"Bei uns vom Weltladen gibt's Oben-Bleiben-Schokolade, fair gehandelte Schokolade Marke Marc de Champagne."
Tausende von Menschen strömen zur Bühne der 100. Montagsdemo gegen das Bahnprojekt Stuttgart 21. Die einen essen Oben-Bleiben-Schokolade, die anderen tragen die neongrünen K21-Schals. K21 – diese Abkürzung steht für einen erweiterten Kopfbahnhof, den die Gegner statt des Tiefbahnhofs fordern. Fast alle Demonstranten haben sich Buttons oder Sticker angeheftet – mit mehr oder weniger fantasievollen Sprüchen.
"Zum 100. Mal, ja zum Ausstieg, Selbstdenker, Vertraust du noch oder denkst du schon, die renitente Rentnerin, Yes, we can, den Mutbürger, der ja sagt zum Ausstieg."
Oder einfach "Ja zum Ausstieg". Das ist der Slogan, mit dem die Gegner seit Wochen Wahlkampf für die Volksabstimmung am kommenden Sonntag machen.
"Ich darf Ihnen heute Abend mitteilen, wir sind zurzeit 11.000 bis 12.000 auf diesem Platz (Applaus). Und was gibt es für eine schönere Bestätigung für unseren Widerstand und für unsere erfolgreiche Kampagne 'Ja zum Ausstieg'."
Eine der Rednerinnen ist Brigitte Dahlbender, die Sprecherin des Aktionsbündnisses gegen Stuttgart 21. Die Landesvorsitzende des BUND ist in den fast zwei Jahren der Montagsdemonstrationen so etwas wie eine Ikone des Widerstands geworden. Ebenso der Schauspieler Walter Sittler, der seine Auftritte stets mit großem Pathos zu inszenieren versteht:
"Liebe Demonstrantinnen und Demonstranten, es ist immer wieder bewegend hier zu stehen und vor so vielen Leuten, die das Richtige tun wollen und durchsetzen wollen, sprechen zu dürfen, vielen Dank!"
Die Argumente gegen Stuttgart 21 sind bekannt: zu teuer - mit Baukosten von über 4,5 Milliarden Euro. Nutzlos - mit weniger Gleisen, als sie der heutige Bahnhof hat. Die Gegner rechnen sowieso damit, dass die Deutsche Bahn als Bauherr ihre Kostenkalkulation nicht halten kann. Ferner führen sie die Risiken beim Tunnelbau an und die Ungewissheit, wie sich eine gewaltige Baugrube auf die Stuttgarter Mineralwasserquellen auswirken wird. Immer wieder ist von neuen Taschenspielertricks die Rede. Beim Stresstest, schimpft etwa Brigitte Dahlbender, habe die Bahn manipuliert:
"Es ist doch kaum zu glauben, dass die Bahn hingegangen ist für den Stresstest, die Kriterien für risikobehaftet rauskopiert nach wirtschaftlich optimal, und nach den Kriterien ist der Stresstest abgelaufen. Das nenne ich Manipulation."
Eine Behauptung, der die Bahn widerspricht. Aber auch die Stuttgart-21-Befürworter aus der Politik – CDU, SPD und FDP - werden stets mit Kritik überschüttet. Deren Argumentation kommentieren die Demonstranten regelmäßig auf ihre Weise:
"Lügenpack, Lügenpack, Lügenpack"
Ganz anders – nämlich ruhiger - geht es auf der anderen Seite zu. Die Bahnhofsbefürworter sind seit Tagen mit ihrem Infomobil im Großraum Stuttgart unterwegs. Wo immer sie auch anhalten, laden sie das Laufpublikum ein zu einer Tour durch den neuen Bahnhof oder zu einer Fahrt auf der neuen Schnellbahntrasse von Stuttgart nach Ulm. Dafür spielen sie auf großen Bildschirmen animierte Videoclips ab.
"Wir haben das Projekt eingeteilt in sechs große Abschnitte. Von Ökologie über den neuen Bahnknoten, über städtebauliche Chancen bis hin zur Infrastruktur. Haben das dargestellt in Präsentationen auf Berührungsbildschirmen, und wir sind immer selbst hier und uns kann man Fragen stellen, und das ist auch das, was hier hauptsächlich läuft."
Adrette junge Herren im Anzug informieren über die Argumente pro S21. Zum Beispiel über den Zeitgewinn, den man als Bahnreisender künftig auf der Strecke von Stuttgart nach Ulm hat. Das Infomobil ist ein nagelneuer, mit aufwendiger Technik ausgestatteter Mini-Sattelschlepper auf dem die Namen der Sponsoren stehen: Daimler, Südwestmetall, Trumpf - die baden-württembergische Wirtschaft steht fast geschlossen hinter dem gigantischen Bahnprojekt. Die Unternehmen wollen eine moderne Infrastruktur; die Manager bangen um die Qualität des Standortes. Ihre Unterstützung für die Kampagne fällt entsprechend großzügig aus: Infomobil, Kinospots, Plakat- und Zeitungswerbung, auch die adretten jungen Herren werden für ihren Einsatz bezahlt; allein eine Million Euro soll eine Broschüre gekostet haben, die in diesen Tagen landesweit in den Briefkästen landet.
"Ausgezeichnet die Darstellung. Vor allen Dingen werden hier echte Fakten aufgezeigt, im Gegensatz von dem, was wir von den Gegnern hören. Ich bin absolut für den Bahnhof. Ich war von Anfang an für den Bahnhof."
