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Shimon Stein fordert mehr Sicherheitskontrollen
"Terrorabwehr muss im Alltag praktiziert werden"

Iraelis haben durch den Nahost-Konflikt mit den Palästinensern die alltäglichen Sicherheitskontrollen verinnerlicht, sagte Shimon Stein, ehemaliger israelischer Botschafter in Deutschland. Nach den Terror-Anschlägen von Paris befürwortet er mehr Kontrollen auch in Europa.

Shimon Stein im Gespräch mit Christine Heuer |
    Shimon Stein, ehemaliger Botschafter des Staates Israel in Deutschland, vor der israelischen Flagge.
    Shimon Stein, ehemaliger Botschafter des Staates Israel in Deutschland. (picture alliance / dpa / Peter Endig)
    "Es ist ein Lernprozess, Sicherheitskontrollen zum Alltag zu machen", sagte Stein. Das sei gewöhnungsbedürftig, anfangs werde es lästig sein. Menschen werden sich beklagen, aber: "Jeder ist wach, wenn man eine Tasche sieht. Jeder ruft sofort die Polizei an", sagte er.
    Er räumte ein, dass man mit Sicherheitsmaßnahmen und Kontrollen in Theatern, Cafés oder öffentlichen Räumen nicht ganz vom Terror verschont bleiben könne. Aber die europäische Gesellschaft müsse sich darauf einstellen,"dass der Terror ein Phänomen ist, dass uns in der westlichen Welt noch lange, lange begleiten wird".
    IS fokussiert sich auf Westen und arabische Welt
    Stein, der am Institut für Nationale Sicherheitstudien in Tel Aviv arbeitet, sprach von gravierenden Pannen der Nachrichtendienste im Vorfeld der Paris-Anschläge: "Man muss viel enger zusammenarbeiten, man muss mehr Kräfte einstellen". Auf die Frage, warum der IS noch nicht in Israel zugeschlagen habe, sagte Stein: "Der IS hat andere Prioritäten, das sind die arabische Welt und dann die westliche Welt. Israel hat mit einem anderen Terror zu tun".

