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Zum Tod von Sibylle Lewitscharoff
Schwäbische Knorzigkeit und letzte Fragen

Mit existenziellen Themen und einem besonderen, schwebenden Ton schrieb sich Sibylle Lewitscharoff bis zum Georg-Büchner-Preis. Nun ist die Schriftstellerin mit 69 Jahren gestorben. Ihre Streitlust brachte ihr Anerkennung – und 2014 einen Skandal.

Von Helmut Böttiger | 15.05.2023
Sibylle Lewitscharoff sitzt in Porträtpose auf einem weißen Stuhl und hat den Arm auf die Lehne gelegt. Neben und hinter ihr sind weitere Stühle zu sehen.
Schwebender Ton, der zwischen Leichtigkeit und letzten Fragen changiert: Die Schriftstellerin Sibylle Lewitscharoff, hier im Jahr 2011. (imago / PPfotodesign)
Es ist bemerkenswert, mit welcher Verve die gebürtige Stuttgarterin Sibylle Lewitscharoff in den Jahren nach der Jahrtausendwende die deutsche literarische Landschaft erobert hat. Solch einen Ton war man nicht gewohnt. Charakteristisch für sie ist etwas Schwäbisch-Knorziges, mit originellen und witzigen Sprachschlenkern, mal derb, mal sehr sensibel.

Literatur muss durchaus auch mal zuschlagen können.

Sibylle Lewitscharoff, Schriftstellerin
Am Beginn von Lewitscharoffs erstem großen Romans „Montgomery“ findet sich der Ich-Erzähler eines Nachts auf dem Campo de‘ Fiori in Rom wieder. In einem hageren Mann mit Regenmantel erkennt er nach 40 Jahren seinen alten Schulfreund Montgomery Cassini-Stahl wieder. So lautet dessen Name tatsächlich, aber der Erzähler spricht ihn mit folgenden Worten an: „Blechle! Du bist doch der Blechle.“

Würdigungen für Sibylle Lewitscharoff

Es ist der Autorin zuzutrauen, dass sie für ihren Helden als schwäbischen Part seines Familiennamens nur deswegen „Stahl“ gewählt hat, um mit der Assoziation „Blechle“ spielen zu können. Und „Heilig‘s Blechle“ ist zudem ein sehr häufig gebrauchter Ausdruck des Erstaunens, mit dem die in Schwaben übliche Wertschätzung des Kraftfahrzeugs religiöse Dimensionen annimmt. Über derlei Bande spielt Sibylle Lewitscharoff oft, und meistens mündet das dann in Glaubensfragen.

Zentrales Motiv: Umgang mit dem Tod

Diese Fragen seien ein genuin literarisches Feld, erklärte Sibylle Lewitscharoff. Denn: Die Literatur könne sich in Gefilde wagen, „denen man mit Realismus nicht beikommen kann“. Das auszuschöpfen, habe ihr „großes Vergnügen bereitet“.
Sibylle Lewitscharoff wurde am 16. April 1954 als Tochter eines bulgarischen Vaters und einer deutschen Mutter in Stuttgart geboren. Sie studierte Religionswissenschaften in Berlin, wo sie bis zuletzt lebte und als Schriftstellerin tätig war. Vor einigen Jahren erkrankte sie an Multipler Sklerose. Sibylle Lewitscharoff ist am 13. Mai 2023 verstorben, wie ihr Verlag Suhrkamp am Sonntag über Twitter mitteilte. Die genauen Todesumstände sind bislang nicht bekannt.
In „Montgomery“ taucht zum ersten Mal ein zentrales Motiv der Schriftstellerin auf: der Tod und der Umgang damit, vorgetragen in einem schwebenden Ton, der zwischen Leichtigkeit und letzten Fragen changiert. Die Schwere großer Themen wie Schicksal und Schuld wird dadurch in einen anderen, ganz besonderen Zwischenraum gehoben. Genau das ist auch das Geheimnis im Schreiben Sibylle Lewitscharoffs.