Sagt ein älterer Herr mit strammer Haltung voller Überzeugung. Und dann gibt es noch die Unentschlossenen, die noch nicht wissen, wie sie übermorgen entscheiden werden. Für einen Laien ist es schwer, beinahe unmöglich, die Argumente und Informationen der beiden Seiten zu bewerten. Obwohl seit über 15 Jahren geplant wird, das Projekt durch alle parlamentarischen Instanzen ging – S21 bleibt umstritten: Die Gegner sagen, dass ein unterirdischer Durchgangsbahnhof weniger leistet als der jetzige Kopfbahnhof, die Befürworter sagen das Gegenteil. Die Gegner behaupten, wenn Stuttgart 21 nicht gebaut wird, werden endlich viele andere Nahverkehrsprojekte in Baden-Württemberg realisiert. Die Befürworter dagegen betonen: Nur wenn S21 kommt, wird sich auch der Nahverkehr im Land verbessern. Egal, wie die Volksabstimmung auch ausgehen mag, es kommen immense Kosten auf die Steuerzahler zu: entweder Baukosten oder bei einem Ausstieg Forderungen nach Schadenersatz.
"Die eine Seite sagt, wir haben Ausstiegskosten von 350 Millionen, die andere 800 Millionen bis zwei Milliarden. Sie kriegen ja nur Aussagen, Fakten kriegen sie keine präsentiert. Und wenn man versucht, Fakten zu erhalten, ich meine, da kommt man nicht weiter. Es sind schöne nette Werbefilmchen, aber auch das Infomobil bringt mich jetzt nicht zu dem abschließenden Punkt, wo ich sage, jetzt kann ich entscheiden."
Dennoch gilt: Der Umgangston zwischen Gegnern und Befürwortern hat sich verändert. Vor einem Jahr noch, als im Schlossgarten Wasserwerfer im Einsatz waren, kochten bei Diskussionen schnell die Emotionen hoch, zwischenzeitlich ist der Ton nicht mehr so rau. Auch der Tübinger Politologe Hans-Georg Wehling stellt fest, dass es in diesem Wahlkampf – abgesehen von Lügenpack-Rufen - verhältnismäßig gesittet zugeht:
"Untereinander gehen die Gegner verhältnismäßig sanft um. Also bei aller Aufheizung, bei aller emotionalen Mobilisierung, die das Thema hat, ist es verhältnismäßig ruhig. Auch die letzte Montagsdemonstration, die ja die 100. war, verlief ja in ruhigen Bahnen."
Die grün-rote Landesregierung hatte stets die Hoffnung, dass eine Volksabstimmung das Land und die Koalition selbst befrieden kann. Denn die Grünen sind gegen, die SPD ist - zumindest in großen Teilen - für den neuen Bahnhof. Weshalb sie sich im Koalitionsvertrag darauf einigten, die Bürger entscheiden zu lassen. Ministerpräsident Winfried Kretschmann:
"Das ist ja mit der Sinn des ganzen Verfahrens, dass dadurch, dass das Volk das letzte Wort hat, es auch das letzte Wort hat."
Auch Hans Georg Wehling glaubt daran, dass der Auseinandersetzung um Stuttgart 21 durch das Plebiszit die Schärfe genommen werden konnte. Er sieht sich durch eine jüngst veröffentlichte Umfrage des Meinungsforschungsinstituts infratest/dimap bestätigt:
"Wenn 95 Prozent der Abgefragten gesagt haben, wir akzeptieren das Ergebnis, dann wäre die Befriedung erreicht. Nur vier Prozent, sagen, wir wollen weitermachen, das sind in Anführungszeichen die Parkschützer, damit muss man rechnen, aber die überwältigende Mehrheit ist dann ruhig. So muss man das Ergebnis interpretieren."
Aus der Umfrage geht weiter hervor, dass es erstens wohl eine hohe Wahlbeteiligung geben wird und dass zweitens die Bahnhofsbefürworter mit einer Mehrheit rechnen können. Zur Stimmabgabe aufgerufen sind 7,8 Millionen wahlberechtigte Baden-Württemberger. Und draußen im Land scheint die Stimmung eine andere als im Großraum Stuttgart zu sein: In der Landeshauptstadt versammeln sich Tausende Gegner auf der Montagsdemo, und nur wenige steigen ins Infomobil der Befürworter ein. In Schwäbisch Hall dagegen – einer 35.000 Einwohner-Stadt 80 Kilometer von Stuttgart entfernt – füllte der grüne Verkehrsminister Winfried Hermann bei einer Veranstaltung gegen das Projekt gerade mal einen Theatersaal mit 100 Plätzen.
"Herzlichen Dank, dass Sie heute gekommen sind. Ich frage jetzt am Anfang, wer ist noch nicht entschieden, bitte melden."
Keiner meldet sich, denn Herrmanns Zuhörer sind gegen Stuttgart 21 und für den Ausstieg des Landes aus dessen Finanzierung - denn darum geht es dem Wortlaut nach bei der Volksbefragung. Die Anhänger der grünen Regierungspartei sind auch im weiten Land eher gegen Stuttgart 21, aber dennoch sind Gegenden wie Hohenlohe – nördlich von Heilbronn - oder Oberschwaben - Richtung Bodensee - das Revier der Befürworter.
"Und jetzt fragen mich Menschen in Ulm und in Ravensburg: was haben wir jetzt mit S21 zu tun, was geht uns das an, ob der Bahnhof so oder so rum gebaut wird. Hauptsache Züge fahren?"
Ivo Gönner, der populäre Oberbürgermeister von Ulm, ist ein glühender Befürworter. Der SPD-Politiker füllt die Oberschwabenhalle in Ravensburg zumindest ein bisschen. Und natürlich hat er eine Antwort auf seine Frage: Mit Stuttgart 21 steht und fällt die ebenfalls geplante Schnellbahntrasse nach Ulm. Mit der die Fahrzeit der Züge zwischen der Landeshauptstadt und der Landesgrenze zu Bayern von mehr als einer Stunde auf 27 Minuten schrumpfen würde. Und Bahnchef Rüdiger Grube widerspricht einem Argument der Gegner, wonach sich durch den Bau in Stuttgart die Elektrifizierung der Südbahn verzögern würde.
