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Sexueller Missbrauch
"Das Thema Larry Nassar soll Olympia nicht überschatten"

Im Missbrauchsfall um den früheren Arzt Larry Nassar bietet der US-Turnverband den Opfern Entschädigungen in Höhe von insgesamt 215 Millionen Dollar an. Doch im Gegenzug sollen die Athletinnen ihre Klagen gegen den Verband nicht weiter verfolgen.

Andrea Schültke im Gespräch mit Raphael Späth |
Der ehemalige Arzt der US-Turnerinnen, Larry Nassar, steht wegen sexuellem Missbrauch und anderen Delikten vor Gericht.
Der ehemalige Arzt der US-Turnerinnen, Larry Nassar, wurde im Januar 2018 wegen massenhaften sexuellen Missbrauchs von Frauen und Mädchen zu 40 bis 175 Jahren Freiheitsstrafe verurteilt. (AFP/Geoff Robins)
Raphael Späth: Zu bis zu 175 Jahren Haft wurde Larry Nassar im Frühjahr 2018 verurteilt. Der Teamarzt der US-amerikanischen Turnmannschaft hatte jahrelang mehr als 300 Athletinnen, darunter auch Olympiasiegerinnen, sexuell missbraucht.

Die Opfer wollten aber nicht nur Nassar selbst, sondern auch den US-Turnverband anklagen, weil der über Jahre hinweg wegschaute. Um der Klagewelle zu entgehen, hat der Verband den betroffenen Athletinnen jetzt einen Vergleich angeboten – 215 Millionen US-Dollar Entschädigung, um genau zu sein, wenn die Opfer im Gegenzug ihre Klagen nicht weiter verfolgen.

Andrea Schültke, vor welchem Hintergrund bietet der US-Turnverband diese Summe an?
Andrea Schültke: Der Verband befindet sich aufgrund der Klagen und den damit verbundenen finanziellen Forderungen der Turnerinnen seit einem Jahr in einem Insolvenzverfahren. Mit diesem Vergleichsangebot will der Verband dieses Insolvenzverfahren nun möglichst schnell zu einem Abschluss bringen. Die Turnerinnen können diesem Vergleich jetzt zustimmen, oder ihre anhängigen Klagen weiterverfolgen.
Simone Bilesn (USA) bei ihrer Übung am Boden bei den Turn-Weltmeisterschaften 2018 in Doha. 
US-Turnverband meldet Insolvenz an
Die Missbrauchsaffäre um den langjährigen Mannschaftsarzt Larry Nassar bringt USA Gymnastics auch in finanzielle Schwierigkeiten. Ein Insolvenzantrag soll helfen, die Ansprüche von Nassars Opfern schneller bedienen zu können, ist aber in vielerlei Hinsicht auch hinderlich.
Späth: Der US-Turnverband schreibt, wenn die Athletinnen dem Plan zustimmen, könnte das ganze Verfahren bis Mitte des Jahres abgeschlossen sein. Warum ist der Verband so sehr daran interessiert, diesen Vergleich zum Abschluss zu bringen?
Schültke: Einmal will er die Insolvenz abwenden, zum anderen ein jahrelanges Verfahren beenden. Mitte des Jahres kann natürlich ein Hinweis sein auf die Olympischen Spiele in Tokio. Man kann davon ausgehen, dass der Verband sehr daran interessiert ist, dass das Thema Larry Nassar nicht den Auftritt des US-Teams während Olympia überschattet.
"Die Athletinnen werden noch lange nicht abschließen können"
Späth: Gibt es schon Reaktionen der Turnerinnen?

Schültke: Ja. Rachael Denhollander, die durch ein Interview das ganze Verfahren ins Rollen gebracht hat, hat auf Twitter geschrieben, der Vergleich enthalte keine der Reformen für mehr Kinderschutz, die die Athletinnen gefordert hätten, sie sei erneut mehr als enttäuscht.
Und John Manly, der etwa 200 Betroffene als Anwalt vertritt ging gegenüber dem US-Fernsehsender ESPN ins Detail: Es gehe den Betroffenen nicht um Geld, sondern um Beweise und Dokumente. Die könnten Hinweise auf die Strukturen geben, die es Larry Nasser möglich gemacht haben, jahrzehntelang Turnerinnen sexuelle Gewalt anzutun und unentdeckt zu bleiben. Der Vergleich beinhalte keine Offenlegung dieser Dokumente. Damit sei der Vorschlag nicht akzeptabel, niemand werde dafür stimmen.
Tim Evans und Marisa Kwiatkowski
"Diese Recherche hat uns aufgezehrt"
Marisa Kwiatkowski und Tim Evans sind zwei der Reporter, deren Recherche zur Aufdeckung des Missbrauchsskandals im US-Turnverband führte. Sexueller Kindesmissbrauch sei ein allgegenwärtiges Gesellschaftsproblem, sagten sie im Dlf-Sportgespräch.
Späth: Damit würden die Athletinnen sicher zugesagte hohe Geldsummen aufs Spiel setzen. Ein Beleg dafür, dass es ihnen um die Strukturen geht. Gibt es weitere Gründe?
Schültke: Ihr Anwalt John Manly sagte gegenüber ESPN, eine Zustimmung zu dem Vergleich würde auch eine Entlastung des Olympischen Komitees der USA bedeuten. Einige der Athletinnen hatten nämlich nicht den Turnverband verklagt, sondern das Nationale Olympische Komitee und das sei mit diesem Vergleich völlig entlastet.
Wenn die Athletinnen nun weiter kämpfen werden aber auch sie mit den sexuellen Gewalterfahrungen im Umfeld des US-Turnens noch lange nicht abschließen können, denn diese Verfahren kosten sehr viel Kraft.