"Ich leide an depressiven Episoden, habe Angstzustände und Panikattacken und immer wiederkehrende Flashbacks", erzählt Claudia Schmidt. Sie war fünf Jahre alt, als der Pfarrer ihrer Gemeinde sie erstmals sexuell bedrängte. Das war Ende der 1980er-Jahre. Die Angriffe steigerten sich, Claudia Schmidt wurde Opfer schwerer Straftaten. Die sexualisierte Gewalt ging über mehr als vier Jahre. Wie viele Betroffene, verdrängte Claudia Schmidt die schrecklichen Erlebnisse. "Es war dann 2011, wo aufgrund einer familiären Veränderung wieder alles hochgekommen ist."
Claudia Schmidt war Opfer eines von 46 mittlerweile bekannten Peinigern in Soutane, die ihre Taten im Bistum Limburg in den vergangenen Jahrzehnten begingen - oft verharmlost und gedeckt von Verantwortlichen in der Bistumsleitung, die vor allem auf den Ruf ihrer Kirche bedacht waren.
Personalakten noch einmal durchsucht
Im Rahmen eines Aufarbeitungsprojektes des Bistums hat der pensionierte Richter Ralph Gatzka zusammen mit seinem Kollegen Josef Bill und einer Psychologin die vorhandenen Personalakten einschließlich Geheimakten noch einmal durchforstet.
Gatzka: "Es ging im Wesentlichen darum, jetzt zu gucken: Was ist aufgrund von Anzeigen, von Mitteilungen im Bistum geschehen, also zu ermitteln, wer hat hier was vertuscht?"
Der Bericht dieser Arbeitsgruppe 1 liefert durchaus neue Erkenntnisse. Unter den Beschuldigten, die in dem Text, um juristischen Klagen vorzubeugen, mit - teilweise veränderten - Initialen aufgeführt werden, sind auch bekannte und hochrangige Kleriker.
Verantwortliche des Bistums Limburg haben über Jahrzehnte die Taten dieser Geistlichen verharmlost und verschleiert - ohne Mitgefühl für die kindlichen und jugendlichen Opfer der sexualisierten Gewalt. Als Beispiel nennt Gatzka an dieser Stelle im Interview einen Bischof mit Namen sowie hochrangige Ämter im Bistum, deren Inhaber vertuscht hätten.
Angemessen wäre, jeden Vertuscher namentlich zu nennen
Diese Interviewpassage mit dem ehemaligen Landgerichtspräsidenten wird in diesem Beitrag nicht ausgestrahlt - weil sie Anlass zu Klagen durch darin bezeichnete frühere Amtsinhaber sein könnte.
Und das Bistum, hatte das keine Angst vor Klagen, wenn es Namen von früheren Bischöfen und anderen hochrangigen Klerikern als Vertuscher veröffentlicht?
Gatzka: "Nein, das haben wir mit dem Bischof auch abgesprochen. Dass das so reinkommt."
Wobei, das muss der Vollständigkeit halber gesagt werden: Namen zumindest eines - von in der Regel drei - Verantwortlichen, die bei sexualisierter Gewalt üblicherweise informiert sind, werden in dem Gatzka-Bericht in nicht einmal der Hälfte der untersuchten 46 Fälle tatsächlich genannt.
Mitunter wird das "bischöfliche Ordinariat" angeführt - ohne Ross und Reiter zu nennen. Oder es ist vom "Bischof" die Rede. Anhand des angegebenen Zeitraums kann man herausfinden, wer der Bischof war, der vertuscht hat. Aber es kann nicht Sinn einer derartigen Untersuchung sein, dass man weiter recherchieren muss, um Namen zu erhalten. Angemessen wäre, in jedem einzelnen Fall jeden Vertuscher namentlich zu nennen.
Schwächen der Aufarbeitung: Umgang mit Betroffenen
Die Arbeitsgruppe 1 wie auch das gesamte, vom Bistum Limburg initiierte, aber unabhängig organisierte Aufarbeitungsprojekt unter dem Titel "Betroffene hören, Missbrauch verhindern" mit insgesamt neun Arbeitsgruppen hat eine weitere deutliche Schwäche: Der Umgang mit Betroffenen.
Claudia Schmidt hatte bereits vor einigen Jahren dem Bistum mitgeteilt, dass sie sich an der Aufarbeitung sexualisierter Gewalt durch Kleriker gerne beteiligen würde. Anders als viele Betroffene hat Schmidt ihrer Kirche nicht den Rücken gekehrt.
Im September 2019 gab Bischof Bätzing den Startschuss zum Aufarbeitungsprojekt mit Arbeitsgruppen etwa zu "Klerikalismus und Machtmissbrauch" sowie zur "Rolle von Frauen und Männern in der Kirche". 70 Personen beteiligten sich insgesamt daran.
Bei Claudia Schmidt meldete sich allerdings lange Zeit niemand. Dabei hatte sie weiteres Material zu ihrem Fall gesammelt und sich seit Anfang 2020 mehrfach beim Bistum in Erinnerung gebracht.
Schmidt: "Man hat sich erst Anfang Mai bei mir gemeldet. Und montags hat man mir schon direkt am Telefon mitgeteilt, dass am Mittwoch in der gleichen Woche die Akte geschlossen wird."
