betracht ziehen. Da hat man uns aber so was von den Vogel gezeigt wirklich noch bis vor zwei Jahren. Und jetzt durch Lügde und Münster und Bergisch Gladbach kapieren plötzlich alle: 'Ach so, die haben ja total recht.'"
Ist tatsächlich mehr Wissen nötig, um zu verhindern, dass Kinder und Jugendliche Opfer werden oder um bei akuten Missbrauchsfällen eingreifen zu können? Ja, sagt Sabine Andresen, bis Ende September Vorsitzende der "Unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung Sexuellen Kindesmissbrauchs". Zu wenig sei bekannt über das Ausmaß der Gewalt, über Täterstrategien, über Schulen und Sportvereine als Tatort. Kaum angerührt werde das Thema weibliche Täterschaft - obwohl Frauen für jeden zehnten sexuellen Übergriff verantwortlich sein könnten.
Studie über Familie als Tatort
Erst kürzlich legte Andresen, Professorin für Sozialpädagogik an der Goethe-Universität Frankfurt am Main, nach Untersuchungen etwa zu Missbrauch in der Institution Kirche und in pädosexuellen Netzwerken eine weitere Studie über Familien als häufigsten Tatort vor. 870 Betroffene hatten der Aufarbeitungskommission berichtet, was sie dort erleben mussten.
"Ein erster Punkt ist, dass hier Täter und Täterinnen nahezu unbegrenzt Zugriffsmöglichkeiten auf Kinder haben und diese auch nutzen. Hier hat die Dimension der Gewalt natürlich ein ungeheuerliches Ausmaß, weil betroffene Kinder zu keiner Zeit wirklich sicher sein konnten und sich sicher fühlten. Und vielleicht dann die Abwesenheit des Täters oder aber ihre Zeit in der Schule die einzige Zeit einer gewissen Beruhigung und Entspannung war."
Die sexuelle Gewalt in der Familie geht vielfach mit weiteren Gewaltformen einher, zeigt ein weiterer Befund. Häufig gibt es mehrere Täter. Knapp die Hälfte der Betroffenen habe berichtet, bereits im Alter von unter sechs Jahren ersten sexuellen Übergriffen ausgesetzt gewesen zu sein – jahrelang. Ein Kind, so das Fazit der Erziehungswissenschaftlerin, könne sich aus der familiären Gewalt niemals alleine befreien. Was hilft? "Starke kompetente andere Erwachsene. Es ist ganz wichtig, dass es ein Wissen über sexuelle Gewalt gibt, dass wir alle uns auch vorstellen wollen, dass Väter und Mütter oder Großväter und Brüder sexuelle Gewalt ausüben. Da gibt es nach wie vor so eine Denk- und Vorstellungsblockade. Und die müssen wir überwinden."
Immerhin zeigen sich gewisse Erfolge im Kampf gegen sexuellen Missbrauch – auch weil Betroffene wie Marie Dinkel nicht länger schweigen: Längst gibt es an vielen Schulen Schutzkonzepte und Ansprechpersonen. Freizeiteinrichtungen wie die Pfadfinder betreiben Nachforschungen über mögliche vergangene Vorfälle. Auch beim Breitensport, wo viele Kinder und Jugendliche sich engagieren, wird der "blinde Fleck" sexueller Missbrauch derzeit untersucht, berichtet Bettina Rulofs, Professorin für Sportsoziologie an der Bergischen Universität Wuppertal.
Hilfs- und Beratungsangebote: Unter der Nummer 0800 22 55 530 ist das Hilfe-Telefon Sexueller Missbrauch montags, mittwochs und freitags von 9 bis 14 Uhr sowie dienstags und donnerstags von 15 bis 20 Uhr bundesweit, kostenfrei und anonym erreichbar. Das Hilfe-Telefon ist laut Bundesfamilienministerium eine Anlaufstelle für Menschen, die Entlastung, Beratung und Unterstützung suchen, die sich um ein Kind sorgen, die einen Verdacht oder ein "komisches Gefühl" haben, die unsicher sind und Fragen zum Thema stellen möchten. (Quelle und Link zu weiteren Infos: Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend)
Im Forschungsprojekt "SicherImSport" beleuchtet sie gemeinsam mit der Uniklinik Ulm, wie häufig und in welcher Form psychische, physische oder sexuelle Gewalt in Vereinen vorkommt – und inwiefern die Abhängigkeit von Trainern und Trainerinnen diese begünstigen. Viele Vereine hätten familienähnliche Strukturen, so Rulofs.
"Man ist eng miteinander befreundet, und viele bezeichnen ja auch den Verein als ihre Familie, wenn dann beispielsweise auch schon mehrere Generationen von Familien immer wieder in den gleichen Verein gehen. In solchen nahen Strukturen - das kennen wir eben auch vom Missbrauch, der in den Familien stattfindet - bestehen immer Risiken, dass solche Verhältnisse auch ausgenutzt werden für Bedürfnisse, die eben im Bereich von sexuellen Übergriffen beispielsweise liegen können."