"Es sind alles Verschwörungstheorien, zu sagen, dass S21 allen anderen Bahnhofsprojekten das Geld wegnimmt, entspricht nicht der Wahrheit. Wir werden die Südbahn elektrifizieren."
Die Ravensburger hören aufmerksam zu, und es ist spürbar, dass sich die Bevölkerung in wirtschaftlich aufstrebenden Städten wie Biberach, Ravensburg oder Friedrichshafen geradezu nach einer besseren Anbindung an Ulm und Stuttgart sehnt. Hinzu kommt, dass im als konservativ geltenden Oberschwaben das Vertrauen in das, was Bürgermeister, Landrat und Bahnchef sagen, im Zweifelsfalle größer ist als die Sympathien mit den Protestierern in Stuttgart:
"Weil mir S21 wichtig ist. Es wäre wirklich Geldverschwendung, wenn man jetzt aussteigt und viel Geld dafür ausgibt, wir wären in der Region total abgehängt, drei Stunden zum Flughafen, das ist undenkbar / Da kriegt man einen Gegenwert für das, was man bezahlt."
Aber auch wenn es so aussieht, als ob die Menschen in den ländlichen Räumen von Baden-Württemberg eher für Stuttgart 21 eintreten, auch wenn Umfragen eine Mehrheit für den Weiterbau des Milliardenprojekts prognostizieren, auch wenn die Wahlbeteiligung unerwartet hoch sein dürfte, auch wenn das Quorum mit 33 Prozent fast unerreichbar ist, denn rund 2,5 Millionen Menschen müssten für den Ausstieg stimmen - das Ergebnis der Volksabstimmung steht noch keineswegs fest. Noch ist die Zahl der Unentschlossenen groß, noch hofft der grüne Ministerpräsident Winfried Kretschmann auf ein – wie er selbst sagt - Wunder, noch ist der Wahlkampf nicht zu Ende. Und so werden im politischen Stuttgart drei Szenarien durchgespielt, wie es nach dem Sonntag weitergehen könnte. Szenario eins. Die Bahnhofsbefürworter haben - wie prognostiziert - die Mehrheit, wobei es egal ist, ob die eine oder andere Seite das Quorum erreicht. Wenn man Bahnchef Grube glaubt, dann werden die Bauarbeiten in Stuttgart schnell wieder angegangen. Noch in diesem Winter sollen die restlichen Bäume im Schlossgarten gefällt und der Südflügel des Bahnhofs abgerissen werden. Nach Überzeugung des Politologen Hans Georg Wehling wird es dann zwar noch Proteste dagegen geben, aber nur noch ein Bruchteil von den bisherigen Dimensionen.
"Ich habe den Eindruck, die Leute in Stuttgart und Umgebung haben die Nase voll von dem Streit. Sie haben dann einen guten Grund zu sagen, wir haben alles versucht, wir haben Proteste organisiert und mitgemacht, hat alles nicht geholfen, wir resignieren."
Ähnlich sieht das der Fraktionschef der Landtags-SPD, Claus Schmiedel. Er ist der Überzeugung, dass das Thema für die grün-rote Koalition dann erledigt ist. Er glaubt fest daran, dass dann auch die meisten Baden-Württemberger den neuen Bahnhof akzeptieren werden:
"Hitzige Diskussionen in den Familien oder am Arbeitsplatz hören dann auf, denn das Volk hat gesprochen. Es wird immer noch ein paar Widerständler geben, die ihren Lebensinhalt im Widerstand gegen dieses Projekt gefunden haben. Da wird es eine Weile dauern, aber das kriegen wir dann in den Griff, wenn mal der Rückhalt von größeren Teilen der Bevölkerung weg ist."
Sollte die Volksabstimmung am Sonntag mit einem Ja zu Stuttgart 21 enden, gelten die unterzeichneten Verträge, und die Landesregierung hat die Pflicht, das Projekt zu fördern. Was dem grünen Verkehrsminister, ein eingefleischter Stuttgart-21-Gegner, sicher nicht einfach fallen wird. Winfried Herrmann hätte ein Problem, meint Politologe Wehling trocken:
"Das hat er, er hat allerdings auch gesagt, als er mal früher angedeutet hatte, er würde dann zurücktreten, das hat er wieder zurückgenommen, der Bahnhof sei ja nicht alles. Er hat ein Problem, und inwieweit er damit fertig wird, wird sich zeigen."
Eine wichtige Frage wird dann sein: Wird die Bahn, wie sie seit Monaten beteuert, die Kostenobergrenze von gut 4,5 Milliarden für den neuen Bahnhof einhalten oder nicht? Wenn ja, ist alles gut. Falls nicht, was bei einem Projekt in dieser Größenordnung durchaus normal wäre, ist die spannende Frage, was dann passiert. Im Vertrag zwischen Bahn und Land gibt es dazu eine Sprechklausel, die besagt, dass sich beide Seiten zusammensetzen und darüber reden müssen, wie es weitergeht. Im grün-roten Koalitionsvertrag heißt es aber, dass das Land nicht bereit ist, auch nur einen Cent mehr als den von der Vorgängerregierung versprochenen Anteil in Höhe von rund 900 Millionen Euro zu tragen. Doch Bahnchef Rüdiger Grube interessiert der Koalitionsvertrag nicht. Im Gespräch mit dem Deutschlandfunk macht er seine Interpretation der Sprechklausel deutlich: Notfalls zieht er vor Gericht.
