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Shaun Tan: "Zikade"
Eine Ode an die Farbe Grau

Der australische Illustrator Shaun Tan zeigt mit seinen Werken immer wieder, welche politische Dimension Bilderbücher haben können. Sein grauer Büromensch "Zikade" hält dem Leser nicht nur den Spiegel vor, sondern ist gleichzeitig eine Hommage an Herman Melvilles Antihelden "Bartleby, der Schreiber".

Von Thomas Linden |
Shaun Tan's "Zikade"
Shaun Tans Zikade ist eine Nachfahrin von Melvilles Bartleby und Kafkas Gregor Samsa (Buchcover Aladin Verlag)
Einen Vornamen hat er nicht. Sein Name ist einfach: Zikade. Dass es sich um einen Er handelt, erkennt man an seinem grauen Anzug, dem eng sitzenden Hemdkragen, der schwarzen Krawatte und Hosen, die offensichtlich zu lang sind. Ein Büromensch. Nein, eine Zikade, denn statt zweien hat er vier Arme. Und an seinem grünen Kopf stehen die Augen rechts und links ab, während wir auf eine breite Stirn schauen. Viel Platz zwischen den Augen, viel Platz, um sich vorzustellen, was in diesem Kopf vor sich gehen mag.
Shaun Tan zeigt uns seinen Protagonisten vor einer grauen Wand, soll er dort hingerichtet werden? Steht auf dem Blatt, das er in Händen hält, sein Todesurteil? Ratlos scheint er uns anzublicken, zu seinen Füßen das Chaos verstreuter Papiere. Unverkennbar, der große australische Illustrator präsentiert uns seine Version von Herman Melvilles Erzählung "Bartleby, der Schreiber", einer "Geschichte aus der Wall-Street", wie es im Untertitel des erstmals 1853 veröffentlichten Textes heißt. Im Vorsatzpapier sieht man sie auch schon, die Wolkenkratzer. Nur bestehen sie hier aus blanken grauen Betonklötzen. In Melvilles Erzählung schaut der Notarschreiber durchs Fenster auf einen Hausschacht. Tan entwirft eine Ode an die Farbe Grau, alle Farben scheinen in ihre Schattierungen eingegangen zu sein. Vom Aktenschrank bis zur Wanduhr ist alles zu Stein erstarrt.
Der widerständige Andere
Jeder Schlipsträger sitzt in einem schachtelgroßen Büro, aber niemand wird so gnadenlos ausgebeutet wie Zikade. Jeden Toilettengang zieht man ihm vom Lohn ab, und die Kollegen lassen keine Gelegenheit aus, ihn zu mobben. "Zikade" ist ein politisches Buch. Unterdrückung und gesellschaftliche Diskriminierung tauchten schon in Tans Meisterwerken "Ein neues Land", "Geschichten aus der Vorstadt des Universums" und "Die Regeln des Sommer" auf. Mit "Zikade" erhält seine Kritik am neoliberalen Kapitalismus eine neue Dimension. Die Ausbeutung des kleinen Angestellten vollzieht sich hier in einer Maßlosigkeit, die ihm den Status des Menschseins abspricht. Wir wissen, wozu es geführt hat, als man Menschen als Ungeziefer bezeichnete. Und wir erleben täglich in den Nachrichten, wie die Schicksale von Menschen auf der Flucht in Form von Statistiken und Kontingenten verharmlost werden. Auch Zikade wird mit einem Barcode erfasst.