Prävention und Intervention
Ob Sport oder Schule, Kirche, Heime oder Familie – sexuelle Gewalt gegen Kinder und Jugendliche spielt sich in Erziehungsverhältnissen ab, hebt Sabine Andresen hervor. Die Machtverhältnisse seien immer ungleich verteilt, die Kinder darauf angewiesen, den Erwachsenen zu vertrauen. Diese Machtkomponente sei häufig noch nicht im gesellschaftlichen Bewusstsein angekommen – genauso wenig wie das Ausmaß des Gewaltgeschehens, beobachtet die Sozialpädagogin. "Wenn dann ein Kind sexuelle Gewalt erlebt, und wenn dann das Ausbleiben von Hilfe eine weitere im Grunde Eskalationsstufe dieses Gewaltgeschehens ist, dann habe ich den Eindruck: Die ist längst noch nicht im Bewusstsein von uns in der Gesellschaft in Deutschland."
Auch Julia von Weiler setzt sich für mehr Hilfe ein. Johannes-Wilhelm Rörig habe das Thema Missbrauch zwar in die Regierung geholt und mit dem Betroffenenrat und der Aufarbeitungskommission zwei wichtige Pflöcke eingeschlagen, attestiert die Psychologin von "Innocence in Danger" dem Missbrauchsbeauftragten. Sie übt jedoch auch Kritik: "Er hat sich viel mit dem Thema der Prävention auseinandergesetzt. Das ist auch richtig und wichtig. Und darüber vergessen wir, dass jetzt gerade aktuell in dieser Sekunde Mädchen und Jungen missbraucht werden. Und die brauchen Hilfe. Das eine ist die professionelle Intervention für die betroffenen Mädchen und Jungen – oder Männer und Frauen. Das andere ist die alltägliche Intervention, das heißt, ich bemerke, hier läuft irgendwas schief. Was zum Henker mache ich denn jetzt mit dieser Vermutung?"
Für Fälle, in denen etwas schiefläuft, gibt es – unter dem Dach des Missbrauchsbeauftragten - das "Hilfe-Telefon Sexueller Missbrauch". 2010 zunächst als Telefonische Anlaufstelle der Bundesregierung gegründet, wurden bis heute mehr als 53.000 Gespräche geführt, erzählt die Leiterin Silke Noack. Manche Menschen würden hier zum ersten Mal über ihre Missbrauchserfahrungen sprechen. Andere Anrufer - Eltern, Verwandte und Nachbarn - machen sich Sorgen um ein Kind in ihrem Umfeld. Sie hätten häufig ein komisches Gefühl, wollten aber niemanden verdächtigen und nicht gleich bei der Polizei oder beim Jugendamt anrufen, sagt die Sozialpädagogin.
"Denken Sie, das ist schon sexueller Missbrauch?"
Und wundert sich: "Wo wir Schilderungen bekommen von Erwachsenen, was sie beobachtet haben – und uns dann fragen: 'Denken Sie, das ist schon sexueller Missbrauch?' Und wir am anderen Ende denken: 'Oh Gott, schlimmer kann ich es mir schon kaum mehr vorstellen.' Es ist teilweise wirklich unglaublich, wie wenig Wissen doch da ist. Wo fängt Missbrauch an, und wo hört eine kuschelige Umarmung auf? Da sehe ich tatsächlich noch viel Bedarf an Aufklärung."
Dass Menschen einen Verdacht für sich behalten, hänge damit zusammen, dass sie das Hilfe-Telefon oder andere Beratungsstellen nicht kennen, glaubt Noack. Und die Betroffenen schweigen, weil sie sich schämen und schuldig fühlen. "Stellen Sie sich vor, Sie sind in einem kleinen Dorf. Wer ist da wichtig? Das sind immer noch Lehrerinnen und Lehrer, das ist die Polizei, und das ist auch der Trainer im Sportverein. Und wenn Sie so massiv als kleines Kind oder Jugendliche unter Druck gesetzt werden, wenn der Trainer angesehen ist, wenn der bei Dir vielleicht mit den Eltern befreundet ist und auch noch im Kirchenvorstand sitzt, dann ist es unglaublich schwer, sich jemandem anzuvertrauen."
Marie Dinkel hat ihrer Mutter erst nach drei Monaten von den sexuellen Übergriffen ihres Judo-Trainers erzählt. Heute rät sie Kindern, sich ihren Eltern oder anderen Trainern unbedingt anzuvertrauen, wenn sie etwas Merkwürdiges erlebt oder gesehen haben. Diese wiederum sollten ihnen vermitteln, dass sie mit ihren Problemen nicht allein gelassen werden.
Dinkels Eltern sprachen mit dem Verein. Der Trainer wurde entlassen. Den Grund dafür hätten nur weitere Trainer, nicht aber die anderen Eltern und Kinder erfahren. "Ich wurde im Jahr 2015, 2016 dann mit einer Posttraumatischen Belastungsstörung diagnostiziert, die sich bei mir vor allem durch Panikattacken und teilweise dissoziative Zustände geäußert hat. Das wurde erst so spät ausgelöst, als das Ganze wieder getriggert wurde bei einer Praktikumsstelle, wo ich eine Schülerin von ihm getroffen habe. Und sie auch davon erzählt hat, dass er wieder Judo macht. Und danach hat das eigentlich angefangen."
