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Sexueller Missbrauch
Aufklärung auf Evangelisch

Mindestens 1000 Minderjährige sollen in evangelischen Einrichtungen seit 1946 Opfer sexueller Gewalt geworden sein. Die Täter wurden geschützt, die Kinder eingeschüchtert. Die Aufarbeitung soll anders laufen als in der katholischen Kirche. Wie genau, ist kurz vor der EKD-Synode noch nicht klar.

Von Thomas Klatt | 07.11.2018
    Ein Kind streckt die Hand zur Abwehr nach oben.
    Nicht nur in der Katholischen Kirche werden Kinder Opfer von sexuellem Missbrauch. (imago)
    "Jetzt wissen wir von der katholischen Kirche, die sehr in der medialen Beobachtung war, denkt man an Canisius-Kolleg zum Beispiel, versteckt sich jetzt die Evangelische Kirche dahinter?! Ein Drittel der Fälle im kirchlichen Umfeld kam aus der Evangelischen Kirche."
    Sagt die ehemalige Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, Christine Bergmann. Sie ist seit 2016 zusammen mit anderen Experten, Juristen, Sozialpädagogen, Erziehungswissenschaftlern Mitglied der Unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs. Ständige Gäste der Kommission sind auch Betroffenenvertreter. Schon 2010 hatte Bergmann als Unabhängige Beauftragte zur Aufarbeitung des sexuellen Missbrauchs im Auftrag der Bundesregierung eine telefonische Anlaufstelle eingerichtet. Damals meldeten sich bereits 20.000 Betroffene und mehr als 3000 Briefe gingen ein, erinnert sie sich. Viele hatten Leid im kirchlichen Bereich erfahren. Und längst nicht nur in der katholischen Kirche.
    Ein Drittel der Fälle aus der evangelischen Kirche
    Bei der Unabhängigen Kommission gingen seit 2016 1350 Anmeldungen für vertrauliche Anhörungen ein. Davon wurden knapp 830 durchgeführt. Außerdem liegen der Kommission rund 280 schriftliche Berichte vor. Und wieder gebe es ein ähnliches Verhältnis zwischen katholischen und evangelischen Fällen, zwei Drittel zu ein Drittel. Wenn die katholische Deutsche Bischofskonferenz in ihrer aktuellen Studie zwischen 1946 und 2014 auf rund 3700 Fälle kommt, müsste es im evangelischen Bereich mindestens schätzungsweise über 1000 Missbrauchsfälle geben.
    Diese Zahl aber kann, ebenso wie Bergmann, die ehemalige Bundesministerin und heutige Präses der EKD-Synode, Irmgard Schwaetzer, nicht bestätigen. Auf Grundlage aktueller Anfragen in den Landeskirchen sind aber jetzt schon mehrere hundert Fälle bekannt.
    "Wir wollen nicht spekulieren, wir können auch nicht spekulieren. Wir wissen aber sehr wohl in den 479 Fällen, in denen Menschen die Anerkennung ihres Leids beantragt haben, nur eine sehr vorläufige Zahl ist. Es gibt darüber hinaus 63 Fälle, in denen aus dem Hilfesystem Beistand beantragt worden ist und 22 Menschen haben sich beim Unabhängigen Beauftragten für den sexuellen Kindesmissbrauch der Bundesregierung gemeldet. Da kann es dabei Doppelungen geben. Uns ist sehr daran gelegen die Botschaft auszusenden, dass wir Opfer bitten sich zu melden."
    In zehn Landeskirchen gibt es unabhängige Kommissionen. Auf der anstehenden EKD-Synode in Würzburg werde nun die Einrichtung einer von kirchlichen Strukturen unabhängigen Stelle beschlossen, die als Ansprech- und Lotsenstelle für Betroffene zur Verfügung stehen soll. Die Aufarbeitung in der evangelischen Kirche werde auf jeden Fall eine andere sein als in der katholischen, verspricht Präses Schwaetzer.
    "Zunächst einmal denken wir, dass es im Bereich der evangelischen Kirche wenig Sinn macht sich ausschließlich auf die Pfarrerinnen und Pfarrer zu konzentrieren. Da muss der Blick geweitet werden auf alle haupt- und ehrenamtlich Tätigen innerhalb der verfassten Kirche aber auch der diakonischen Einrichtungen. Das bedeutet besondere Anforderung an das Untersuchungsdesign."
