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Shanghai
Heimat auf Zeit

Shanghai nahm vor 80 Jahren als eine der letzten Städte der Welt jüdische Geflüchtete auf. Und das, obwohl die Stadt damals von Japan besetzt war, das wiederum mit Deutschland verbündet war. Heute erinnert ein Flüchtlingsmuseum an die Geschichte.

Von Markus Pfalzgraf |
Alter Häuserkomplex im ehemaligen juedischen Ghetto in Hongkou in der Zhoushan Lu, Shanghai
Nur noch wenige Gebäude erinnern an das ehemalige jüdische Ghetto von Shanghai. (picture alliance / Christoph Mohr)
Das alte jüdische Viertel von Shanghai ist heute von Hochhäusern umringt. In den Straßen deutet fast nichts mehr darauf hin, dass hier Ende der 1930er-Jahre Tausende jüdische Menschen lebten. Shanghai, schon länger Heimat orientalischer Juden, damals von Japan besetzt, nahm als eine der letzten Städte auf der Welt jüdische Geflüchtete auf - teilweise mit rettenden Visa des chinesischen Generalkonsuls in Wien, aber auch ohne Papiere. Im Jüdischen Flüchtlingsmuseum Shanghai wird die Geschichte der Juden in Shanghai erzählt.
13.000 Namen auf einer Kupfertafel
Die meisten wurden im Ghetto im Stadtteil Hongkou angesiedelt. Eines der wenigen, heute noch sichtbaren Zeichen ist eine alte Synagoge, die seit Jahrzehnten hier steht. Mit Bimah in der Mitte, dem Podest, auf dem früher die Thora gelesen wurde und hinter dem auch hier eine Thora-Rolle aufbewahrt wird. Hier ist heute auch das Museum für jüdische Geflüchtete beherbergt. Auf sechs großen Kupfertafeln stehen mehr als 13.000 ihrer Namen, auch wenn es mindestens 18.000 (*) waren. Eine Führerin vermutet, warum:
"Die Namen wurden damals von drei jüdischen Mädchen aufgeschrieben. Sie machten absichtlich Fehler, damit die japanischen Soldaten sie nicht für schlimme Dinge wie Hinrichtungen nutzen konnten."
Möglicherweise waren es auch zu viele Namen, die die Mädchen in kurzer Zeit aufschreiben mussten.
Einreisedokument nach Shanghai: Während des Zweiten Weltkriegs lebten bis zu 20.000 jüdische Flüchtlinge im Hongkou District des japanisch besetzten Shanghai.
Einreisedokument nach Shanghai: Während des Zweiten Weltkriegs lebten bis zu 20.000 jüdische Flüchtlinge im Hongkou District des japanisch besetzten Shanghai. (picture alliance/CPA Media)
Doch obwohl Japan mit Nazi-Deutschland verbündet war, passierte den Juden in Shanghai nichts. Unter den Tausenden Namen an der Wand am Museum finden sich auch die zweier Männer, die später in den USA als Popart-Künstler Peter Max und Minister Michael Blumenthal bekannt wurden und der von Sonja Mühlberger unter ihrem Geburtsnamen Krips.
1939 wurde sie in Shanghai geboren. Ihre Eltern hatten aus Frankfurt am Main über Italien vor der Verfolgung der Nationalsozialisten fliehen können, kamen nach einer mehrwöchigen Schiffsfahrt in Shanghai an und lebten mehrere Jahre im Ghetto in Hongkou, Seite an Seite mit der chinesischen Bevölkerung. Dort war ihr Leben einfach, aber glücklich, sagt Sonja Mühlberger:
"Wir sind in den Kindergarten und in die Schule gegangen. Wir haben auf der Straße spielen können, ohne Autos und ohne Fahrräder. Später hab ich sogar chinesische Rollschuhe bekommen und auf der Straße Rollschuh laufen können. Also für mich war das ein normaler Alltag."
Ein entbehrungsreicher Alltag allerdings, mit wenigen guten geretteten Kleidungsstücken, der Rest selbstgenäht. Immerhin bekamen die Eltern Arbeit. Die Familie ging nach dem Krieg zurück nach Deutschland. Jahrzehnte später kam Sonja Mühlberger, inzwischen Lehrerin, wieder öfter in ihre Geburtsstadt zurück. Um Spuren zu suchen, darüber zu schreiben und zu berichten.
