Das am 20.1.2022 vorgestellte Münchner Missbrauchsgutachten belastet den früheren Papst Benedikt XVI. (Joseph Ratzinger) schwer. Die Anwälte der Kanzlei Westpfahl Spilker Wastl (WSW) werfen ihm Fehlverhalten in vier Fällen vor. Alle sollen während seiner Amtszeit als Erzbischof von München und Freising vorgefallen sein. Außerdem äußern die Gutachter deutliche Zweifel an Ratzingers Behauptungen zu seiner Unkenntnis. In allen Fällen habe Benedikt ein Fehlverhalten strikt zurückgewiesen, hieß es.
Fehlverhalten noch lebender kirchlicher Verantwortungsträger
In 42 Fällen geht das Gutachten von einem Fehlverhalten noch lebender kirchlicher Verantwortungsträger aus - darunter fällt auch der amtierende Erzbischof von München und Freising, Reinhard Kardinal Marx. Die Gutachter haben bei ihrer Prüfung 235 mutmaßliche Täter aus den Jahren 1945 bis 2019 ermittelt. Davon seien 173 Priester gewesen, sagte Rechtsanwalt Martin Pusch bei der Vorstellung des Gutachtens. Die Zahl der Geschädigten liege bei 497. Davon seien 247 männliche Betroffene gewesen, 182 weiblich. Bei 68 Personen sei das Geschlecht nicht festzustellen gewesen. Dies bestätige, dass überwiegend Jungen betroffen gewesen seien.
Reaktion von Kardinal Marx - kein Amtsverzicht
Erzbischof Kardinal Marx räumte im Umgang mit Missbrauchsopfern Versagen ein. Die größte Schuld bestehe darin, die Betroffenen übersehen zu haben, sagte Marx bei einer Pressekonferenz zu dem Gutachten am Donnerstag (27.01.2022). Das sei unverzeihlich. Es habe kein wirkliches Interesse an ihrem Leiden gegeben und das habe nach seiner Auffassung auch systemische Gründe. Als amtierender Erzbischof trage er zugleich die moralische Verantwortung, sagte Marx. "Deshalb bitte ich als Erstes noch einmal persönlich und auch im Namen des Erzbistums bei Ihnen als Betroffene um Entschuldigung für das, was Sie erlitten haben im Raum der Kirche." Marx will vorerst im Amt bleiben.
Deutschlandfunk-Religionsexpertin Christiane Florin sagte, Marx habe formal alles richtig gemacht. Er habe das Wort "Betroffene" oft genannt. Dennoch bleibe personell alles beim Alten. Das sei die Bilanz der Pressekonferenz, auch wenn Marx den Rücktritt des Münchner Offizials Lorenz Wolf angekündigt habe. Marx habe seinen eigenen Verbleib im Amt mit dem Reformversprechen des Synodalen Wegs verbunden. Daran würden sich dessen Teilnehmende nun "sicher klammern". Kirchenintern würden jedoch "nicht mehr so viele kritische Fragen kommen", so Florin.
Dlf-Redakteurin Christiane Florin zu Kardinal Marx' Äußerungen in der Pressekonferenz (27.01.22)
Was wurde im Münchner Gutachten untersucht?
Das Gutachten trägt den Titel: "Sexueller Missbrauch Minderjähriger und erwachsener Schutzbefohlener durch Kleriker sowie hauptamtliche Bedienstete im Bereich der Erzdiözese München und Freising von 1945 - 2019". Erfasst wird – hauptsächlich auf der Basis von Akten des Erzbistums – wie oft Missbrauch in den vergangenen 75 Jahren in Einrichtungen des Erzbistums vorkommen ist.
Die Gutachter sollten untersuchen, wie die Verantwortlichen im Erzbistum reagiert haben, wenn sie von Missbrauchsbeschuldigungen erfahren haben und ob sie nach weltlichem und kirchlichen Recht korrekt gehandelt haben.
Wer hat das Gutachten erstellt?
