"Verkaufsoffene Sonntage als Konjunktur- und als Impuls für die Innenstädte wären deshalb wichtig, um Frequenzen zu erreichen, um besondere Einkaufsatmosphären zu schaffen, weil gerade der Nicht-Lebensmittelhandel, Textilien, Schuhe, Sportartikel, über vier Wochen geschlossen hatte", sagt Stefan Genth, Geschäftsführer des Handelsverbands Deutschland. "Wir haben 30 Milliarden Euro verloren. Wir können uns gut vorstellen, dass insbesondere in der Herbst– und Weihnachtszeit diese verkaufsoffenen Sonntage gut angenommen werden, um verloren gegangenen Umsatz wiederzuholen."
Die Regelungen zu verkaufsoffenen Sonntagen sind zwar von Bundesland zu Bundesland unterschiedlich, doch in der Regel gilt: An bis zu vier Sonntagen pro Jahr können Geschäfte öffnen, meistens aber nicht in der Adventszeit. "Wir glauben, dass es in solchen Krisenzeiten einfach erforderlich ist, Denkverbote an die Seite zu legen. Wir müssen ein anderes Verhältnis zur Sonntagsarbeit haben, ohne die Grundwerte komplett zu vergessen", so Genth.
"Tage der Arbeitsruhe und der seelischen Erhebung"
Die Grundlage für einen Ruhetag in der Woche wurde vor rund 5.000 Jahren gelegt: Die Chaldäer, die im Zweistromland, im heutigen Irak lebten, erfanden einen Sieben-Tage-Rhythmus mit einem Ruhetag, der dann später als Sabbat von den Juden übernommen wurde. Im Buch Mose ist zu lesen: "Gedenke des Sabbattages, dass du ihn heiligest. Sechs Tage sollst du arbeiten und alle deine Werke tun. Aber am siebenten Tag ist der Sabbat des Herrn, deines Gottes."
Zu den eher aktuellen Grundlagen des Sonntags zählt nicht zuletzt das Grundgesetz. Darin heißt es in Artikel 139: "Der Sonntag und die staatlich anerkannten Feiertage bleiben als Tage der Arbeitsruhe und der seelischen Erhebung gesetzlich geschützt." Wenn, dann dürfen Läden sonntags erst ab mittags öffnen, um nicht in zeitliche Kollision mit den Gottesdiensten zu geraten. Aber ist das noch zeitgemäß, wenn etwa bei den Protestanten nur noch rund drei Prozent sonntags in die Kirche gehen?
"Einen anderen Blick auf Leben und Welt gewinnen"
"Da ist es so, dass wir aus protestantischer Sicht den Auftrag haben, diesen Tag für alle zu bewahren, und zwar zur Ruhe und zur seelischen Erbauung", sagt Gudrun Nolte, Bundesvorsitzende des Verbandes Kirche-Wirtschaft-Arbeitswelt der evangelischen Kirche. "Die Gottesdienste stehen im Fokus. Aber es geht letztendlich um die Bewahrung der Ruhe und zur seelischen Erbauung. Und gerade die wird benötigt in dieser Zeit, wo so viel Verunsicherung herrscht. Es ist im Moment eine krisengeschüttelte Zeit, wo es den Menschen gut tut, zur Ruhe zu kommen. Also seelische Erbauung hat was damit zu tun, auch Reflektion über das eigene Leben und die Zukunft in den Blick zu bekommen, und dazu braucht es Zeit und Räume."
"Ja oder nein, Wahrheit oder Schein, ist das wirklich alles oder kann das mehr sein, wer weiß das schon, doch das ist, was ich mich so frag: Sonntag", singt die Band Fettes Brot. "Ich würde es so übersetzen, dass es darum geht, sich nicht in der Arbeit und der wirtschaftlichen Tätigkeit zu verlieren, sondern einen anderen Blick auf das eigene Leben und die Welt zu gewinnen", sagt Georg Lämmlin, Direktor des Sozialwissenschaftlichen Instituts der EKD. "Einen Blick, der unterscheidet zwischen dem, was wirklich und letztendlich wichtig ist für den Sinn des Lebens: Das sind Begegnungen, das ist Freude, Solidarität, gemeinsam geteiltes Leben, und nicht nur sich in der alltäglichen Tätigkeit zu verlieren."
"Man kann nicht sagen: Ich shoppe, also bin ich"
Gemeinsam geteiltes Leben - das kann auch ein verkaufsoffener Sonntag bieten, meint Stefan Genth vom Handelsverband Deutschland: "Hier geht es um Event-Sonntage, um ein besonderes Einkaufserlebnis. Und man muss sehen: Einkaufen ist auch Freizeiterlebnis." Dem hält der Theologe Georg Lämmlin entgegen: "Das Einkaufserlebnis ist in seiner symbolischen Bedeutung das Vorletzte und nicht das Entscheidende. Man kann nicht sagen: Ich shoppe, also bin ich. Das ist keine existenzielle Frage, und deshalb sollte man es auch begrenzen."
Aber geht der arbeitsfreie Sonntag nicht immer mehr verloren? In Deutschland müssen rund 15 Prozent der Beschäftigten ständig beziehungsweise regelmäßig sonntags arbeiten. Dazu kommen noch viele, die am Sonntag im Homeoffice arbeiten – und das dürften mit und nach Corona immer mehr werden. Die Arbeitszeiten und der Wochenrhythmus verändern sich.
Ohne sonntägliche Ruhe ist jeder Tag gleich
"In individueller Hinsicht ist es natürlich gut, dass wir für uns selbst entscheiden können, wie wir in einem Wochenrhythmus leben. Aber wenn wir uns gesellschaftlich nicht mehr auf einen Rhythmus einigen, dann fehlen ganz grundsätzliche Voraussetzungen dafür, dass das überhaupt gegeben ist. Wenn es den Rhythmus nicht mehr gibt, dann kann sich auch keiner darauf berufen, dass man am Sonntag – oder einem anderen Tag, der dann dem entspricht - nicht mehr arbeiten muss. Dann ist jeder Tag gleich, und es gilt für jeden Tag die gleiche Anforderung", gibt Theologe Georg Lämmlin zu bedenken.
Die Coronakrise ist geprägt von Unsicherheit, Sorgen und Ängsten. Aber es gibt auch Menschen, die von einer wohltuenden Entschleunigung der Gesellschaft sprechen. Eine Art Sonntagsgefühl mitten in der Krise. Ein Fingerzeig, wie man das Leben auch nach Corona gestalten könnte?
Sonntage: "Spuren des Heiligen in der Moderne"
"Da, wo es den Menschen gelingt, unter diesen besonderen Bedingungen, wenn sie nicht durch Homeoffice und zusätzliche Kinderbetreuung in Beschlag genommen sind, dann erleben sie durchaus, dass unsere Gesellschaft auch einen Gang runterschalten kann. Im Erleben heißt das schon erst mal, dass man aus dieser Mühle, die man sonst so erlebt, mal heraustreten kann, ganz radikal. Ob das weitere Folgen hat, hängt dann davon ab, ob wir daraus wieder Routinen entwickeln. Nur eine einmalige Erfahrung wird erst dann wirksam und nachhaltig, wenn sie sich in Strukturen niederschlägt", meint Georg Lämmlin.
So oder so – noch ist der Sonntag ein besonderer, ein herausgehobener Tag. Der Journalist Heribert Prantl hat das einmal so ausgedrückt: "Sonntage sind Spuren des Heiligen in der Moderne. Es mag sein, dass das nicht mehr sehr viele Menschen spüren. Das macht nichts, sie sind trotzdem da."