Er ist kein Rebell, arbeitet mit Fleiß. Dabei verhält er sich außerordentlich sanftmütig. Tan zeigt ihn uns rundlich und klein wie ein Kind. Bis in die Sprache hinein bleibt er infantil und fremd. Eike Schönfeld lässt Zikade in der Übersetzung von Tans Originaltext wie einen Ausländer klingen, der rührend um die etablierte Sprache ringt. Wie Bartleby wohnt er heimlich im Büro. Von seinem Chef stillschweigend geduldet, da dieser Zustand der Firma von Nutzen ist. Gerade die Sanftmut fordert jedoch die Gewalt der Kollegen heraus. Wir sehen auf Tans Bildern nie die komplette Gestalt seines Chefs oder der Angestellten. Die Gesichter der Schikaneure bleiben verdeckt, so wirkt der Hass in seiner Anonymität umso bedrohlicher. Niemand übernimmt die Verantwortung für die Wut gegen den Anderen, den man verachtet, weil er anders ist und mit ihm das Andere in einem selbst abgespalten werden soll. Tatsächlich ist Zikade ein Insekt, genauso wie Gregor Samsa in Franz Kafkas "Verwandlung" ein Käfer ist. Das widerständige Anderssein lässt sich nicht aus der Welt diskutieren. Auch der Zikade sehen wir es nicht an, aber so, wie Shaun Tan unseren Blick lenkt, aktiviert er unsere Ahnung, dass dieses von allen verachtete Wesen wohl leidensfähig ist.
Die Macht der Sanftmütigen
Der Australier arbeitet mit großem Raffinement, denn nun rücken wir Leser und Leserinnen in den Fokus des Geschehens. Unsere Gefühle von Unrecht, Mitleid und Empörung aktiviert Tan angesichts der skandalösen Behandlung eines offensichtlich unterlegenen und hilfsbedürftigen Wesens. Mit Bedacht wählt er ein Tier als Protagonisten, denn Tiere lieben wir in unserer Vorstellung bedingungslos.
Schon bei Bartleby war es die Gewaltlosigkeit, die alle autoritären Hierarchien sprengte. Auch die Zikade lässt die Tyrannei der Menschen hinter sich. Sie spaltet ihre menschliche Gestalt wie eine Schale auf, transzendiert sich, und heraus zwängt sich ein rotes Insekt. Nicht zutraulich, eher bizarr und vor allem vital in seinem Anderssein. Im Blick zurück lacht sie über die Gesetze des Kapitalismus von Produktion und Effizienz, alles relativiert sich im Angesicht der Natur, die den Blick auf eine Dimension des Seins eröffnet, in der die Welt der Menschen zu einer kurzen Episode in der Zeit schrumpft. Es ist schon meisterhaft, wie Tan die großen Erzählungen von Melville und Kafka verbindet und sie in unserer von Grenzziehungen und Migrantenfurcht hysterisierten Gegenwart wiederfindet. Wenn er zeigt, wie sich der Fuß eines Kollegen auf den Brustkorb der am Boden liegenden Zikade drückt, dann weiß man, wie sich das anfühlen muss – für den Fuß und für die Zikade. Nur 14 Bilder braucht Tan, um diese Geschichte in ihrer lyrischen Präzision zu erzählen, jedes ist bis in den letzten Pinselstrich durchdacht. Ein pastoser Auftrag der Ölfarbe gibt den Bildern eine satte überreife Textur, die das Grau sinnlich und ungemein lebendig wirken lässt. Das gelingt, weil Tan eine brillante Lichtführung betreibt. Die Helligkeit ist stets um die Zikade, ihren großen, grünen Kopf, während sich im Raum jede Menge dunkle Ecken auftun. Die Übergänge sind mitunter kaum wahrnehmbar, deshalb wirken sie umso bedrohlicher.
Tan profiliert sich ein weiteres Mal als atmosphärischer Zeitdiagnostiker. Ist er dann noch ein Autor und Illustrator von Kinderbüchern? Er selbst hat sich so nie wahrgenommen. Wenn er arbeite, denke er nicht an eine Zielgruppe, erklärt der Australier. Aber er stelle immer wieder fest, dass Kinder mit großer Faszination seine Bilder betrachten. Das kann man sich auch bei der "Zikade" vorstellen, deren packender Realismus einen konsequenten Stilwillen verrät, der einem auch dann nicht entgeht, wenn man die literarischen Bezüge nicht kennt. Die Einsamkeit des Verwundeten wird derart subtil entworfen, dass man die eigenartige Schönheit dieser Tragödie in Grau nicht mehr vergisst.
Shaun Tan: "Zikade"
Aus dem Englischen von Eike Schönfeld
Aladin im Thienemann-Esslinger Verlag, Stuttgart. 32 Seiten, 17 Euro. Ab 5 Jahren