Der Gutachterauftrag wurde im Februar 2020 vom Erzbistum München und Freising an die Münchner Rechtsanwaltskanzlei Westpfahl Spilker Wastl WSW vergeben. Das ist jene Kanzlei, die auch für das Erzbistum Köln und für das Bistum Aachen ein Gutachten erstellt hat. Das Erzbistum Köln veröffentlichte das WSW-Gutachten nicht und vergab den Auftrag neu an den Strafrechtler Björn Gercke, angeblich habe die Arbeit von WSW „gravierende methodische Mängel“.
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Das Gutachten für das Bistum Aachen wurde im November 2020 vorgestellt. WSW hat schon vor elf Jahren ein Missbrauchsgutachten für das Erzbistum München erstellt. Als 2010 sexualisierte Gewalt in der katholischen Kirche zum großen Medienthema geworden war, beauftragte Erzbischof Reinhard Marx WSW mit einer Aktenananalyse. Der Text der gesamten Untersuchung blieb unter Verschluss, öffentlich zugänglich ist eine Zusammenfassung: Demnach sind zwischen 1945 und 2009 159 Priester „auffällig geworden“. Festgestellt wurden „Aktenvernichtungen in erheblichem Umfang“.
Das Gutachten zu München von WSW unterscheidet sich zum Gercke-Gutachten zu Köln darin, dass es nicht nur Pflichtverletzungen zählt. In dem Gutachten ist auch beschrieben, wie systematisch Macht missbraucht wurde, um die Täter zu decken statt die Opfer zu schützen.
Wessen Verhalten wurde untersucht?
Was das neue Münchner Gutachten besonders macht, sind die hochrangigen Protagonisten. Das Amt des Erzbischofs von München und Freising ist üblicherweise mit der Kardinalswürde verbunden. Erzbischof von München und Freising war von 1977 bis 1982 Joseph Ratzinger, der 2005 zum Papst gewählt wurde.
Amtierender Erzbischof ist seit 2008 Reinhard Marx, der auch bis 2020 Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz war. Marx hatte im Juni 2021 Papst Franziskus seine Rücktritt angeboten, das Gesuch wurde jedoch nicht angenommen. Marx‘ Vorgänger ist Friedrich Wetter, der von 1982 bis 2008 amtierte und 93 Jahre alt ist.
Das Gutachten wirft Wetter Fehlverhalten in 21 Fällen vor. Deutliche Kritik üben die Gutachter auch am amtierenden Erzbischof, Kardinal Marx. Er habe sich nicht ausreichend um die Behandlung der Fälle sexuellen Missbrauchs gekümmert. Wetter und auch Ratzinger wirft das Gutachten zudem die "Nicht-Wahrnehmung der Opfer" vor. Selbst verurteilte Täter hätten die beiden sorglos versetzt, ohne dabei über zukünftige Opfer nachzudenken.
Konkret fehlerhaftes Verhalten attestieren die Gutachter Marx in zwei Fällen. Dabei handele es sich vor allem um die Frage, ob eine Meldung an die Glaubenskongregation erfolgt sei.
Die Kanzlei WSW stellte auch klar, dass weitere Gutachten für andere Bistümer wohl ganz ähnlich ausfallen würden, nur dass da die Verantworlichen weniger prominent seien. Das Gutachten für München – wie schon die Gutachten für Köln oder Aachen – zeigten keine Einzelfälle auf.
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Was wird Joseph Ratzinger vorgeworfen?
Dem emeritierten Papst Benedikt XVI., früher Kardinal Joseph Ratzinger, wird laut Gutachten in vier Fällen Fehlverhalten im Umgang mit sexuellem Missbrauch während seiner Zeit als Erzbischof des Bistums München und Freising vorgeworfen. Das sagte der Jurist Martin Pusch am 20.1.2022 bei der Vorstellung des Gutachtens in München. Zwei Fälle betreffen von staatlichen Gerichten verurteilte Missbrauchstäter, die in der Amtszeit Ratzingers als Erzbischof von München als Priester weiter in der Seelsorge tätig sein durften.