"Wenn über 4,526 Milliarden, was wir alle nicht hoffen, der Betrag darüber hinaus geht, dann gibt es eine Sprechklausel, dann muss man sich hinsetzen mit den Partnern. Die Bahn hat eine Bauverpflichtung, das heißt, wir werden den Bau weitermachen. Wenn wir keine Einigung finden, wie mit Mehrkosten umzugehen ist, dann wird da genauso rechtlich eine Lösung herbeigeführt, wie das bei ganz normalen Themen der Fall ist. Also in die Ecken setzen und sagen 'ich nicht', gibt es hier nicht."
Szenario zwei: Mit einer Mehrheit der abgegebenen Stimmen wird am Sonntag ein Ausstieg aus Stuttgart 21 gefordert - allerdings das für die Gültigkeit der Volksabstimmung erforderliche Quorum nicht erreicht. Rechtlich wäre die Situation vergleichbar mit Szenario eins: Die Volksabstimmung wäre gescheitert, die Bahn könnte weiterbauen. Denn nur mit dem Erreichen des Quorums würde das Ausstiegsgesetz zu Stuttgart 21 in Kraft treten, ansonsten bleiben die alten Verträge gültig. Und die hat noch die schwarz-gelbe Vor-Vorgängerregierung unter Ministerpräsident Günther Oettinger unterzeichnet. Das heißt: Die Bahn baut, Land, Bund, Region und Stadt Stuttgart zahlen. Nur politisch wäre diese Situation schwieriger, denn die Gegner des Projektes würden nicht resignieren, im Gegenteil: Sie würden sich moralisch im Recht sehen. Für genau diesen Fall hofft etwa die Aktionsbündnissprecherin Brigitte Dahlbender darauf, dass die Landesregierung auf die Mehrheit hört – und das Bahnprojekt stoppt.
"Ich denke, wenn es eine Mehrheit gibt für ein Ja zum Ausstieg, dann wird die Bevölkerung und der Widerstand weitermachen, den Druck aufrechterhalten, damit die Politik dieser Willensbekundung der Mehrheit auch Rechnung trägt."
Allerdings hat sich Regierungschef Kretschmann in diesem Punkt unmissverständlich geäußert. Ein letztes Mal an diesem Mittwoch bei einer Rede im Landtag:
"Wenn das Quorum nicht erreicht wird, ist das Ausstiegsgesetz gescheitert. Die Bahn hat Baurecht, dann werden sie weiterbauen, und wir werden das durchsetzen."
Auf den Ministerpräsidenten, meint Hans Georg Wehling, wird es ankommen. Denn Winfried Kretschmann wird aller Voraussicht nach gezwungen sein, viele Wähler zu enttäuschen, die wegen ihm bei der Landtagswahl am 27. März für die Grünen gestimmt haben:
"Die Gegner erwarten, auch diejenigen, die Grün gewählt haben, das die Regierung sich dann quer legt. Aber wenn die Regierung das einfach nicht kann, ich gehe davon aus, dass Kretschmann dann mit seiner landesväterlichen Attitüde immer wieder sagt: Leute, wir haben ja alles versucht, und mehr ist da nicht zu machen."
Es ist ein offenes Geheimnis, dass Kretschmann nichts mehr fürchtet als erneute gewalttätige Ausschreitungen. Derzeit wird der Teil des Schlossgartens, in dem für den Weiterbau Bäume gefällt werden müssen, von einigen Hundert Stuttgart-21-Gegnern besetzt. Der Park müsste geräumt, die komplette Baustelle mit massiven Polizeikräften abgesichert werden. Szenario drei: Die Volksabstimmung ist erfolgreich, die Gegner haben die Mehrheit und erreichen das Quorum. Dann müsste Baden-Württemberg als einer der Projektpartner aus Stuttgart 21 aussteigen. SPD-Fraktionschef Claus Schmiedel:
"Dann wird die Landesregierung geschlossen, also auch mit der SPD die Verträge kündigen, dann kommen schwierige Verhandlungen mit der Bahn, weil die dann natürlich ihren Schadensersatz einfordert."
Schadensersatz zum einen für das Geld, das die Bahn bislang schon für Stuttgart 21 investiert hat; Schadensersatz aber auch für entgangene Gewinne, mit denen der Konzern für den Verkauf der freiwerdenden Gleisflächen an die Stadt Stuttgart bereits rechnet. Für die Landesregierung – erst seit acht Monaten im Amt – wäre das Thema damit noch lange nicht beendet, glaubt Hans Georg Wehling zu wissen. Er ist der Überzeugung, dass zwischen den Grünen und der SPD der Koalitionsstreit dann erst richtig losgehen wird.
"Das wird die Koalition ein weiteres Jahr mindestens belasten und es besteht überhaupt keine Zeit und Möglichkeit mehr, sich mit anderen Problemen, die ebenfalls anstehen, zu befassen. Man ist viel zu beschäftigt mit der Frage: Wie kriegen wir den Ausstieg hin."
Es ist also noch keineswegs sicher, dass die Volksabstimmung am Sonntag den Konflikt in Baden-Württemberg und innerhalb der Landesregierung befrieden wird. Die Hoffnung besteht. Aber auch die Befürchtung, dass der Streit um Stuttgart 21 munter weiter geht.
Auf der 100. Montagsdemonstration in dieser Woche jedenfalls haben sich die Gegner schon für kommenden Montag zur 101. verabredet – der Protest nach der Volksabstimmung ist also bereits organisiert.
"Ja, dann kommen wir wieder zum demonstrieren. Der Herr Kretschmann träumt, wenn er denkt, dass das befriedet. Der Protest geht danach weiter. Ich geh' wieder hin, das ist klar."
