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Shakespeares "King Lear" in Starbesetzung

Eines der großen Königsdramen von William Shakespeare, dargestellt von einem König der Kunst und der Publikumsgunst in Frankreich. Shakespeares König Lear mit dem achtzigjährigen Michel Piccoli am Théatre de l´Odéon. Man war gespannt, wie der charmante Mann den frauenkritischen ohnmächtigen Alten Lear spielt.

Von Ute Nyssen | 20.01.2006
    Shakespeares Totenmaske
    Shakespeares Totenmaske (AP)
    Eine hohe Lagerhalle. Links Garagentüren hinter denen Lear und seine Begleiter im Sturm Schutz finden. Einige alte Ledersessel, ein Klavier und ein goldenes Grammophon im Stile von His Masters Voice suggerieren ein Kontor, aber auch Bar-Atmosphäre. Den Zuschauern gegenüber riesige Glasfenster im Obergeschoß, von außen angestrahlt, in Spiegelschrift lesbar das Firmenlogo: LEAR Enterprise & CO. Der Regisseur André Engel und sein Dramaturg Dominique Muller hatten den Gedanken, ihre Version von Shakespeares Drama "Citizen Lear" zu nennen. Mit diesem Titel und der Raumgestaltung sind wir bei der dramaturgischen Bemühung um Aktualisierung, der Verlagerung des Geschehens in die 20er Jahre; ein Modell, das schon im deutschen Regietheater der Endsechziger und siebziger Jahre grassierte und meistens wenig bringt. In dieser sehr schön anzusehenden Halle ein eindrucksvolles Bild: der Seniorchef Lear, in einem einfachen Sessel sitzend, teilt je zur Hälfte sein Unternehmen seinen beiden älteren Töchtern zu, nachdem er seine jüngste Tochter Cordelia enterbt und verstoßen hat. Es folgt die Geschichte der Vertreibung Lears durch die Töchter Goneril und Regan und spätestens hier die Irritation über das dramaturgische Konzept, über die innere Logik der Handlung und deren dürftige Motivation. Wieso nämlich besteht ein scheidender bürgerlicher Unternehmer der 20er Jahre auf einem Gefolge von hundert Bewaffneten? Was bindet einen Mann wie Kent, bei Shakespeare ein treuer Gefolgsmann, hier vielleicht ein Geschäftsfreund, an Lear bis in den Tod? Ist nicht bürgerliche Freundschaft etwas anderes als Königstreue? In welchem Hafenviertel, wenn es schon zeitgenössisch realistisch zugehen soll, liegt diese Fabrikhalle? So fernab, dass man das Geknalle der Gangster im Schlapphut, zu denen die Ritter und Soldaten Shakespeares mutiert sind, nicht hört und nicht sieht? Hat ein Bastard wie Gloucesters Sohn Edmund im Europa dieser Jahre unter seiner unehelichen Geburt noch so heftig zu leiden, dass dieser Makel zur Antriebskraft für seine mörderischen Intrigen wird? Selbst als ein Kinoabklatsch bleibt das alles schrecklich vage. Der legendäre Schauspieler Michel Piccoli spielt Lear. Er spielt einen modernen Menschen, einen seriösen Geschäftsmann eher bäuerlicher Herkunft, ohne die Raserei, das Pathos und die Poesie des Königs im Original. Fassungslos muss er die Grausamkeiten seiner bösen Töchter erleben. Er nimmt sie jedoch nahezu diszipliniert zur Kenntnis, eigensinnig zwar, aber ziemlich ausgeglichen. Seine anrührende Zärtlichkeit, seine Fähigkeit zur Nuancierung eines existentiellen Schmerzes entwickelt dieser große Schauspieler erst in der Schlußszene mit der toten Cordelia und im Hinsinken in den Tod. Vor diesem Ende jedoch gönnt die Regie ihm wenig Entfaltungsmöglichkeiten. Konsequent ihrer Dramaturgie folgend, nimmt sie er Figur das Drama des echten Machtverlusts, die ursprüngliche Fallhöhe vom König zum närrischen und erbärmlichen alten Mann; nimmt sie ihm seine wütende Ausfälligkeit gegen das weibliche Geschlecht, gegen die "Geilheit" - eine berühmt berüchtigte Polemik Lears bei Shakespeare. Das ganze Dilemma dieser ausgedünnten Fassung, die mit Realismus nicht viel zu tun hat, tritt in den Sturm - Szenen zutage: sie spielen in derselben schönen Halle und hier schneit es dann pausenlos von oben herein, so dass der veristisch gelenkte Zuschauer sich fragt, ob denn das Dach beim reichen Unternehmer nicht repariert werden müßte. Schmerzlicher aber wird das Dilemma noch durch eine tiefergreifende Ausdünnung, die des gesamten metaphysischen Überbaus nämlich, aus Aberglauben und Schicksalsgläubigkeit, aus Hybris und Moral, kurzum des Reichtums, der die individuellen Verhaltensweisen prägt - und bühnenwirksam macht. Ob die langweilige Eindimensionalität der Figuren, die dabei herauskommt, wirklich ein Wesensmerkmal des modernen Menschen ist? Oder nur das des Regiekonzepts?