In einem Fall soll ein Priester aus dem Ausland in den Dienst des Erzbistums übernommen worden sein, obwohl er im Ausland als Missbrauchstäter verurteilt worden war. Aus den Akten gehe hervor, dass Ratzinger von der Vorgeschichte des Priesters gewusst habe, sagte Pusch. Benedikt XVI. bestreite den Vorwurf des Fehlverhaltens in allen Fällen. Er habe ausführlich schriftlich zu den ihm angelasteten Vorwürfen Stellung genommen, sagte Pusch.
Laut Gutachten soll Ratzinger zudem 1980 als Erzbischof von München und Freising bei einer Ordinariatssitzung anwesend gewesen sein, auf der entschieden wurde, dass der Priester Peter H. in das Erzbistum München übernommen und wieder in der Seelsorge eingesetzt werden sollte – obwohl Peter H. in der Vergangenheit Kinder missbraucht hatte.
Benedikt korrigiert seine Äußerung
Benedikt XVI. hat am 24. Januar seine Stellungnahme dazu in einem entscheidenden Punkt revidiert. Er habe an der Ordinariatssitzung im Erzbistum München und Freising am 15. Januar 1980 teilgenommen, heißt es in einer Erklärung von Benedikts Privatsekretär Georg Gänswein. Zunächst hatte Benedikt versichert, er habe an der Sitzung nicht teilgenommen. Der Gutachter Ulrich Wastl präsentierte jedoch eine Kopie des Sitzungsprotokolls, nach der Ratzinger an der Sitzung teilgenommen hat. Demnach berichtete er in der Sitzung unter anderem von Gesprächen mit Papst Johannes Paul II.
Die falsche Aussage Benedikts XVI. sei nicht aus böser Absicht geschehen, sondern sei Folge eines "Versehens bei der redaktionellen Bearbeitung seiner Stellungnahme", so der Privatsekretär. Objektiv richtig bleibe aber die Aussage, dass in dieser Sitzung über einen seelsorgerlichen Einsatz des betreffenden Priesters nicht entschieden worden sei, betonte der Privatsekretär des früheren Papstes. Vielmehr sei lediglich der Bitte entsprochen worden, diesem während seiner therapeutischen Behandlung in München Unterkunft zu ermöglichen.
Über die Glaubwürdigkeit dieses Eingeständnisses könne man streiten, erklärte dazu Deutschlandfunk-Religionsexpertin Christiane Florin. Es sei nicht sehr glaubwürdig, dass an einer so entscheidenden Stelle ein so folgenreiches Versehen geschehen sei.
DLF-Redakteurin Christiane Florin zu Ratzingers Stellungnahme: Nur eine halbherzige Entschuldigung (09.02.22)
Auch im ausführlichen Schreiben von Benedikt XVI. am 08.02.2022 fehlten konkrete Eingeständnisse, so Florin. Zwar entschuldige sich Ratzinger, er spreche aber nicht davon, was er Gutes unterlassen und Böses getan habe, sagte Christiane Florin. Ratzinger weise die direkte Schuld von sich.
"Die Haltung 'Ich war es nicht, ich werde zu Unrecht kritisiert', die kennt man von ihm", so Florin. Ratzinger beharre mithilfe seiner Rechtsbeistände noch immer darauf, dass er keinerlei Kenntnisse von der Vorgeschichte der Priester hatte und dass man ihm diese Kenntnisse erst mal beweisen müsse.
Wie fallen die Reaktionen auf das Gutachten aus?
In einer Pressekonferenz am 27. Januar 2022 bezeichnete der Erzbischof von München und Freising, Reinhard Kardinal Marx, das Münchner Missbrauchsgutachten als "tiefen Einschnitt" für die katholische Kirche. Nach der Lektüre des Gutachtens sei er „erschüttert und erschrocken“ - vor allem über das Leid der Opfer, über Täter und das Verhalten von Verantwortlichen, sagte der Kardinal. Er bat die Opfer „persönlich und auch im Namen des Erzbistums“ erneut um Entschuldigung, will aber zunächst im Amt bleiben.
