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Sexuelle Übergriffe im Musikbetrieb
Schluss damit!

Nach James Levine wird auch dem Stardirigenten Charles Dutoit sexueller Missbrauch vorgeworfen. Diese Fälle seien erst "die Spitze des Eisbergs", kommentiert Jochen Hubmacher. Der Musikbetrieb sei ein "perfektes Biotop für eine Unkultur des Unter-den-Teppich-Kehrens", so der Dlf-Musikredakteur.

Von Jochen Hubmacher |
    Der Dirigent Charles Dutoit
    "Bankrotterklärung eines Berufsstands": Auch Musikjournalisten sollen Stardirigenten wie Charles Dutoit (im Bild) wider besseren Wissens geschützt haben, kritisiert Jochen Hubmacher (imago/Xinhua)
    Machen wir uns nichts vor. Die Fälle Levine und Dutoit sind nur die Spitze eines Eisbergs. Jeder, der sich mit dem klassischen Musikbetrieb intensiv beschäftigt, kennt Geschichten, die hinter vorgehaltener Hand erzählt werden. Sie handeln vom immer gleichen Thema mit Variationen: Person X in einflussreicher Position, meist männlich, glaubt qua Amt Person Y, egal ob weiblich oder männlich, sexuelle Handlungen aufdrängen zu können. Und Person X kommt in den allermeisten Fällen ungeschoren davon. Warum? Weil nur wenige sich trauen, Namen zu nennen. Aus Scham, weil den Opfern nicht immer geglaubt wird und weil die Täter Karrieren fördern, aber auch zerstören können.
    Übergriffe in aller Öffentlichkeit
    Habe ich mich getraut, als junger Praktikant beim SWR-Sinfonieorchester Baden-Baden und Freiburg gegen den Kontrabassisten vorzugehen, der glaubte, immer mal wieder ungefragt seine Zunge in den Mund von Kollegen schieben zu müssen? Nein! Schließlich war da ja gerade diese vakante Stelle, und natürlich saß der Herr Solo-Kontrabassist nachher auch mit im Probespiel.
    Soweit so erwartbar.
    Das eigentlich Erstaunliche: Kaum jemandem im Orchester dürften diese Übergriffe entgangen sein. Sie fanden in aller Öffentlichkeit statt. Man tat sie als Schrulle eines genialen Musikers ab, die auch dessen Karriere als Hochschulpädagoge nicht behinderte. Ich bin überzeugt, dass jeder professionelle Musiker ähnliche Geschichten erzählen kann.
    Täter beim Namen nennen
    Natürlich ist das kein Problem, das auf den klassischen Musikbetrieb beschränkt ist, sondern ein gesamtgesellschaftliches Phänomen. Aber die oft streng hierarchischen Strukturen in Musiktheatern, Orchestern oder Musikhochschulen, die wirtschaftliche Abhängigkeit vieler freiberuflicher Musiker, die keinen Plan B in der Tasche haben, all das zusammen ergibt ein perfektes Biotop für eine Un-Kultur des Unter-den-Teppich-Kehrens.
    Damit muss endlich Schluss sein. Täter müssen wissen, dass Sie bei sexuellen Übergriffen beim Namen genannt werden und dass sie damit ihre Karriere aufs Spiel setzen, egal ob Genie oder nicht. Hier sind die Institutionen gefragt, entsprechende Vorkehrungen zu treffen, ohne dabei das offene, liberale Arbeitsklima zu zerstören, das große Kunst auf Opern- oder Konzertbühnen erst möglich macht.
    Kein leichtes Unterfangen, das Entschiedenheit und Fingerspitzengefühl zugleich erfordert.
    Kritik am eigenen Berufsstand - den Musikjournalisten
    Nicht zuletzt sind aber auch wir Musikjournalisten gefragt. Denn eine erschreckende Erfahrung im Kontext der Enthüllungen um James Levine war für mich, gleich von mehreren Seiten zu hören, dass dies doch seit Jahrzehnten in der klassischen Musikszene kein großes Geheimnis gewesen sei. Solche Aussagen sind ein Armutszeugnis, eine Bankrotterklärung eines Berufsstands, der vielerorts den Kompass dafür verloren hat, wo Journalismus aufhört und PR beginnt.