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Sich dem Ungeist widersetzen

Es ist ein Novum: Zum ersten Mal zeigt das Projekt "Topographie des Terrors" eine rein virtuelle Ausstellung. Sie veranschaulicht anhand von mehr als 500 Dokumenten die Bandbreite des evangelischen Widerstands gegen das NS-Regime.

Von Cornelius Wüllenkemper |
    "Stell Dir vor, Deine Regierung erwartet Deine Zustimmung. Hättest Du dennoch den Mut, bei einer unfreien Wahl Nein zu sagen? Otto und Gertrud Möricke, Pfarrerehepaar in der Bekennenden Kirche, stimmten bei der Volksabstimmung und Reichstagswahl am 10. April 1938 mit Nein und begründeten dies auf einem Zettel in ihren Wahlumschlägen. Verurteilung zu einer Bewährungsstrafe und Zwangsversetzung von Otto Möricke. Das Ehepaar bot später dennoch verfolgten Juden in ihrem Pfarrhaus Zuflucht."

    Bereits der Trailer der Online-Ausstellung deutet an: Es waren vor allem individuelle Entscheidungen Einzelner, die heute unter dem Begriff des "christlichen Widerstands" gefasst werden. Auf der Internetseite evangelischer-widerstand.de setzt die Evangelische Arbeitsgemeinschaft für Kirchliche Zeitgeschichte der Ludwig-Maximilians-Universität in München technisch recht anspruchsvoll auf über 700 Ausstellungstafeln und mit virtuellen Dokumenten die Biographien widerständischer Protestanten in den zeitgeschichtlichen Zusammenhang. Seit November letzten Jahres ist die Schau bereits online zu besuchen, und um dem Pilot-Projekt weiteren Anschub zu geben, präsentiert das Gedenk- und Ausstellungszentrum Topographie des Terrors in Berlin die umfängliche Dokumentation nun in einem gesonderten, multi-medialen Präsentationsraum. Im Mittelpunkt steht eine grundsätzlich kritische Betrachtung des christlichen Widerstands gegen das NS-Regime, betont Prof. Dr. Harry Oelke, Ordinarius für Kirchengeschichte an der LMU München.

    "Gemessen an den Möglichkeiten, die Kirche durchaus hatte - es war eine wichtige Position, die sie hatte, gesellschaftlicher und kultureller Tradition, anders als heute – würde man sagen wollen, dass diese Handlungsspielräume nicht immer ausgenutzt wurden. Es gab also partielle Annäherungen, häufig mit dem Argument, man schütze die eigene Institution. Nicht alle Bischöfe der katholischen Kirche sind Bollwerke des Widerstands, und die evangelische Kirche hat mit den Deutschen Christen einen Riesenbereich gehabt von Menschen, die versucht haben, sich anzunähern und die Revolution in die Kirche hineinzutragen. Also, da ist deutliches Versagen."

    Nach Regionen, Menschen und Zeitabschnitten geordnet wird hier die Ambiguität des christlichen Engagements gegen das NS-Regime herausgearbeitet. [Im Kirchenkampf standen sich die Bekennende Kirche und die Vereinigung der "Deutschen Christen" in der Diskussion über das kirchliche Verhältnis zum Ungeist der neuen Machtelite diametral gegenüber.] Zugleich wird auch der Begriff des Widerstands neu untersucht: Wo die "Widerständischen leider sehr wenige waren und die Kirche als Gesamtheit furchtbar versagt hat", so Kulturstaatssekretär André Schmitz in seiner Eröffnungsrede, weist die Schau anhand von Zeitzeugen-Videos, Tondokumenten und einer Vielzahl von Einzelschicksalen nach, dass es den christlich motivierten Widerstand jenseits von politischer Verschwörung durchaus gegeben hat.

    "In dem Moment, wo der Anspruch auf den ganzen Menschen von Nazi-Deutschland erhoben wurde, in dem Moment waren die beiden großen Kirchen herausgefordert. Sodass jede Verhaltensweise von Christen, die sich gegen eine Vereinnahmung stellte im Sinne des totalitären Regimes, letztlich ein widerständisches Verhalten impliziert. Unter der Voraussetzung ist also christlicher Widerstand in der Tat vorhanden."

    Die Online-Schau evangelischer-widerstand.de schlägt in mehrfacher Hinsicht ein neues Kapitel auf: Nicht nur wird hier erstmals die Vielschichtigkeit des innerdeutschen, christlichen Widerstandsbegriffs einem breiten und potenziell auch weltweiten Publikum in Deutsch und Englisch nähergebracht. Als exemplarisch kann diese permanent erweiterte Schau auch gelten, weil sie als Pilotprojekt eine mögliche Antwort gefunden hat auf das Verschwinden der Zeitzeugengeneration und den Mangel an klassischen Ausstellungsstücken zum geheimen Widerstand. Ob dieses "Experiment" auch über den 5. August hinaus in der Topographie des Terrors präsentiert wird, macht die Stiftung derweil vom Zuspruch der Internet-affinen Generation abhängig.