Tausende von Menschen strömen zur Bühne der 100. Montagsdemo gegen das Bahnprojekt Stuttgart 21. Die einen essen Oben-Bleiben-Schokolade, die anderen tragen die neongrünen K21-Schals. K21 – diese Abkürzung steht für einen erweiterten Kopfbahnhof, den die Gegner statt des Tiefbahnhofs fordern. Fast alle Demonstranten haben sich Buttons oder Sticker angeheftet – mit mehr oder weniger fantasievollen Sprüchen.
"Zum 100. Mal, ja zum Ausstieg, Selbstdenker, Vertraust du noch oder denkst du schon, die renitente Rentnerin, Yes, we can, den Mutbürger, der ja sagt zum Ausstieg."
Oder einfach "Ja zum Ausstieg". Das ist der Slogan, mit dem die Gegner seit Wochen Wahlkampf für die Volksabstimmung am kommenden Sonntag machen.
"Ich darf Ihnen heute Abend mitteilen, wir sind zurzeit 11.000 bis 12.000 auf diesem Platz (Applaus). Und was gibt es für eine schönere Bestätigung für unseren Widerstand und für unsere erfolgreiche Kampagne 'Ja zum Ausstieg'."
Eine der Rednerinnen ist Brigitte Dahlbender, die Sprecherin des Aktionsbündnisses gegen Stuttgart 21. Die Landesvorsitzende des BUND ist in den fast zwei Jahren der Montagsdemonstrationen so etwas wie eine Ikone des Widerstands geworden. Ebenso der Schauspieler Walter Sittler, der seine Auftritte stets mit großem Pathos zu inszenieren versteht:
"Liebe Demonstrantinnen und Demonstranten, es ist immer wieder bewegend hier zu stehen und vor so vielen Leuten, die das Richtige tun wollen und durchsetzen wollen, sprechen zu dürfen, vielen Dank!"
Die Argumente gegen Stuttgart 21 sind bekannt: zu teuer - mit Baukosten von über 4,5 Milliarden Euro. Nutzlos - mit weniger Gleisen, als sie der heutige Bahnhof hat. Die Gegner rechnen sowieso damit, dass die Deutsche Bahn als Bauherr ihre Kostenkalkulation nicht halten kann. Ferner führen sie die Risiken beim Tunnelbau an und die Ungewissheit, wie sich eine gewaltige Baugrube auf die Stuttgarter Mineralwasserquellen auswirken wird. Immer wieder ist von neuen Taschenspielertricks die Rede. Beim Stresstest, schimpft etwa Brigitte Dahlbender, habe die Bahn manipuliert:
"Es ist doch kaum zu glauben, dass die Bahn hingegangen ist für den Stresstest, die Kriterien für risikobehaftet rauskopiert nach wirtschaftlich optimal, und nach den Kriterien ist der Stresstest abgelaufen. Das nenne ich Manipulation."
Eine Behauptung, der die Bahn widerspricht. Aber auch die Stuttgart-21-Befürworter aus der Politik – CDU, SPD und FDP - werden stets mit Kritik überschüttet. Deren Argumentation kommentieren die Demonstranten regelmäßig auf ihre Weise:
"Lügenpack, Lügenpack, Lügenpack"
Ganz anders – nämlich ruhiger - geht es auf der anderen Seite zu. Die Bahnhofsbefürworter sind seit Tagen mit ihrem Infomobil im Großraum Stuttgart unterwegs. Wo immer sie auch anhalten, laden sie das Laufpublikum ein zu einer Tour durch den neuen Bahnhof oder zu einer Fahrt auf der neuen Schnellbahntrasse von Stuttgart nach Ulm. Dafür spielen sie auf großen Bildschirmen animierte Videoclips ab.
"Wir haben das Projekt eingeteilt in sechs große Abschnitte. Von Ökologie über den neuen Bahnknoten, über städtebauliche Chancen bis hin zur Infrastruktur. Haben das dargestellt in Präsentationen auf Berührungsbildschirmen, und wir sind immer selbst hier und uns kann man Fragen stellen, und das ist auch das, was hier hauptsächlich läuft."
Adrette junge Herren im Anzug informieren über die Argumente pro S21. Zum Beispiel über den Zeitgewinn, den man als Bahnreisender künftig auf der Strecke von Stuttgart nach Ulm hat. Das Infomobil ist ein nagelneuer, mit aufwendiger Technik ausgestatteter Mini-Sattelschlepper auf dem die Namen der Sponsoren stehen: Daimler, Südwestmetall, Trumpf - die baden-württembergische Wirtschaft steht fast geschlossen hinter dem gigantischen Bahnprojekt. Die Unternehmen wollen eine moderne Infrastruktur; die Manager bangen um die Qualität des Standortes. Ihre Unterstützung für die Kampagne fällt entsprechend großzügig aus: Infomobil, Kinospots, Plakat- und Zeitungswerbung, auch die adretten jungen Herren werden für ihren Einsatz bezahlt; allein eine Million Euro soll eine Broschüre gekostet haben, die in diesen Tagen landesweit in den Briefkästen landet.
"Ausgezeichnet die Darstellung. Vor allen Dingen werden hier echte Fakten aufgezeigt, im Gegensatz von dem, was wir von den Gegnern hören. Ich bin absolut für den Bahnhof. Ich war von Anfang an für den Bahnhof."