    "Aufarbeitung von Skandalen hat im Protestantismus Tradition"
    Einerseits müsse das individuelle Leid betrachtet werden. Anderseits müsse überprüft werden, welche evangelischen Strukturen Machtmissbrauch erst möglich machen. Inwieweit externe Prüfer anders als bei den Katholiken eigenständig an kircheneigene Archive und Dokumente gelangen und daraus veröffentlichen können, lässt Schwaetzer offen. Ebenso eine eventuelle Zusammenarbeit mit der Staatsanwaltschaft.
    Aber waren und sind lutherische, reformierte und unierte Gemeinden und Werke ähnlich gefährlich für Kinder und Jugendliche wie katholische? Der frühere EKD-Ratsvorsitzende Wolfgang Huber äußert sich in einem aktuellen Zeitungsinterview: Die evangelische Kirche sei in einer grundsätzlich anderen Situation. Zitat Huber:
    "Für sexuellen Missbrauch gibt es bei uns nicht dieselben strukturellen Voraussetzungen wie in der katholischen Kirche – Stichworte: hierarchische Struktur, Autoritätsverhältnisse, Pflichtzölibat, Sexualmoral. Das Problem hat auch international im evangelischen Bereich nicht die gleiche Dramatik. Selbstkritik und das Leiden an der eigenen Kirche gehören zum Wesen des Protestantismus. Deshalb hat auch die Aufarbeitung aller Arten von Skandal im Protestantismus Tradition." (in einem Interview mit dem Kölner Stadt-Anzeiger vom 29.10.2018).
    Der Pastor wurde angehimmelt
    Eine Selbsteinschätzung, die die evangelische Christine Bergmann so gar nicht teilen kann: "Der Verweis auf das nicht vorhandene Zölibat und die bessere oder nicht vorhandene Hierarchie oder nicht so starken Klerikalismus und so weiter, das hören wir an allen Ecken und Enden dort, wo man das Problem nicht in der ganzen Tragweite sehen will. Man kann sich nicht verstecken hinter dem Zölibat, dass man sowieso eigentlich nicht so klerikal ist. Also Hierarchien gibt es in der Evangelischen Kirche auch. Fragen Sie mal die Betroffenen."
    Beispiel evangelische Schlosskirchen-Gemeinde Ahrensburg. Hier fanden zwischen 1973 und den 1990er Jahren die schlimmsten Missbrauchsfälle statt. Mindestens zwei Pastoren haben sich über Jahre an Kindern und Jugendlichen vergangen. Ähnlich wie in der Katholischen, gebe es auch in der Evangelischen Kirche ein Täter-Opfer-Muster. Den Opfern glaubt keiner. Sie werden zum Teil erst nach Jahrzehnten gehört, wenn sie sich überhaupt noch etwas zu sagen trauen, weiß Christine Bergmann.
    "Sie werden nicht gehört. Sie sind erst mal ziemlich ausgeliefert dem sehr verehrten Pfarrer, Jugendleiter. Und wenn ihnen wirklich klar wird, was passiert und sie versuchen Hilfe zu kriegen, haben sie die Chance nicht, weil ihnen keiner glaubt. Dass wenn Kinder, Jugendliche versuchen Glauben zu finden, dass ihnen nicht geglaubt wird. Oder dann werden sie irgendwo ins Internat geschickt. Das Kind macht einen Selbstmordversuch und offenbart sich da einem Betreuer. Und das ist wieder nun ein Studienkollege des Täters, und es passiert absolut nichts. Und das ist absoluter Täterschutz."
    "Der Druck muss auch von den Gemeinden kommen"
    Jetzt aber wolle die Evangelische Kirche in Deutschland die systematische Aufarbeitung in Angriff nehmen, verspricht Präses Irmgard Schwaetzer.
    "Die Aufarbeitung hätte zweifellos früher begonnen werden können, intensiver, da gibt es nichts drum herum zu reden. Die Wichtigkeit und die Dringlichkeit, die ist inzwischen bei allen bekannt. Ich bin mir ganz sicher, dass die Synode die Notwendigkeiten klar definieren wird."
    Was aber bedeutet evangelische Aufklärung? Werden nun die Täter öffentlich benannt? Reichen aber die kircheneigenen Selbstreinigungskräfte? Schönen Worten müssten auch Taten folgen, meint Christine Bergmann. Es brauche zusätzlich auch politischen und finanziellen Druck.
    "Und wir müssen dann auch klar sagen, die Kirche übernimmt ja auch Aufgaben im Auftrag der Gesellschaft. Die macht Jugendarbeit, die hat Kitas, die hat Heime und so weiter. Und da muss die Gesellschaft auch ein Interesse haben, dass die Kinder und Jugendlichen in diesen Einrichtungen sicher sind."