Heute geht es Marie Dinkel meist gut. Sie ist aus ihrem Heimatort weggezogen, hat therapeutische Hilfe in Anspruch genommen. Das Thema Missbrauch sei nicht mehr ein ganz so großes Tabu. Trotzdem wünscht sie sich noch mehr Unterstützung für Betroffene.
"Egal wie viel man präventiv arbeitet, wenn es dann trotzdem zu so einem Vorfall kommt, was macht man denn danach? Das ist noch ein Thema, das auf jeden Fall noch ausgebaut werden kann mit unabhängigen Anlaufstellen, mit einer ehrlichen unabhängigen Aufarbeitung, psychischer Abklärung, Unterstützung für die Betroffenen auch im höheren Alter. Ich wäre froh, wenn ich eine Stelle hätte, wo ich mich dran wenden könnte. So was existiert noch zu wenig oder halt gar nicht."
Gesellschaft muss hinschauen und handeln
Wie kann es gelingen, dass die Gesellschaft hinschaut und vor allem handelt? Wie die innerfamiliären Loyalitäten aufbrechen und die Angst verringern, einen Verdacht gegen eine Autoritätsperson im Krankenhaus oder Sportverein, in der Kirche oder Schule zu äußern? Der Missbrauchsbeauftragte will im kommenden Jahr, noch bevor er sein Amt niederlegt, gemeinsam mit dem Bundesfamilienministerium eine große Aufklärungs- und Sensibilisierungskampagne starten. Von der alten Bundesregierung hat er dafür einen Etat von jährlich fünf Millionen Euro bekommen.
"Wir wollen zum Beispiel der mitwissenden Mutter oder dem Sportsfreund, der sieht, dass sich ein Sporttrainer einem Mädchen unangemessen nähert, ein Instrument in die Hand geben, um dann auch Hilfe zu holen und nicht nur wegzuschauen." Allein steht Rörig nach zehnjähriger Amtszeit nicht da. Mahnte doch der Nationale Rat in einer "Gemeinsamen Verständigung" die Bundesländer an, die lange geforderten Schutzkonzepte 'in Einrichtungen und auch digital' konsequenter zu entwickeln und umzusetzen. Ein "Bundeszentrales Kompetenzzentrum" soll eine 'nationale Strategie zur Häufigkeitsforschung sexueller Gewalt' umsetzen.
Große Worte - im Klartext: Es müssen Zahlen her, wie häufig und wo junge Menschen missbraucht werden. Psychologin Julia von Weiler geht das zu langsam: "Im Moment kann der UBSKM überhaupt nur appellieren die ganze Zeit. Und ich finde, die Zeit des Appells und die Zeit zu sagen, ihr müsst innerlich bereit sein, euch mit diesem Thema auseinanderzusetzen, diese Zeiten sind wirklich lange vorbei."
Johannes-Wilhelm Rörig sieht das verständlicherweise ähnlich. Von der neuen Bundesregierung erwartet er besonderes Engagement: eine Enquete-Kommission etwa, die eine Strategie gegen sexuelle Gewalt im Netz erarbeitet. Insbesondere für sein eigenes Amt hat der Stratege eine klare Vorstellung: "Ich habe in den letzten zehn Jahren sehr stark im luftleeren Raum gearbeitet ohne gesetzliche Grundlage, ohne Rechte. Und es ist wichtig, dass dieses Amt zukünftig gesetzlich verankert wird, dass diesem Amt eine konkrete gesetzliche Berichtspflicht gegenüber dem Bundestag und der Bundesregierung auferlegt wird, so dass Politik sich dauerhaft mit den Defiziten, aber auch mit den Fortschritten in meinem Themenfeld auseinandersetzt."
Mehr Geld für gut qualifiziertes Personal ausgeben
Also alles doch wieder eine Frage der Institutionalisierung? Nein, hält Silke Noack vom Hilfetelefon dagegen. Um sexuelle Gewalt gegen Kinder und Jugendliche zu verhindern, liege es an der Gesellschaft zu erkennen und zu akzeptieren, mit welchem Ausmaß sie es zu tun habe. Schon lange sei bekannt, dass es viel zu wenig auf sexuelle Gewalt spezialisierte Beratungsstellen – und gut qualifiziertes Personal an Schulen, in Vereinen und Jugendämtern sowie an Gerichten gibt. Die Politik, sagt sie, müsse jetzt sehr viel Geld in die Hand nehmen.
"Wenn wir das nicht in die Ausbildung bekommen, und wenn Beratungsstellen nicht besser finanziert werden, ich finde, dann kannst du als Täter oder auch Täterin ziemlich sicher agieren. Und wenn da nicht richtig der Wille ist etwas zu verändern, dann sieht es glaube ich für Mädchen und Jungen in unserem Land nach wie vor nicht so gut aus.