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Sexueller Missbrauch in der DDR
"Man hat mir mein Leben völlig ruiniert"

Sexueller Missbrauch sei in der DDR-Heimerziehung ein "regelhaftes Element" gewesen, so die Autorin einer neuen Studie. Schätzungen zur genauen Zahl der Fälle gibt es nicht, die Studie zeigt aber, wie stark das Thema tabuisiert wurde. Bis heute kämpfen die Opfer um Anerkennung und Entschädigung.

Isabel Fannrich-Lautenschläger |
Eine Puppe liegt in dreckiger Bekleidung an einem Straßengully.
Sexuelle Gewalt an Kindern in der DDR wurde stärker und länger tabuisiert als in der Bundesrepublik, so eine neue Studie. (imago / McPHOTO)
Corinna Thalheim war eine von rund 4.600 Jugendlichen, die in der DDR im Geschlossenen Jugendwerkhof Torgau eingesperrt waren. Sie hatte mehrmals versucht, aus einem anderen Heim zu fliehen. Der ursprüngliche Auslöser: ein paar Tage Schulbummelei, wie die 51-Jährige erzählt.
"Ich bin die letzten dreieinhalb Monate 1985 in den Geschlossenen Jugendwerkhof Torgau eingeliefert worden. Und man hat mir mit den dreieinhalb Monaten Torgau mein Leben völlig ruiniert. Ich hab in Torgau so viel Gewalt und Missbrauch erlebt – repressive Heimerziehung war zu DDR-Zeiten groß geschrieben. Aber was man in Torgau mit uns gemacht hat, das war wirklich das Brechen der Kinder."
"Herz der Finsternis": Jugendwerkhof Torgau
Wie viele Menschen in der DDR als Kinder sexuelle Gewalt erlebt haben, dazu gibt es keinerlei Schätzung. 29 Männer und Frauen haben der Unabhängigen Kommission in einer vertraulichen Anhörung oder schriftlich geschildert, wie sie in DDR-Institutionen missbraucht wurden – in Heimen und Jugendwerkhöfen, aber auch in Schulen, Musikschulen und Freizeiteinrichtungen.
Beate Mitzscherlich, Professorin für Pflegeforschung in Zwickau, hat diese Berichte ausgewertet. Der Jugendwerkhof Torgau wird von den Betroffenen besonders häufig genannt als ein Ort, an dem Kinder sexuell genötigt, drangsaliert oder vergewaltigt wurden.
"Das war das Herz der Finsternis. In Torgau sind eskalierende Heimkarrieren geendet. Manche dieser Heimkarrieren sind deswegen eskaliert, weil sexueller Missbrauch ein regelhaftes Element der Heimerziehung war. Also Kinder, die missbraucht wurden in einem Normalheim, in einem Spezialheim, sind natürlich geflüchtet, haben versucht, diesem Kontext zu entkommen. Und Entweichungen führten zu einer Verschärfung der Repression, also geschlossene Heimunterbringung und dann möglicherweise am Ende Geschlossener Jugendwerkhof."
Selbst wenn jemandem die Flucht aus einem Heim gelang, kam er nicht weit, sondern wurde am nächsten Bahnhof oder an der Grenze wieder aufgegriffen. Hinzu kamen die Erziehungsvorstellungen in der DDR. Es sei ein Allmachtsanspruch gewesen, die Kinder unter allen Umständen zu sozialistischen Menschen zu formen, sagt Beate Mitzscherlich:
"Also sozusagen das sind ja schlimme Kinder, die müssen zurechtgebogen, umerzogen werden. Und das hat dazu geführt, dass übergriffiges Verhalten – das ging mit Sauberkeitskontrollen los -, normalisiert wurde. Und zunehmend auch nicht sanktioniert wurde, wenn dieses übergriffige Verhalten ausgeufert ist."