    Das Interview in voller Länge:
    Christine Heuer: Europa ist erschüttert über die Anschlagsserie in Frankreich. Überall und zu jeder Zeit kann das Grauen über Jedermann hereinbrechen. Das ist das Neue an den vom IS organisierten und verübten Attentaten in Paris. Wie können wir uns wehren? Was tun, um solche Attentate zu verhindern oder wenigstens im Alltag klarzukommen mit der ständigen Drohung, die jetzt auch über uns schwebt? Israelis kennen diese Situation seit Jahrzehnten. - Shimon Stein war israelischer Botschafter in Deutschland. Er ist jetzt am Institut für nationale Sicherheitsstudien an der Tel Aviv Universität. Guten Morgen, Herr Stein.
    Shimon Stein: Guten Morgen!
    Heuer: Wacht Europa jetzt erst auf? Wie sieht man das in Israel?
    Stein: Ja. Man blickt zunächst mit tiefem Bedauern auf die Ereignisse in Paris. Und ich meine, Ratschläge zu erteilen ist ja immer gut. Aber ich meine, die französische Gesellschaft und die europäische Gesellschaft muss sich darauf einstellen, dass der Terror ein Phänomen ist, das uns in der westlichen Welt, Israel, Europa, die USA noch lange, lange auch begleiten wird. Dann muss sich eine Gesellschaft darauf einstellen. Man muss das auch im Alltag praktizieren.
    Heuer: Was bedeutet das, Herr Stein? Das ist eine wichtige Frage. Wie erleben Sie Ihren Alltag?
    "Das ist gewöhnungsbedürftig"
    Stein: Ich sage Ihnen ganz klar. Für Israelis zum Beispiel ist es schon bereits seit Jahrzehnten unvorstellbar, in Einkaufszentren so frei reinzugehen, ohne durch eine Sicherheitskontrolle zu gehen. Es ist unvorstellbar, ins Theater zu gehen, ohne dass man auch der Sicherheit dann gestellt wird. Zahlreiche Cafés haben eigene Sicherheitsmenschen angestellt, sodass Sie auch in ein Café nicht so frei reingehen können, ohne identifiziert zu werden oder eine Sicherheitskontrolle zu durchlaufen und durchsucht zu werden. Das ist ein Alltag, den die israelische Gesellschaft schon bereits verinnerlicht hat. In Europa, Deutschland, Frankreich, gehe ich davon aus, vermisst man auch das. Das ist, was eigentlich den Alltag angeht. Darüber hinaus, meine ich, sieht man, dass es auch ein paar gravierende Pannen gibt, auch was die Nachrichtendienste angeht.
    Heuer: Darüber möchte ich sofort mit Ihnen sprechen, Herr Stein. Nur ganz kurz noch zu dem Alltäglichen, was ich auch sehr interessant finde. Das klingt so wie, das ganze Leben wird ein einziges Flughafen-Terminal. Mit welcher Haltung geht man denn am besten heran an solche Zustände, an die die Europäer ja in der Tat in ihrem normalen alltäglichen Leben nicht gewöhnt sind?
    Stein: Genau. Das ist auch gewöhnungsbedürftig. Anfangs wird es lästig sein. Manchmal beschwert man sich. Manchmal beklagt man sich. Aber man dann nimmt man das als einen Teil des Alltages und man tut es, auch wenn man es wie gesagt manchmal als lästig empfindet. Aber jeder ist daran gewöhnt. Jeder ist wach. Wenn man durch die Straße geht und eine Tasche sieht, dann wird sofort die Polizei angerufen und die Sicherheitsorgane kommen relativ schnell an Ort und Stelle. Das bedeutet aber nicht, dass man vom Terror verschont bleibt. Sie sehen das zur Zeit in Israel. Gestern waren fünf Menschen gestochen worden, zum Teil gestochen, zum Teil durch eine Bombe. Man kann den Terror nie hundertprozentig ausschließen. Aber man kann eine Menge tun, um das zu verringern, und das werden die Europäer lernen müssen. Denn wie gesagt: Der Terror wird Europa über Jahrzehnte auch beschäftigen.
    Heuer: Herr Stein, Sie haben die Geheimdienste gerade angesprochen. Da konnten Attentäter offenbar quer durch Europa reisen. Was bedeutet das aus Ihrer Sicht? Was heißt das für die europäischen Geheimdienste?
    Stein: Das sagt, dass man viel, viel enger zusammenarbeiten werden muss, dass man viel mehr Kräfte einstellen werden muss. Man muss eigentlich wie gesagt eine Disc neu einbauen und sich darauf einstellen, dass diese Terroranschläge, die ihre Wurzeln sowohl in Europa als auch im Nahen Osten haben, Europäer noch jahrelang beschäftigen werden. Deshalb muss sich der gesamte Staat, die gesamte Gesellschaft das einfach verankern und sowohl das in die Tat umsetzen, was die Ressourcen anbelangt, und vor allen Dingen, wie gesagt, die Gesellschaft muss sich darauf einstellen.
    "Der Islamische Staat hat momentan andere Prioritäten"
    Heuer: Bislang haben wir offensichtlich zu wenig gelernt. Nach den Angriffen auf Charlie Hebdo und auf den jüdischen Supermarkt Anfang des Jahres haben wir all das diskutiert, was heute die Innenminister in Brüssel der EU wieder diskutieren werden, nämlich eine bessere Zusammenarbeit und schärfere Sicherheitsmaßnahmen. Glauben Sie, diesmal lernen die Europäer dazu?
    Stein: Damit sich auseinanderzusetzen, das zum Alltag zu machen, ist ein Lernprozess und ich meine, die Europäer werden es auch lernen müssen. Es kommt ja nicht darauf an. Heute treffen sich, wie Sie sagen, die Innenminister und beraten. Ja, die treffen sich. Das ist keine Einzelaktion. Das ist, glaube ich, eine Daueraufgabe. Und was ich fürchte: Paris wird zwei Monate, drei Monate von jetzt an in Vergessenheit versinken und dann kehren die Menschen zum Alltag zurück. Ja, man muss dem Alltag weiter nachgehen, aber man muss das mit dem Bewusstsein tun, dass der Terroranschlag, dass es Menschen gibt, die ständig versuchen, die westliche Gesellschaft herauszufordern, gegen sie zu protestieren, wie man das in Paris erlebt hat, und deshalb muss man ständig wachsam bleiben. Es kann ja nicht sein, in sechs Monaten blickt man zurück und plötzlich kommt noch ein Terroranschlag, wovon ich bedauerlicherweise ausgehen muss, und dann stellt man die Frage von Anfang an, waren wir wach, haben wir alle Maßnahmen getroffen. Alle Maßnahmen werden ja nie getroffen werden können, aber viel mehr muss getan werden auf der gesellschaftlichen Ebene sowie auch auf der staatlichen und europäischen Ebene. Das, glaube ich, wird man je schneller kapieren umso besser.
    Heuer: Herr Stein, Entschuldigung! Wir haben nicht mehr viel Zeit. Aber so wie Sie das schildern, muss nachgearbeitet werden. Ich möchte das konkret machen. Israel leidet natürlich unter Anschlägen, aber der sogenannte Islamische Staat, der hat bei Ihnen noch nicht zugeschlagen. Wie verhindern Sie das? Haben Sie einfach den besseren Geheimdienst?
    Stein: Ja, weil der Islamische Staat hat momentan andere Prioritäten, und die Priorität ist zunächst die arabische Welt und dann die westliche Welt, und nicht nur die westliche Welt, sondern auch Indien und dazu kommen noch andere. Aber Israel hat mit einem anderen Terror zu tun.
    Heuer: Lassen Sie uns nur kurz beim IS bleiben. Sie glauben, irgendwann passiert das möglicherweise auch in Israel, dass der IS kommt? Wir haben nur noch ungefähr 20 Sekunden.
    Stein: Ich hoffe nicht, aber ich kann es ja nicht ausschließen.
    Heuer: Shimon Stein, der frühere israelische Botschafter in Deutschland. Ich bedanke mich sehr für das Gespräch, Herr Stein.
    Stein: Danke Ihnen!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.