Sagt ein älterer Herr mit strammer Haltung voller Überzeugung. Und dann gibt es noch die Unentschlossenen, die noch nicht wissen, wie sie übermorgen entscheiden werden. Für einen Laien ist es schwer, beinahe unmöglich, die Argumente und Informationen der beiden Seiten zu bewerten. Obwohl seit über 15 Jahren geplant wird, das Projekt durch alle parlamentarischen Instanzen ging – S21 bleibt umstritten: Die Gegner sagen, dass ein unterirdischer Durchgangsbahnhof weniger leistet als der jetzige Kopfbahnhof, die Befürworter sagen das Gegenteil. Die Gegner behaupten, wenn Stuttgart 21 nicht gebaut wird, werden endlich viele andere Nahverkehrsprojekte in Baden-Württemberg realisiert. Die Befürworter dagegen betonen: Nur wenn S21 kommt, wird sich auch der Nahverkehr im Land verbessern. Egal, wie die Volksabstimmung auch ausgehen mag, es kommen immense Kosten auf die Steuerzahler zu: entweder Baukosten oder bei einem Ausstieg Forderungen nach Schadenersatz.
"Die eine Seite sagt, wir haben Ausstiegskosten von 350 Millionen, die andere 800 Millionen bis zwei Milliarden. Sie kriegen ja nur Aussagen, Fakten kriegen sie keine präsentiert. Und wenn man versucht, Fakten zu erhalten, ich meine, da kommt man nicht weiter. Es sind schöne nette Werbefilmchen, aber auch das Infomobil bringt mich jetzt nicht zu dem abschließenden Punkt, wo ich sage, jetzt kann ich entscheiden."
Dennoch gilt: Der Umgangston zwischen Gegnern und Befürwortern hat sich verändert. Vor einem Jahr noch, als im Schlossgarten Wasserwerfer im Einsatz waren, kochten bei Diskussionen schnell die Emotionen hoch, zwischenzeitlich ist der Ton nicht mehr so rau. Auch der Tübinger Politologe Hans-Georg Wehling stellt fest, dass es in diesem Wahlkampf – abgesehen von Lügenpack-Rufen - verhältnismäßig gesittet zugeht:
"Untereinander gehen die Gegner verhältnismäßig sanft um. Also bei aller Aufheizung, bei aller emotionalen Mobilisierung, die das Thema hat, ist es verhältnismäßig ruhig. Auch die letzte Montagsdemonstration, die ja die 100. war, verlief ja in ruhigen Bahnen."
Die grün-rote Landesregierung hatte stets die Hoffnung, dass eine Volksabstimmung das Land und die Koalition selbst befrieden kann. Denn die Grünen sind gegen, die SPD ist - zumindest in großen Teilen - für den neuen Bahnhof. Weshalb sie sich im Koalitionsvertrag darauf einigten, die Bürger entscheiden zu lassen. Ministerpräsident Winfried Kretschmann:
"Das ist ja mit der Sinn des ganzen Verfahrens, dass dadurch, dass das Volk das letzte Wort hat, es auch das letzte Wort hat."
Auch Hans Georg Wehling glaubt daran, dass der Auseinandersetzung um Stuttgart 21 durch das Plebiszit die Schärfe genommen werden konnte. Er sieht sich durch eine jüngst veröffentlichte Umfrage des Meinungsforschungsinstituts infratest/dimap bestätigt:
"Wenn 95 Prozent der Abgefragten gesagt haben, wir akzeptieren das Ergebnis, dann wäre die Befriedung erreicht. Nur vier Prozent, sagen, wir wollen weitermachen, das sind in Anführungszeichen die Parkschützer, damit muss man rechnen, aber die überwältigende Mehrheit ist dann ruhig. So muss man das Ergebnis interpretieren."
Aus der Umfrage geht weiter hervor, dass es erstens wohl eine hohe Wahlbeteiligung geben wird und dass zweitens die Bahnhofsbefürworter mit einer Mehrheit rechnen können. Zur Stimmabgabe aufgerufen sind 7,8 Millionen wahlberechtigte Baden-Württemberger. Und draußen im Land scheint die Stimmung eine andere als im Großraum Stuttgart zu sein: In der Landeshauptstadt versammeln sich Tausende Gegner auf der Montagsdemo, und nur wenige steigen ins Infomobil der Befürworter ein. In Schwäbisch Hall dagegen – einer 35.000 Einwohner-Stadt 80 Kilometer von Stuttgart entfernt – füllte der grüne Verkehrsminister Winfried Hermann bei einer Veranstaltung gegen das Projekt gerade mal einen Theatersaal mit 100 Plätzen.
"Herzlichen Dank, dass Sie heute gekommen sind. Ich frage jetzt am Anfang, wer ist noch nicht entschieden, bitte melden."
Keiner meldet sich, denn Herrmanns Zuhörer sind gegen Stuttgart 21 und für den Ausstieg des Landes aus dessen Finanzierung - denn darum geht es dem Wortlaut nach bei der Volksbefragung. Die Anhänger der grünen Regierungspartei sind auch im weiten Land eher gegen Stuttgart 21, aber dennoch sind Gegenden wie Hohenlohe – nördlich von Heilbronn - oder Oberschwaben - Richtung Bodensee - das Revier der Befürworter.
"Und jetzt fragen mich Menschen in Ulm und in Ravensburg: was haben wir jetzt mit S21 zu tun, was geht uns das an, ob der Bahnhof so oder so rum gebaut wird. Hauptsache Züge fahren?"
Ivo Gönner, der populäre Oberbürgermeister von Ulm, ist ein glühender Befürworter. Der SPD-Politiker füllt die Oberschwabenhalle in Ravensburg zumindest ein bisschen. Und natürlich hat er eine Antwort auf seine Frage: Mit Stuttgart 21 steht und fällt die ebenfalls geplante Schnellbahntrasse nach Ulm. Mit der die Fahrzeit der Züge zwischen der Landeshauptstadt und der Landesgrenze zu Bayern von mehr als einer Stunde auf 27 Minuten schrumpfen würde. Und Bahnchef Rüdiger Grube widerspricht einem Argument der Gegner, wonach sich durch den Bau in Stuttgart die Elektrifizierung der Südbahn verzögern würde.