Bachmannpreis 1998 für "Pong"

In ihrem Roman „Consummatus“, der 2006 erschien, wird diese Sphäre auch direkt benannt. Da sitzt der Stuttgarter Studienrat Ralph Zimmermann im Café Rösler und tritt ganz selbstverständlich in Kontakt mit dem Jenseits. Die Toten sprechen zu ihm, und die wichtigste davon ist die Rocksängerin Joey, mit der er einmal eine Affäre hatte. Ihr Urbild hat sie eindeutig in der legendären Sängerin Nico, die durch ihre Aufnahmen mit Velvet Underground unsterblich wurde.

Gespräche mit Sibylle Lewitscharoff

Das Durchkreuzen der Hauptfigur mit anderen Stimmen ist bei Lewitscharoff ein Reflex auf die Ära der Romantik, vor allem auf Jean Paul. Dieser altfränkische Wortjongleur und Bewusstseinsgräber, der sich ebenfalls häufig im Jenseits aufhielt, ist einer der wichtigsten Bezugspunkte für ihr Schreiben. Auch er spaltet einzelne Figuren in viele verschiedene auf und kommentiert das irdische Geschick probehalber aus Engels- und Himmelsperspektive. Vielleicht hat Sibylle Lewitscharoffs Kunst auch deshalb so viel mit visuellen Aspekten zu tun.
Neben dem Schreiben hat sie von Anfang an gestrichelt und gezeichnet. So illustrierte sie etwa ihre Abenteuergeschichte des „Höflichen Harald“ selbst. Und der Text, für den sie 1998 in Klagenfurt gleich den Bachmannpreis bekam, wirkt eindeutig wie die Umsetzung einer bildnerischen Idee: „Pong“, diese wilden Prosaminiaturen, haben einen Protagonisten, der wie ein Strichmännchen agiert, und seine – der menschlichen Gemeinschaft fremde – Identität spielend behauptet. Die Figur Pong weist genau jenen Jenseitsüberschuss auf, der bei Lewitscharoff immer anzutreffen ist.

Autobiografische Aufarbeitung in "Apostoloff"

Einen großen Erfolg erzielte sie mit ihrem Roman „Apostoloff“ aus dem Jahr 2009.

Zu Lewitscharoffs Werk

Dass es sich um eine autobiografische Aufarbeitung handelt, ist unverkennbar. Man befindet sich auf der Rundreise durch Bulgarien. Lewitscharoff hat dabei ihre eigene Familiengeschichte in eine wütende, zeternde, aber auch schwärmerische Prosawelt überführt. Auslöser des alle Gefühlsregister hinauf- und hinunterrasenden Monologs einer Tochter ist die Sinnlosigkeit des Todes ihres Vaters, der sich umgebracht hat. Die Erzählstimme bekämpft die Schwermut, die von ihm ausgeht, mit allen Mitteln; und die groteske Komik, in die sie das gesamte Geschehen kleidet, ist eine lebensrettende Maßnahme. Die Bewältigungsstrategien durch die schwäbische „Schwertgosch“ haben in „Apostoloff“ den Charakter einer Kartharsis.
„Da habe ich zugeschlagen in Bezug auf den Vater“, erklärte Lewitscharoff. „Weil: Es ist natürlich auch eine schwer enttäuschte Liebe."

Für mich wurde das Leben mit elf Jahren völlig auseinandergerissen.

