Cervantes und Shakespeare eilen mit ihrem Werk der Zeit voraus, kommen mit einer Zwischenlandung in der deutschen Romantik in unseren Tagen an. Die geschwisterliche Nähe von Tragik und Komik im Schaffen der beiden Autoren, die Weltbühne als Trickmeisterin unserer Illusion, das sind Aspekte, die Schlegel und Tieck, Goethe wie Heine zu schätzen wussten. Heinrich Heine schreibt in seinem Vorwort zur Don-Quijote Übersetzung von Ludwig Braunfels 1837:
"Nicht bloß die Alten, sondern auch manche Neuere haben Dichtungen geliefert, worin die Flamme der Poesie ebenso prachtvoll lodert wie in den Meisterwerken von Shakespeare, Cervantes und Goethe. Jedoch diese Namen halten zusammen wie durch ein geheimes Band. Es strahlt ein verwandter Geist aus ihren Schöpfungen; es weht darin eine ewige Milde, wie der Atem Gottes; es blüht darin die Bescheidenheit der Natur."
Mit genau so viel Verve lässt sich allerdings über Unterschiede zwischen William Shakespeare und Miguel de Cervantes sprechen. Hier ist der Mensch ohne Biografie, da der Mann mit der rasenden Vita. Hier der erfolgreiche Dramatiker, dort der Schöpfer des modernen Romans. Hier der Geschäftsmann und Erfolgsmensch, dort der Vagabund, dem das Geld ständig entwischt. Der Kosmos des einen stieg auf, als der des anderen fiel. Für den Begriff des Desengaño, das ist jene tief empfundene Entfremdung zwischen Mensch und Welt, die den spanischen Barock grundiert, haben die Elisabethaner keine Verwendung. Die Zeiten waren an der Themse nicht weniger gefährlich, doch man tänzelte mit Eleganz und Wit durch die pestversuchte Welt. Symbolisch dafür steht der Sieg der wendigen Seeflotte unter Sir Francis Drake über die prächtigen Schlachtschiffe der Armada 1588.
Der schon über 40-jährige Cervantes war zu dieser Zeit als Steuereintreiber und Proviantbeschaffer für König Philipp II von Spanien tätig.
"Er wurde freiwillig Provianteintreiber, ein befristetes und bescheiden besoldetes Amt mit geringem Prestige, das ihm ständiges Reisen abverlangte. Es war eine Arbeit, die Hass nach sich zog, weil Menschen zu Abgaben gezwungen wurden. Konnte es für einen künstlerisch aktiven Menschen einen größeren Bruch mit seinen Idealen geben?", fragt der Romanist Uwe Neumahr in seiner neuen Biografie "Miguel der Cervantes. Ein wildes Leben". Cervantes erlebte zu dieser Zeit sein eigenes persönliches Desengaño. Die größten Abenteuer seines Lebens lagen schon hinter ihm. Die Seeschlacht von Lepanto gegen die Türken, bei der seine linke Hand verstümmelt wurde; eine fünfjährige Gefangenschaft als Sklave in Algier. Cervantes war Vater einer unehelichen Tochter und mit wenig Liebe soeben verheiratet gewesen. Allerdings dürfte genau diese Gemütsverfassung ihm die Inspiration für seinen großen Weltroman "Don Quijote" gegeben haben.
Shakespeare entwirft ganze Welt im Kopf
Für den rund 17 Jahre jüngeren William Shakespeare fällt der Sieg über die Armada in jene Lebensspanne, die in der Literatur als The Lost Years, die verlorenen Jahre bekannt ist. Es sind die Jahre zwischen 1584 und 1592, in denen man noch weniger über den jungen Mann aus Stratford upon Avon weiß als sonst. Dann taucht er in London auf und startet durch. Er verfasst und inszeniert, und wenn sein Theater wegen der Pest schließen muss, dann schreibt er Verse. Shakespeare hat sich ganz im Gegensatz zu Cervantes kaum vom Fleck bewegt. Er hat eine ganze Welt im Kopf entworfen. Weshalb es eine ungleich undankbarere Aufgabe ist, seine Biografie zu schreiben. Es gibt nichts Neues, verrät auch der Anglist Hans-Dieter Gelfert. Gelfert plädiert in seiner Biografie "William Shakespeare in seiner Zeit" für ein absichtsvolles Verschwinden des Autors hinter seinem grandiosen Werk.
"So scheint denn die Ambivalenz seines Werkes, die dessen Tiefe und Reichtum ausmacht, zugleich die plausibelste Erklärung dafür zu sein, dass er als Mensch und Bürger so wenig prominent hervortrat."