"Es sind alles Verschwörungstheorien, zu sagen, dass S21 allen anderen Bahnhofsprojekten das Geld wegnimmt, entspricht nicht der Wahrheit. Wir werden die Südbahn elektrifizieren."
Die Ravensburger hören aufmerksam zu, und es ist spürbar, dass sich die Bevölkerung in wirtschaftlich aufstrebenden Städten wie Biberach, Ravensburg oder Friedrichshafen geradezu nach einer besseren Anbindung an Ulm und Stuttgart sehnt. Hinzu kommt, dass im als konservativ geltenden Oberschwaben das Vertrauen in das, was Bürgermeister, Landrat und Bahnchef sagen, im Zweifelsfalle größer ist als die Sympathien mit den Protestierern in Stuttgart:
"Weil mir S21 wichtig ist. Es wäre wirklich Geldverschwendung, wenn man jetzt aussteigt und viel Geld dafür ausgibt, wir wären in der Region total abgehängt, drei Stunden zum Flughafen, das ist undenkbar / Da kriegt man einen Gegenwert für das, was man bezahlt."
Aber auch wenn es so aussieht, als ob die Menschen in den ländlichen Räumen von Baden-Württemberg eher für Stuttgart 21 eintreten, auch wenn Umfragen eine Mehrheit für den Weiterbau des Milliardenprojekts prognostizieren, auch wenn die Wahlbeteiligung unerwartet hoch sein dürfte, auch wenn das Quorum mit 33 Prozent fast unerreichbar ist, denn rund 2,5 Millionen Menschen müssten für den Ausstieg stimmen - das Ergebnis der Volksabstimmung steht noch keineswegs fest. Noch ist die Zahl der Unentschlossenen groß, noch hofft der grüne Ministerpräsident Winfried Kretschmann auf ein – wie er selbst sagt - Wunder, noch ist der Wahlkampf nicht zu Ende. Und so werden im politischen Stuttgart drei Szenarien durchgespielt, wie es nach dem Sonntag weitergehen könnte. Szenario eins. Die Bahnhofsbefürworter haben - wie prognostiziert - die Mehrheit, wobei es egal ist, ob die eine oder andere Seite das Quorum erreicht. Wenn man Bahnchef Grube glaubt, dann werden die Bauarbeiten in Stuttgart schnell wieder angegangen. Noch in diesem Winter sollen die restlichen Bäume im Schlossgarten gefällt und der Südflügel des Bahnhofs abgerissen werden. Nach Überzeugung des Politologen Hans Georg Wehling wird es dann zwar noch Proteste dagegen geben, aber nur noch ein Bruchteil von den bisherigen Dimensionen.
"Ich habe den Eindruck, die Leute in Stuttgart und Umgebung haben die Nase voll von dem Streit. Sie haben dann einen guten Grund zu sagen, wir haben alles versucht, wir haben Proteste organisiert und mitgemacht, hat alles nicht geholfen, wir resignieren."
Ähnlich sieht das der Fraktionschef der Landtags-SPD, Claus Schmiedel. Er ist der Überzeugung, dass das Thema für die grün-rote Koalition dann erledigt ist. Er glaubt fest daran, dass dann auch die meisten Baden-Württemberger den neuen Bahnhof akzeptieren werden:
"Hitzige Diskussionen in den Familien oder am Arbeitsplatz hören dann auf, denn das Volk hat gesprochen. Es wird immer noch ein paar Widerständler geben, die ihren Lebensinhalt im Widerstand gegen dieses Projekt gefunden haben. Da wird es eine Weile dauern, aber das kriegen wir dann in den Griff, wenn mal der Rückhalt von größeren Teilen der Bevölkerung weg ist."
Sollte die Volksabstimmung am Sonntag mit einem Ja zu Stuttgart 21 enden, gelten die unterzeichneten Verträge, und die Landesregierung hat die Pflicht, das Projekt zu fördern. Was dem grünen Verkehrsminister, ein eingefleischter Stuttgart-21-Gegner, sicher nicht einfach fallen wird. Winfried Herrmann hätte ein Problem, meint Politologe Wehling trocken:
"Das hat er, er hat allerdings auch gesagt, als er mal früher angedeutet hatte, er würde dann zurücktreten, das hat er wieder zurückgenommen, der Bahnhof sei ja nicht alles. Er hat ein Problem, und inwieweit er damit fertig wird, wird sich zeigen."
Eine wichtige Frage wird dann sein: Wird die Bahn, wie sie seit Monaten beteuert, die Kostenobergrenze von gut 4,5 Milliarden für den neuen Bahnhof einhalten oder nicht? Wenn ja, ist alles gut. Falls nicht, was bei einem Projekt in dieser Größenordnung durchaus normal wäre, ist die spannende Frage, was dann passiert. Im Vertrag zwischen Bahn und Land gibt es dazu eine Sprechklausel, die besagt, dass sich beide Seiten zusammensetzen und darüber reden müssen, wie es weitergeht. Im grün-roten Koalitionsvertrag heißt es aber, dass das Land nicht bereit ist, auch nur einen Cent mehr als den von der Vorgängerregierung versprochenen Anteil in Höhe von rund 900 Millionen Euro zu tragen. Doch Bahnchef Rüdiger Grube interessiert der Koalitionsvertrag nicht. Im Gespräch mit dem Deutschlandfunk macht er seine Interpretation der Sprechklausel deutlich: Notfalls zieht er vor Gericht.
