Martin Winkelheide: Heute Mittag wollen die katholischen Bischöfe auf ihrer Vollversammlung in Fulda eine Studie zum sexuellen Missbrauch durch Geistliche vorlegen. Im Vorfeld ist schon einiges bekannt geworden, auch dass es von 1946 bis 2014 Hinweise auf mehr als 3.600 Fälle gibt. Viele Fälle aber bleiben weiter im Dunkeln, die Taten sind oft vertuscht worden, die Täter nutzten ihre Autorität als Priester, um die Kinder und Jugendliche einzuschüchtern. Den Opfern wurde wenig geglaubt und geholfen.
Nachholbedarf, was die Aufklärung angeht, gibt es in der Kirche - aber auch in anderen Bereichen der Gesellschaft, etwa in Schulen und im Sport. Professor Jörg Fegert ist Ärztlicher Direktor der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie am Universitätsklinikum in Ulm und er ist uns zugeschaltet. Schönen guten Tag Herr Professor Fegert!
Jörg Fegert: Guten Morgen Herr Winkelheide!
Winkelheide: Was bedeutet es eigentlich für die Opfer, wenn kirchliche Amtsträger die Täter sind - was ist anders, was ist besonders?
Fegert: Es ist ein besonderer Vertrauensmissbrauch, weil es gibt ein geschütztes Beichtgeheimnis, man hat ein besonderes Vertrauen in Priester, genauso wie man in den Arzt durch die Schweigepflicht ein besonderes Vertrauen hat. Und wenn diese spezifische Beziehung quasi missbraucht wird, dann erschüttert das neben den persönlichen Dingen auch natürlich den Glauben an die Kirche, an die Welt.
"Lange hat man den Betroffenen nicht geglaubt"
Winkelheide: Was müsste für die Opfer getan werden eigentlich?
Fegert: Was immer wieder gefordert wurde - und zu recht gefordert wurde -, ist, dass überhaupt einmal die Kirche sich zu diesen Taten bekennt, weil lange hat man den Betroffenen nicht geglaubt. Viele Betroffene haben in der Familie erfahren: Das kannst du doch nicht über einen Priester sagen und so weiter. Wir haben zahllose Berichte von Betroffenen, die sich deshalb auch gar nicht um Hilfe gewandt haben. Aber auch die, die - wie man jetzt sieht - Anzeige gemacht haben, sind oft nicht ernstgenommen worden, die eigenen Prozeduren in der Kirche sind nicht eingehalten worden und insofern ist für die Opfer jetzt auch wichtig, dass die Kirche klar sagt, was machen die einzelnen Bischöfe in ihren Diözesen aus diesen Ergebnissen der Studie, wo wollen sie ihr Verhalten ändern und wie wenden sie sich den Betroffenen stärker zu.
"Es ist viel zu schnell von Verzeihung, Versöhnung die Rede"
Winkelheide: Die Namen der Täter werden ja nach wie vor nicht genannt, aber würde es auch dazugehören, dass die Täter sich bei den Opfern entschuldigen, um das zu einem guten Ende zu bringen oder bringen zu können überhaupt?
Fegert: Das würde sicher nicht schaden. Jeder Täter, der sich zu seiner Tat bekennt, erspart den Opfern die Not, dass man ihnen nicht glaubt. Auf jeden Fall. Aber mir ist in dieser Debatte jetzt auch viel zu schnell von Verzeihung, Versöhnung und so weiter die Rede. Ich glaub, zunächst einmal muss die Kirche nicht primär an die Kirche denken - sehr lange ging es einfach um den Schutz des guten Rufs der Kirche und es ging nicht primär um die Schwächsten, für die die Kirche eigentlich auch da sein soll, und das sind die Betroffenen. Insofern erwarte ich mir schon wirklich auch eine Kommentierung dieser Studie aus der Sicht der Amtsträger mit ganz klaren Hinweisen darauf, wie man sich in Zukunft in solchen Fällen verhalten möchte.
Winkelheide: Sehen sie Tendenzen dazu, dass das passieren wird?
Fegert: Das kann ich nicht beurteilen. Die Studie wird heute vorgelegt, sie enthält sehr viele wichtige Details über die Abläufe, man kann der Studie aber auch entnehmen, dass die guten Vorsätze, die die Kirche ja gefasst hatte nach dem Missbrauchsskandal 2010, teilweise in den einzelnen Diözesen nicht umgesetzt wurden. Also hier gibt es einfach noch im Operativen ganz viel zu tun.
"Es ist ein gesamtgesellschaftliches Problem"
Winkelheide: Wir groß ist das Problem, wenn man das gewichten will, also gesamtgesellschaftlich gewichten will, wie groß ist der Anteil im kirchlichen Umfeld sozusagen an den Taten?
Fegert: Die Bundefamilienministerin hat ja richtig gesagt, es ist ein gesamtgesellschaftliches Problem. Und da muss man sagen: Auch im Kontext evangelischer Einrichtungen hat es Missbrauch gegeben, gibt es Missbrauch, wir haben gerade eine aktuelle, bevölkerungsrepräsentative Umfrage: In der gleichen Größenordnung gibt es auch Übergriffe im Sport, es gibt Übergriffe bei Chören, in der Musikerziehung - also überall da, wo Personen ein pädagogisches, aber auch Machtverhältnis, Anleitungsverhältnis haben, kommt es zu Missbrauch und am häufigsten klagen Betroffene über Übergriffe, die sie im Kontext der Schule erlebt haben.
Also alle diese Felder muss man in den Blick nehmen und nicht zuletzt - das sage ich jetzt einfach als Arzt, auch als Verantwortlicher im Krankenhaus: Es gibt auch Übergriffe im Rahmen der Heilbehandlung, im Rahmen der Therapie und in Krankenhäusern. Deshalb brauchen wir geschützte Räume, Schutzkonzepte in allen Einrichtungen, wo wir Verantwortung für Kinder tragen.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.