Aus dem Wenigen, was über Shakespeare sicher bekannt ist, er war der Sohn eines Handschuhmachers und verheiratet mit dem Nachbarmädchen Anne Hathaway, lässt sich kaum Funken schlagen. Trotzdem oder vielleicht gerade deshalb gibt es das Phänomen der Shakespeare Lawine. Der Theatermann Frank Günther, der seit 40 Jahren Shakespeares Gesamtwerk ins Deutsche übersetzt, nennt in seinem sehr vergnüglichen Rezeptionsschmöker "Unser Shakespeare" eine ehrfurchtgebietende Zahl: Nicht weniger als ein Buch und 15 wissenschaftliche Studien erscheinen pro Tag weltweit zu Shakespeare, macht rund 6.000 Publikationen pro Jahr. Flankiert wird dieser Taumel von dem Phänomen, dass es immer wieder ganze Epochen gibt, die sich in eine seiner Figuren verlieben, so wie der deutsche Vormärz in den grüblerischen Hamlet. Frank Günther schreibt:
"So sind wir eben, erkannte man, wie Hamlet, so zwiegespalten handlungsarm und träumereich, zum politischen Scheitern verdammt. Goethes Hamlet wurde bestätigendes Spiegelbild einer verzagenden deutschen Generation, deren politische Träume Träume blieben."
Shakespeares wie Cervantes’ Figuren führen ein Eigenleben. Fährt man nach Spanien, begegnet man dem Abbild von Don Quijote und seinem Knappen Sancho Panza auf Schritt und Tritt. Das verhält sich bei Shakespeare anders. Kein Hamlet, kein Othello nirgends. Dafür der Dichter als Büste mit Halskrause überall, auf Programmheften, Tortenuntersetzern und an Schlüsselanhängern. Die Welt hat Shakespeare, den unbekannten Dichter, vor seine Figuren geschoben. Der bekannte Autor Miguel de Cervantes bleibt hinter seinem Don Quijote und seinem Sancho Panza zurück. Und die sind wahrhaft unsterblich. Man kann sie abbilden, so wie Picasso es 1955 getan hat, doch man kann sie schwerlich neu erschaffen. Die Don Quijote Übersetzerin Susanne Lange berichtet augenzwinkernd vom Desaster diverser Verfilmungen:
"Sie scheitern daran, dass sie die Welt nicht mit den Augen Don Quijotes zeigen können, wie es Cervantes auf dem Papier gelingt. Ja fast scheint ein Fluch auf diesen Filmprojekten zu liegen, denn Orson Welles versuchte seit 1955 jahrzehntelang vergeblich, einen Don-Quijote-Film zusammenzustückeln und musste nach dem Tod eines Sancho-Darstellers das Projekt aufgeben. Terry Gillian erging es 2002 nicht anders. Ein Unwetter riss das Filmset hinweg, die Schauspieler kamen und gingen, und am Ende verließen ihn auch die Produzenten. Das Ergebnis war ein Dokumentarfilm über sein Scheitern."
Bei Shakespeare ist das anders. An jedem Tag erstehen seine Figuren irgendwo auf der Welt in einem Aspekt ihres Seins wieder auf. Sie sind, im Gegensatz zu dem Ritter und seinem Knappen polymorph. Den einen Othello gibt es nicht. Wenig neben seiner Eifersucht steht fest, in jüngster Zeit noch nicht einmal mehr seine Hautfarbe. Die Welt folgt der Royal Shakespeare Company in dem Prinzip des colour-blind castings. Alle spielen alles, unabhängig von ihrer Hautfarbe. Der Begriff Mohr bezeichnet fortan ein Stigma der Seele. Ein Stück von Shakespeare ist das, was wir in ihm sehen. Das hat mit der Polyphonie und der Elastizität seines Werkes zu tun, mit dem Deutungsraum und dem lyrischen Nachhall, mit den vielen Molekülen, die ins Schwingen geraten, wenn man sich als Interpret diesem Autor nähert.
In diesen Tagen erreicht uns das Hogarth Projekt aus Großbritannien. Das Verlagshaus Hogarth Press hat bedeutende Autoren der angelsächsischen Welt gebeten, zum Jubiläumsjahr eine Interpretation zu einem Stück ihrer Wahl zu schreiben. Das Ergebnis beweist, wie sehr Shakespeare auf persönliche Anliegen antwortet. Die Lieske Jeanette Winterson macht mit "The Gap of Time" den Auftakt, ihre Version des "Wintermärchens" gerät der bekennenden Feministin zur Gender Study.Howard Jacobson, der sich schon mit dem Booker Titel "Die Finkler Frage" als Experte für jüdisches Leben empfohlen hat, hat sich für die Figur des Shylock entschieden. Die Kanadierin Margaret Atwood richtet ihr Augenmerk auf den Illusionskünstler Prospero. An ihm interessiert sie die Tatsache, dass Prospero Magier, Autor und Regisseur in einem ist – er steht für den Prozess der Kreativität schlechthin.