"Wenn über 4,526 Milliarden, was wir alle nicht hoffen, der Betrag darüber hinaus geht, dann gibt es eine Sprechklausel, dann muss man sich hinsetzen mit den Partnern. Die Bahn hat eine Bauverpflichtung, das heißt, wir werden den Bau weitermachen. Wenn wir keine Einigung finden, wie mit Mehrkosten umzugehen ist, dann wird da genauso rechtlich eine Lösung herbeigeführt, wie das bei ganz normalen Themen der Fall ist. Also in die Ecken setzen und sagen 'ich nicht', gibt es hier nicht."
Szenario zwei: Mit einer Mehrheit der abgegebenen Stimmen wird am Sonntag ein Ausstieg aus Stuttgart 21 gefordert - allerdings das für die Gültigkeit der Volksabstimmung erforderliche Quorum nicht erreicht. Rechtlich wäre die Situation vergleichbar mit Szenario eins: Die Volksabstimmung wäre gescheitert, die Bahn könnte weiterbauen. Denn nur mit dem Erreichen des Quorums würde das Ausstiegsgesetz zu Stuttgart 21 in Kraft treten, ansonsten bleiben die alten Verträge gültig. Und die hat noch die schwarz-gelbe Vor-Vorgängerregierung unter Ministerpräsident Günther Oettinger unterzeichnet. Das heißt: Die Bahn baut, Land, Bund, Region und Stadt Stuttgart zahlen. Nur politisch wäre diese Situation schwieriger, denn die Gegner des Projektes würden nicht resignieren, im Gegenteil: Sie würden sich moralisch im Recht sehen. Für genau diesen Fall hofft etwa die Aktionsbündnissprecherin Brigitte Dahlbender darauf, dass die Landesregierung auf die Mehrheit hört – und das Bahnprojekt stoppt.
"Ich denke, wenn es eine Mehrheit gibt für ein Ja zum Ausstieg, dann wird die Bevölkerung und der Widerstand weitermachen, den Druck aufrechterhalten, damit die Politik dieser Willensbekundung der Mehrheit auch Rechnung trägt."
Allerdings hat sich Regierungschef Kretschmann in diesem Punkt unmissverständlich geäußert. Ein letztes Mal an diesem Mittwoch bei einer Rede im Landtag:
"Wenn das Quorum nicht erreicht wird, ist das Ausstiegsgesetz gescheitert. Die Bahn hat Baurecht, dann werden sie weiterbauen, und wir werden das durchsetzen."
Auf den Ministerpräsidenten, meint Hans Georg Wehling, wird es ankommen. Denn Winfried Kretschmann wird aller Voraussicht nach gezwungen sein, viele Wähler zu enttäuschen, die wegen ihm bei der Landtagswahl am 27. März für die Grünen gestimmt haben:
"Die Gegner erwarten, auch diejenigen, die Grün gewählt haben, das die Regierung sich dann quer legt. Aber wenn die Regierung das einfach nicht kann, ich gehe davon aus, dass Kretschmann dann mit seiner landesväterlichen Attitüde immer wieder sagt: Leute, wir haben ja alles versucht, und mehr ist da nicht zu machen."
Es ist ein offenes Geheimnis, dass Kretschmann nichts mehr fürchtet als erneute gewalttätige Ausschreitungen. Derzeit wird der Teil des Schlossgartens, in dem für den Weiterbau Bäume gefällt werden müssen, von einigen Hundert Stuttgart-21-Gegnern besetzt. Der Park müsste geräumt, die komplette Baustelle mit massiven Polizeikräften abgesichert werden. Szenario drei: Die Volksabstimmung ist erfolgreich, die Gegner haben die Mehrheit und erreichen das Quorum. Dann müsste Baden-Württemberg als einer der Projektpartner aus Stuttgart 21 aussteigen. SPD-Fraktionschef Claus Schmiedel:
"Dann wird die Landesregierung geschlossen, also auch mit der SPD die Verträge kündigen, dann kommen schwierige Verhandlungen mit der Bahn, weil die dann natürlich ihren Schadensersatz einfordert."
Schadensersatz zum einen für das Geld, das die Bahn bislang schon für Stuttgart 21 investiert hat; Schadensersatz aber auch für entgangene Gewinne, mit denen der Konzern für den Verkauf der freiwerdenden Gleisflächen an die Stadt Stuttgart bereits rechnet. Für die Landesregierung – erst seit acht Monaten im Amt – wäre das Thema damit noch lange nicht beendet, glaubt Hans Georg Wehling zu wissen. Er ist der Überzeugung, dass zwischen den Grünen und der SPD der Koalitionsstreit dann erst richtig losgehen wird.
"Das wird die Koalition ein weiteres Jahr mindestens belasten und es besteht überhaupt keine Zeit und Möglichkeit mehr, sich mit anderen Problemen, die ebenfalls anstehen, zu befassen. Man ist viel zu beschäftigt mit der Frage: Wie kriegen wir den Ausstieg hin."
Es ist also noch keineswegs sicher, dass die Volksabstimmung am Sonntag den Konflikt in Baden-Württemberg und innerhalb der Landesregierung befrieden wird. Die Hoffnung besteht. Aber auch die Befürchtung, dass der Streit um Stuttgart 21 munter weiter geht.
Auf der 100. Montagsdemonstration in dieser Woche jedenfalls haben sich die Gegner schon für kommenden Montag zur 101. verabredet – der Protest nach der Volksabstimmung ist also bereits organisiert.
"Ja, dann kommen wir wieder zum demonstrieren. Der Herr Kretschmann träumt, wenn er denkt, dass das befriedet. Der Protest geht danach weiter. Ich geh' wieder hin, das ist klar."