Sibylle Lewitscharoff, Schriftstellerin
Sie habe das als einzige in der Familie nicht verziehen. „Ich habe ihn schwerst verurteilt", sagte sie in Bezug auf ihren Vater. "Das ist aber die gesündere Reaktion.“

Ausgezeichnet mit dem Büchner-Preis

„Blumenberg“, der 2011 erschienene Roman über einen Philosophen und ein Wunder, katapultierte Sibylle Lewitscharoff bis zum Büchner-Preis im Jahr 2013. Es ist ein blendender Einfall, dem Philosophen Hans Blumenberg (1920-1996) einen Löwen hinzuzugesellen, wie beim heiligen Hieronymus. Schon die ersten Sätze des Romans schaffen einen gänzlich neuen Raum, in dem die vorgefundene Realität keine Rolle mehr spielt. „Groß, gelb, atmend“ schreitet der Löwe über den Teppich vor Blumenbergs Schreibtisch. Von Anfang an hat der reale Philosoph seinen Vornamen abgestreift und gerät in ein imaginäres Flirren.
Wie der titelgebende Philosoph löst der Roman Symbole und Begriffe durch das Erzählen auf. Selbstmörder, verkannte Poeten und haltlose Studenten der Geisteswissenschaft komplettieren auch hier wieder den Lewitscharoffschen Kosmos. Im Bild dieser Figur Blumenberg verbinden sich philosophische Weltwahrnehmung und romantische Poesie, und das ist so etwas wie der Kern des Begehrens dieser Autorin.
Dass ausgerechnet an der Freien Universität Berlin, die in den Jahren nach 1968 ein Experimentierfeld für radikale gesellschaftliche Fragestellungen war, auch religionsphilosophisch bewegliche Denker wie Klaus Heinrich oder auch der flamboyante Jacob Taubes mitspielten, kam Sibylle Lewitscharoff ungemein gelegen.

Gefeiert für Streitbarkeit

Ihre „Jenseitsfixierung“ habe sicher mit dem frühen Tod ihres Vaters zu tun, mutmaßte Lewitscharoff. „Mit elf Jahren ist man empfänglich für die Erwachsenenwelt, aber man ist noch Kind. Und wenn man da etwas so Schreckliches erfährt, mit dem man nicht zurechtkommt, dann wachsen ja die Spekulationen.“
In den Jahren nach der Veröffentlichung von „Apostoloff“ und „Blumenberg“ war der Ruhm der Autorin groß. Man riss sich um sie, wenn es feierliche und animierende Reden zu halten galt, man gab ihr alle Preise und schmückte sich mit ihrer Eigenwilligkeit und ihren unerwarteten Pointen. Man lobte Lewitscharoff als „engagierte und enragierte“ Vertreterin ihrer Zunft, man rühmte, dass „Zurückhaltung oder Diplomatie“ nicht ihre Sache seien, man hob ihre „Streitbarkeit“ heraus.

Skandal nach Rede zu künstlicher Befruchtung

Es ist auffällig, wie schnell sich das nach einem wirklichen Lackmustest änderte: der „Dresdner Rede“ Lewitscharoffs 2014. Hier sprach die Autorin extrem subjektiv über ihre Ablehnung künstlicher Befruchtung; darüber, dass die technischen Möglichkeiten auch vielerlei Abgründe hätten. Die so entstandenen Kinder nannte sie „Halbwesen“, „halb Mensch, halb Weißnichtwas“. Sie entfachte damit einen Feuilletonskandal, der ihr sehr schadete. Das lenkte dann leider stark ab von ihren literarischen Texten, diesen unvergleichlich irrwitzigen und tiefgründigen Büchern, bei denen man nie wirklich sagen kann, ob sie nun eher avantgardistisch oder eher traditionsverhaftet sind.
Ihr letzter Roman erschien 2019 und heißt „Von oben“. Er ist voller Abgründe und horcht dem nach, was Literatur vermag – nämlich Zwischenräume und Grenzgebiete dort auszuloten, wo sonst nichts hinreicht. Nicht von ungefähr erscheint Kafkas „Jäger Gracchus“ als Vorbild für die Schwebe- und Existenzbewegungen dieser neuen Lewitscharoffschen Ich-Figur. Von „Pong“ über „Montgomery“ bis zu dieser Figur ist Sibylle Lewitscharoff sich immer treu geblieben.