Marx kündigte eine personelle Konsequenz an: Prälat Lorenz Wolf, der einer der mächtigsten Männer im Erzbistum ist, wolle vorerst „alle seine Ämter und Aufgaben ruhen lassen“. Der Prälat wurde im Gutachten schwer belastet, er soll in seinen Ämtern und Funktionen wesentlich dazu beigetragen haben, schwere Missbrauchsdelikte zu vertuschen und zu verharmlosen. Wolf ist als Offizial höchster Kirchenrichter im Erzbistum. Weitere Rücktritte gab es vorerst nicht.
Über sich selbst sagte der Erzbischof, er sei bereit, Verantwortung zu übernehmen. Ein Rücktritt zum jetzigen Zeitpunkt habe etwas von „sich aus dem Staub machen“. Marx sagte aber auch: „Ich klebe nicht an meinem Amt.“ Sein Angebot des Amtsverzichts vom Mai 2021 an Papst Franziskus - das dieser abgelehnt hatte - sei ernst gemeint gewesen.
Das Gutachten konfrontiere zahlreiche lebende kirchliche Würdenträger, bis heute fehle eine aufrichtige Aussage zu persönlicher Schuld, es würde relativiert und abgestritten, sagte Dlf-Religionsexpertin Christiane Florin: "Es ist ein Verantwortungs-Verdunstungsbetrieb, in dem das, was man anderen predigt – Moral – völlig ausgeblendet wird. Da wurden – das kann man gar nicht anders sagen – mafiöse Strukturen beschrieben."
Christiane Florin zum Missbrauchs-Gutachten im Erzbistum München und Freising (20.1.2022)
Der Vatikan kündigte an, sich das Münchner Gutachten genau anschauen zu wollen. Man werde es einsehen und könne dann angemessen die Details prüfen, erklärte der Sprecher des Heiligen Stuhls, Matteo Bruni.
Der Kirchenrechtler Thomas Schüller urteilt, dieses Gutachten habe eine besondere Qualität: „Jetzt sind drei Kardinäle involviert und der ehemalige Papst, das ist quasi der weltpolitische, weltkirchliche Rahmen.“
Kirchenrechtler Schüller: „Ratzingers Bild zerbricht“ (20.1.2022)
Die Reformbewegung "Wir sind Kirche" forderte, "dass alle deutschen Bistümer unverzüglich und möglichst nach gleichem Standard Missbrauchsgutachten vorlegen, die Täter und Vertuschungsstrukturen offenlegen".
Dagegen geht das bloße Vorlegen von Gutachten dem Vorsitzenden des Diözesanrats der Katholiken im Erzbistum Köln, Tim Kurzbach, nicht weit genug. Gutachten würden "in die Hände derer gelegt, die mit für das System verantwortlich sind", sagte Kurzbach im Dlf. Man könne aber nicht einer "Täterorganisation" die Aufarbeitung überlassen. Kurzbach fordert deshalb staatliche Aufklärung der Missbrauchsfälle und ein entsprechendes Engagement des Parlaments. Nur eine unabhängige Staatsanwaltschaft könne die Fakten zusammentragen, betonte Kurzbach, der auch Oberbürgermeister von Solingen ist. Im Diözesanrat sind Laien und Kleriker vertreten.
Vorsitzender des Diözesanrats im Erzbistum Köln: Es braucht staatliche Aufklärung
Mit Blick auf die Rolle von Benedikt XVI. im Erzbistum München und Freising sprach der Sprecher der Betroffeneninitiative Eckiger Tisch, Matthias Katsch, von einem "Lügengebäude", das nun zum Einsturz gebracht worden sei.
Katsch: Benedikt wurde "Komplize eines Serientäters" (20.1.2022)
Quellen: Christiane Florin, Raoul Löbbert (ZEIT), og, dpa, Reuters, epd, KNA, Onlineredaktion