Missbrauch - in der sozialistischen Gesellschaft tabuisiert
Nach Ansicht der Wissenschaftlerin wurde sexuelle Gewalt an Kindern in der DDR stärker und länger tabuisiert als in der Bundesrepublik. In der pädagogischen Ausbildung kam das Thema nicht vor. Und in den Institutionen seien Kinder und Jugendliche bestochen oder bedroht worden, damit sie diese Straftaten nicht anzeigten.
Auch in der sozialistischen Familie durfte es sexuelle Nötigung oder Vergewaltigung offiziell nicht geben. Cornelia Wustmann, Professorin für Beratung und soziale Beziehungen an der TU Dresden, hat die Berichte von 72 Betroffenen analysiert. Sie spricht von einer zweifachen Tabuisierung:
"Sexualisierte Gewalt ist nicht Teil einer sozialistischen Gesellschaft. Und diese politische Tabuisierung erfolgt offensichtlich zugunsten des Ideals einer deliktfreien Gesellschaft. Diese Tabuisierung, die ist so stark, dass zum Beispiel Kindesmisshandlung, Kindesmissbrauch in der Statistik überhaupt nicht auftaucht, damit auch nicht existent ist. Und das zweite ist, diese Tabuisierung, dass diese sozialistische Familie nach außen wirklich immer funktioniert hat – nicht nur, was die sexualisierte Gewalt betrifft, sondern eben auch was politische Einstellungen betrifft"
Unwissen und Verleugnung
Der Missbrauch in der Familie zog sich den Berichten zufolge durch alle Schichten und Berufsgruppen. Zu den mutmaßlichen Tätern gehörten Väter, Großväter, Brüder und Cousins, die teilweise allein, teilweise gemeinschaftlich vorgingen – aber auch, wie Cornelia Wustmann betont, die Mütter.
Einige beteiligten sich demnach aktiv am Missbrauch oder reichten ihre Söhne und Töchter an Täter weiter. Die Wissenschaftlerin hat zwei weitere Verhaltensmuster beobachtet:
"Die Mutter, die wirklich unwissend ist. Indem zum Beispiel ein Vater seine Töchter mit auf Dienstreisen nimmt, um ihr die Welt zu zeigen und da sie missbraucht. Und die Mutter unwissend ist bzw. den Kindern offeriert wird, dass der Mutter das ja nicht mitgeteilt werden soll, weil sonst macht das die Mama traurig. Das andere ist eine Verleugnung von sexualisiertem Missbrauch und Gewalt, wo beispielsweise die Mutter den Übergriff des Vaters auf ihre Tochter sieht und die Mutter leugnet das aber für sich und sagt: 'Du suchst dir selber einen Freund. Dann kannst du es mit dem machen, aber nicht mit deinem Vater und meinem Ehemann'."
Ziel der wissenschaftlichen Aufklärung ist nicht nur, den Betroffenen zu Anerkennung und Würde zu verhelfen. Auch Entschädigung und Therapien sind wichtige Anliegen, leiden doch viele noch heute unter gesundheitlichen und psychischen Folgen und – wegen fehlender Ausbildung – auch unter finanziellen Sorgen.
Stigma wirkt noch immer
Corinna Thalheim hat mit diesen Schicksalen häufig zu tun. 2011 hat sie in der Gedenkstätte Geschlossener Jugendwerkhof Torgau eine Selbsthilfegruppe für Betroffene von Heimerziehung und sexuellem Missbrauch gegründet. Das ist ihre Berufung, wie sie sagt.
"Es ist übrigens bundesweit die einzige immer noch in dieser Form, was uns traurig macht, wirklich traurig macht. Aber es zeigt auch, dass wirklich die Betroffenen den Mut noch nicht haben, über sexuellen Missbrauch zu sprechen, weil die Erfahrung schon so schlimm war, dass viele Betroffene erstmal über die Heimerfahrung sprechen und die Stigmatisierung bis heute immer noch für die Heimkinder da ist."