"Betroffene waren zu keinem Zeitpunkt Kern der Aufarbeitung"
"Die Betroffenenbeteiligung im Gesamtprojekt war eindeutig zu gering", so das Urteil von Lisa Scharnagl.
Die 20-jährige Studentin war eine der 70 Teilnehmenden.
"Es war außer mir niemand aus dem Bereich Bistum Limburg dabei an Betroffenen. Und es wurde auch immer wieder kommuniziert, dass sich nicht mehr Betroffene gefunden hätten, die zu einer Mitarbeit bereit gewesen wären. Das kann ich mir aber nicht vorstellen, weil es nicht offen kommuniziert wurde im Vorfeld. Also bei mir das war ja auch Zufall, dass ich davon erfahren habe, von dem Projekt", sagt Scharnagl.
Vier Personen, die ihre Betroffenheit kenntlich gemacht haben, waren schließlich dabei - überwiegend aus anderen Bistümern. Lisa Scharnagl weiß von zwei weiteren, die sich nicht als Betroffene zu erkennen gegeben haben. Scharnagls Fazit:
"Betroffene waren zu keinem Zeitpunkt Kern der Aufarbeitung und hatten häufig mehr eine Art Bittsteller-Rolle. Es wirkte manchmal auch so, wenn mit Betroffenen gesprochen wurde, dass man mit ihnen spricht, um am Ende zu sagen: Wir haben ja auch Betroffene eingebunden. Aber es ging nicht um die tatsächlichen Aussagen oder Kompetenzen, die die Betroffenen mitgebracht haben."
Betroffene nicht über Verwendung ihrer Geschichte informiert
Wozu es führen kann, wenn bei einem groß angelegten Projekt zur Aufarbeitung sexualisierter Gewalt durch Geistliche die Expertinnen und Experten - also Juristen und Psychologinnen, Theologen und Medienfachleute - weitgehend unter sich bleiben und eher ihr schönes Projekt als die Betroffenen im Blick haben, musste Claudia Schmidt erleben: Am 13. Juni fand in der Frankfurter Paulskirche eine öffentlichkeitswirksame Veranstaltung statt, auf der die Arbeitsergebnisse vorgestellt wurden. Über die Veranstaltung wurde sie vorab nicht informiert und schon gar nicht wurde ihr mitgeteilt, dass ihr Fall exemplarisch dargestellt werden sollte.
Schmidt: "Zufällig habe ich eine Stunde vorher davon in den Nachrichten mitbekommen, und dann habe ich es per Livestream mitverfolgt. Ich war absolut geschockt, dass Herr Bill meinen Fall so ausführlich detailliert berichtet hat. Es hat mir den Boden unter den Füßen weggezogen."
Bistumssprecher Stephan Schnelle ist zerknirscht:
"Wir können uns nur als Bistum - wir waren der Veranstalter, ganz klar - entschuldigen."
Schnelles Chef Georg Bätzing war früher Generalvikar in Trier, ein Bistum mit - bezogen auf die Anzahl der Gläubigen - besonders vielen bekanntgewordenen Fällen sexualisierter Gewalt an Kindern und Jugendlichen. Bätzing muss also wissen, worum es geht:
Schnelle: "Bischof Bätzing berichtet immer wieder, dass ihn das Thema sexueller Missbrauch und das Leid, das damit verbunden ist, in seinem priesterlichen Wirken fast täglich begegnet ist und auch belastet hat."
Und auch das stellt Bistumssprecher Schnelle fest:
"Die Opferperspektive, ohne die wird Aufarbeitung schlecht möglich sein und auch kein Missbrauch verhindert werden können."
Nächste Schritte
Nach Arbeitsgruppen und Präsentation der Ergebnisse soll es nun um die Umsetzung der Anregungen und Vorschläge gehen. Die Umsetzung soll von einem unabhängigen Gremium überwacht werden. Dessen Zusammenstellung bietet die nächste Möglichkeit für die Bistumsleitung, Fehler zu machen. Lisa Scharnagl:
"Da sollten wir 70 ProjektteilnehmerInnen wählen und haben die Wahlergebnisse überhaupt nicht bekommen. Wir wissen überhaupt noch nicht, wie das Besetzungsverfahren aussieht. Es wurden auch schon Gespräche geführt mit einzelnen Personen, das habe ich mitbekommen, aber auch zufällig, und das wurde auch nicht offen kommuniziert. Intransparenz ist sehr typisch. Also dass Dinge hinter verschlossenen Türen besprochen werden und nicht offen kommuniziert werden."
Bistumssprecher Schnelle hält solche Kritik für unbegründet:
"Das ist sehr auf Augenhöhe, wie dort miteinander gearbeitet wird, und keine Hierarchien aufgebaut werden sollen. Sondern wir haben ein wichtiges Thema zu bearbeiten und wir haben Missbrauch zu verhindern, und da geht es nicht um Klassenkämpfe oder um Kompetenzgehabe."
Es wird sich sehr bald zeigen, ob es dem Bistum Limburg gelingt, Betroffene vor allem aus dem eigenen Bistum - auch kritische Betroffene -, angemessen zu berücksichtigen bei der Umsetzung der Vorschläge zur Aufarbeitung der Vergangenheit und zur Vorbeugung gegen sexualisierte Gewalt in der Zukunft.