"Ich habe ein Buch geschrieben, das heißt 'Negotiating with the dead'. Ich untersuche darin den Prozess des Schreibens. Nicht das Schreiben als Handwerk, sondern das, was mit Autoren geschieht, wenn sie schreiben, wie sehen sie sich selbst? Und Prospero, er ist eine typische Figur, er ist Magier und er ist Autor. Schriftsteller haben sich schon immer für ihn interessiert. Er ist der Regisseur des Stücks im Stück, und am Ende verlässt er das Stück und gibt sich Autor zu erkennen."
Don Quijote als erster Roman der Neuzeit
Epochengeschichtlich waren beide Autoren früh vollendet. Der "Don Quijote", zwischen 1605 und 1615 in zwei Teilen erschienen, gilt zu Recht als der erste Roman der Neuzeit. Was immer man in der Trickkiste moderner Erzählkunst sucht, hier wird man fündig. Cervantes kennt die Genreparodie, den fiktiven Autor, er begegnet einem echten Plagiator und antwortet mit einem Buch, in dem die Figuren ihre eigene Geschichte erfahren. All das ist tadellos verzwickt und ohne jegliche Attitüde geschrieben. Was den großen spanischen Literaturwissenschaftler Miguel de Unamuno zu der Mutmaßung veranlasste, es habe sich der Geist Spaniens in diesem Werk inkarniert. Das ist allerdings Nonsens - und von den Verschwörungstheorien um die Autorenschaft eines William Shakespeare nur einen Steinwurf entfernt.
Bleibt zu sagen, dass man im Jubiläumsjahr nicht nur auf die vorzügliche Übersetzung von Susanne Lange zurückgreifen kann. Neu herausgegeben wurden auch Cervantes Novellen, die 1613 zwischen den beiden Bänden des "Don Quijote" entstanden. Auch dies eine Form, die Cervantes neu beatmet hat. Schließlich erreicht uns sein letzter Roman, "Die Irrfahrten von Persiles und Sigismunda", nach langer Übersetzerpause in der neuen Fassung von Petra Strien. Darin verabschiedet sich ein wohl gelaunter Dichter von dieser Welt. Vielleicht darf man diese Sätze auch auf Shakespeare übertragen. "Lebt wohl, ihr Späße, lebt wohl, ihr geistreichen Witze, lebt wohl, ihr heiteren Freunde. Ich werde sterben in dem Wunsch, euch bald schon glücklich und zufrieden wiederzusehen in einem anderen Leben."
Literaturliste:
Miguel de Cervantes Saavedra: Sämtliche Erzählungen. Aus dem Spanischen von Gerda von Uslar und Rudolf Grossmann. Mit einem Nachwort von Fritz Rudolf Fries. Aufbau Verlag Berlin, 1959. Anaconda Verlag Köln, 2008 / 2016. 738 Seiten geb. 7,96 Euro.
Miguel de Cervantes: Die Irrfahrten von Persiles und Sigismunda. Aus dem Spanischen übersetzt von Petra Strien, von ihr mit Anmerkungen und einem Nachwort versehen. Bereichert mit einem Beitrag von Gerhard Poppenberg zu Miguel de Cervantes fast unbekanntem letzten Roman. Die Andere Bibliothek, 2016. 500 Seiten geb. 42,00 Euro.
Miguel de Cervantes: Don Quijote von der Mancha. Aus dem Spanischen übersetzt von Susanne Lange. Hanser Verlag, München, 2008. 1488 Seiten geb. 62,00 Euro
Uwe Neumahr: Miguel de Cervantes. Ein wildes Leben. Biographie. C.H. Beck Verlag, München, 2016. 394 Seiten 26,95 Euro.
Bruno Frank: Cervantes. Aufbau Verlag, 1980 (ein biografischer Roman, sehr empfehlenswert, antiquarisch und Kindle Edition)
Frank Günther: Unser Shakespeare. Einblicke in Shakespeares fremdverwandte Zeiten. dtv premium, München 2014. 340 Seiten broschur 14,90 Euro.
Howard Jacobson: Shylock. Aus dem Englischen von Werner Löcher-Lawrence.
Knaus Verlag, München, 2016. 288 Seiten geb. 19,99
Jeanette Winterson: Der weite Raum der Zeit. Aus dem Englischen übersetzt von Sabine Schwenk. Knaus Verlag, München, 2016. 288 Seiten geb. 19,99
Margaret Atwood: Hag Seed. Hogarth Press, London (erscheint Oktober 2016).