Klein-Wien in Asien
Dafür bekam sie Ende Juni das Bundesverdienstkreuz verliehen, im deutschen Konsulat in Shanghai, sichtlich bewegt, von Generalkonsulin Christine Althauser:
"Das ist ihr großer Verdienst, diese Erinnerung wach zu halten. Zu zeigen, dass es couragierte Menschen gab und für sich selbst Versöhnung zu finden und einen Weg in die Zukunft zu finden. Das halte ich für immens wichtig."
Die Erinnerung wachhalten - auch ganz praktisch: Sonja Mühlberger hat viele Namen aufgeschrieben, die alten Listen aus dem Ghetto für die Erinnerungstafeln korrigiert und ergänzt. Aber diese Arbeit ist noch lange nicht beendet. Sie erzählt: "Inzwischen habe ich auch noch viele andere Namen gefunden. Immer mehr Menschen kommen, die ihre Verwandten suchen oder nach ihren Vorfahren fragen. So konnte ich schon sehr vielen Menschen helfen, die Adressen zu finden."
Auch wenn inzwischen fast alle Straßen andere Namen tragen. Das Viertel war einst als "Klein-Wien" bekannt, Juden öffneten nach und nach Geschäfte, auf alten Fotos sind deutschsprachige Schilder zu sehen. Doch heute sind fast alle Spuren verschwunden. Gegenüber der Synagoge und dem Museum steht nur noch ein Nachbau des "Weißen Rössl" und verströmt Wiener Kaffeehaus-Charme. Ein paar Kilometer weiter Richtung Innenstadt steht das Embankment Building, in den 30er-Jahren erbaut von dem Immobilienmogul Victor Sassoon, der aus einer irakischen Judenfamilie stammte und zahlreichen jüdischen Familien im Shanghaier Ghetto half.
Jüdisches Flüchtlingsmuseum in Shanghai.
Das Flüchtlingsmuseum in Shanghai erzählt die Geschichte der Juden, die während des Zweiten Weltkriegs in der Stadt Zuflucht fanden. (Markus Pfalzgraf)
Hier wohnte auch die US-Schriftstellerin Rachel DeWoskin 2011 mit einem Schreibstipendium. Auch sie besuchte das Museum für jüdische Geflüchtete, wo sie ein Foto nicht mehr losließ. Es zeigt vier Jungen in Trikots mit Tischtennisschlägern. Vor allem die selbstgemachten Trikots mit Emblemen faszinierten sie, erzählt Rachal DeWoskin auf einer Lesereise - mit schlechter Telefonverbindung: "Die Vorstellung: Ihre Eltern sind vor den Nazis aus Europa geflohen und weit weg von Europa gelandet, was für sie wahrscheinlich total fremd war - und dann ermöglichen sie nicht nur die Schule für ihre Kinder, sondern auch einen Tischtennisverein. Für mich sind diese Trikots ein Zeichen für das Durchhaltevermögen, das Geflüchtete oft zeigen. Rachel DeWoskin beschloss, ein Buch zu schreiben, für das sie oft durchs Ghetto lief und mit Zeitzeugen sprach. In ihrem neuen Roman "Someday we will fly" geht es um ein jüdisches Mädchen aus Osteuropa, das mit seiner Familie nach Shanghai flieht auf ähnlichen Wegen wie auch Sonja Mühlbergers Eltern.
Für die meisten Jüdinnen und Juden war Shanghai die Rettung, aber höchstens eine vorübergehende Heimat. Noch einmal die Führerin im Museum:
"Zwischen 1946 und 1951 haben die meisten der mehr als 20.000 Juden Shanghai verlassen. Viele gingen in ihre Heimat zurück oder zogen weiter in die USA. Es gibt nur noch drei Familien in Shanghai, die von den jüdischen Familien abstammen." Umso wichtiger, diese Erinnerungen am Leben zu halten, durch Bilder, Namenstafeln und Zeitzeuginnen.
(*) Anmerkung der Redaktion: An dieser Stelle wurde eine Zahl korrigiert.