Mario Dobovisek: Die Tat hat eine Debatte ausgelöst, unter anderem auch über die Sicherheit auf Deutschlands Bahnhöfen. 5.600 davon fährt die Bahn regelmäßig an, darunter große Bahnhöfe wie in Frankfurt und auch viele deutlich kleinere. Schnell wird dabei klar, absolute Sicherheit kann es dort nicht geben. Das räumt auch Bundesinnenminister Horst Seehofer ein auf seiner Pressekonferenz gestern, verbunden mit der Ansage, es solle mehr Polizisten geben und mehr Videoüberwachung. Am Telefon begrüße ich Konstantin Kuhle, innenpolitischer Sprecher der FDP im Bundestag. Guten Morgen, Herr Kuhle!
Konstantin Kuhle: Guten Morgen, Herr Dobovisek!
Dobovisek: Mehr Polizisten, mehr Videoüberwachung – hat Horst Seehofer da die richtigen Ideen?
Kuhle: Also das sind zwei unterschiedliche Paar Schuhe. Soweit es darum geht, die physische Präsenz der Polizei an den Bahnhöfen zu erhöhen, ist das die richtige Maßnahme. Der Staat hat ja immer die Verantwortung für die objektive Sicherheit, dass tatsächlich nichts passiert, dass tatsächlich Straftaten aufgeklärt werden und am Ende sich die Sicherheit tatsächlich erhöht. Er hat aber auch eine Verantwortung für das Sicherheitsgefühl der Menschen, denn es wäre schlimm, wenn jemand gar nicht mehr vor die Tür geht, weil er Angst hat, Opfer einer Straftat zu werden. Beidem kann man nützen, indem man die physische Präsenz der Polizei erhöht, aber das ist die deutlich bessere Maßnahme als eine Intensivierung der Videoüberwachung, wenn man den Eindruck erweckt …
"Nicht dauerhaft an jedem Bahnhof Bundespolizei möglich"
Dobovisek: Dann lassen Sie uns doch im Moment noch bei den Polizisten bleiben, Herr Kuhle, bevor wir auf die Videos zu sprechen kommen. Können denn 2.000 Polizisten mehr, die er in Aussicht gestellt hat, in Bahnhöfen eine objektive Sicherheit gewährleisten beziehungsweise erhöhen?
Kuhle: Also als Sofortmaßnahme sollte man die Präsenz der Polizei erhöhen. Es ist ja ganz richtig, dass es große und kleine Bahnhöfe gibt. An kleinen Bahnhöfen gibt es ja, Stand heute, überhaupt keine Präsenz der Bundespolizei. An größeren Einrichtungen ist das der Fall. Dort, wo besonders viele Menschen zur Arbeit fahren, besonders viele Menschen den Zug wechseln, da kann auch die Präsenz der Bundespolizei erhöht werden. Wir müssen allerdings berücksichtigen, dass es schon heute etwa 3.000 Stellen bei der Bundespolizei gibt, die überhaupt nicht besetzt sind. Jetzt hat der Bundesinnenminister in einem ersten Schritt eine Erhöhung der Polizeistellen auf Bundesebene angekündigt. Diese 2.000, die er jetzt angekündigt hat, hat er auch schon mal angekündigt, und deswegen muss man immer sehen, das ist eine erste Sofortmaßnahme, um hier ganz konkret abzuhelfen, aber strukturell wird man nicht dauerhaft an jedem Bahnhof Bundespolizei vorhalten können.
Dobovisek: Was ist wichtiger, die gefühlte Sicherheit oder die objektive?
Kuhle: Die objektive Sicherheit muss der Maßstab der Sicherheitspolitik sein. Wenn man auf der Grundlage von Gefühlen alleine Politik macht, dann kommt man ganz schnell in eine Situation, wo die Politik Gefahr läuft, den Menschen eine hundertprozentige Sicherheit zu versprechen. Ich finde es wichtig, dass wir auch bei einer so schrecklichen Tat, die jeden hätte treffen können, deutlich machen, es gibt möglicherweise Straftaten, da ist die Antwort des Staates nicht zu 100 Prozent erkennbar und richtig in der Form, dass die Straftat auf jeden Fall hätte verhindert werden können. Der Staat muss sich anstrengen, er muss alles unternehmen, was in seiner Macht steht, um solche Straftaten zu verhindern oder sie im Nachhinein aufzuklären, aber nicht um jeden Preis. Ein Politiker, der eine hundertprozentige Sicherheit verspricht, der zündet eine Nebelkerze, und deswegen ist die objektive Sicherheit immer wichtiger als die gefühlte, aber auch die gefühlte hat eine Manifestation in der Realität, weil Menschen möglicherweise gar nicht mehr vor die Tür gehen, und deswegen ist auch die gefühlte Sicherheit wichtig, aber die objektive Sicherheit sollte immer der Maßstab der Innenpolitik sein.
"Videoüberwachung ist erlaubt und verhältnismäßig"
Dobovisek: Selbst wenn in Frankfurt auf jedem Bahnsteig eine Polizeistreife gestanden hätte, hätte sie die Tat möglicherweise nicht verhindern können. Also bleibt es dabei, dass es nicht die objektive Sicherheit ist mit den mehr Polizisten, sondern doch die gefühlte?
Kuhle: In diesem Fall kann man durchaus darüber nachdenken, ob eine Person – und dieser Vorschlag ist ja aus Bahnkreisen auch schon gemacht worden –, die auf dem Bahnsteig dafür Sorge trägt, dass Menschen nicht den Sicherheitsabstand zum Gleis verletzen und auch darauf achtet, ob auffällige Personen – der Tatverdächtige soll sich ja hier hinter einer Säule versteckt haben – dort unterwegs sind, kann möglicherweise dazu beitragen, dass solche Taten weniger wahrscheinlich werden. Deswegen würde ich schon sagen, dass die Präsenz von Sicherheitspersonal auf den Bahnsteigen auch die objektive Sicherheit erhöhen kann, aber es ist ganz richtig, der Bundesinnenminister nimmt wahr, dass das Sicherheitsgefühl in der Bevölkerung durch diese Taten massiv beeinträchtigt wird. Deswegen hat er seinen Urlaub unterbrochen, deswegen hat er sich mit den Sicherheitsbehörden zusammengesetzt und unterbreitet jetzt diesen Vorschlag. Also es spielt beides eine Rolle.
Dobovisek: So ein Bahnsteig, an dem ein ICE hält, ist hunderte Meter lang. Da bräuchten wir alle paar Meter eine Sicherheitsperson, um tatsächlich zu gewährleisten, dass dieser Abstand, wie Sie es beschreiben, eingehalten wird und dann auch im Getümmel eines großen Hauptbahnhofes auch Verdächtige auffallen. Kommt der nächste Punkt ins Spiel, nämlich die Videoüberwachung. Aus einer Zentrale heraus kann man nämlich alle Winkel eines Bahnhofes einsehen, aber nur dann, wenn es tatsächlich eine Videoüberwachung gibt. Das will Seehofer verstärken. Ich nehme an, Sie als FDP lehnen das ab, wie meist bei der Videoüberwachung. Warum?
Kuhle: Also Videoüberwachung ist in Deutschland erlaubt und verhältnismäßig, wenn Kriminalitätsschwerpunkte vorliegen.
Dobovisek: Ist ein Hauptbahnhof in einer großen Metropole nicht immer ein Kriminalitätsschwerpunkt?
Kuhle: Ja, und deswegen gibt es auch an diesen Bahnhöfen schon in ganz erheblichem Maße Videoüberwachung. Also ich frage mich, wo Horst Seehofer da eigentlich noch was draufsatteln will. Wir erleben ja auch, dass die schlimmen Taten, die es in den letzten Monaten im Zusammenhang mit dem Zugverkehr gegeben hat, allesamt aufgeklärt worden sind, erstens, weil man entsprechendes Material hatte und, zweitens, weil beherzte Bürgerinnen und Bürger eingegriffen haben und den entsprechenden Täter festgehalten haben, und beides geht sozusagen ohne eine weitere Ausdehnung der Videoüberwachung. Ich glaube, wir müssen uns immer vergegenwärtigen, eine tatsächliche Präsenz der Polizei ist immer wirksamer als der Ausbau von Videoüberwachung. Die ist immer retrospektiv, die nimmt eine Tat auf, die sie nicht verhindern konnte, und deswegen muss hier die Priorität ganz klar dem Ausbau der Polizeipräsenz gelten und nicht dem falschen Versprechen einer weiteren Ausdehnung der Videoüberwachung, die haben wir an vielen Bahnhöfen eh schon.
"Hundertprozentige Sicherheitsgarantie nicht wird es geben"
Dobovisek: Immerhin könnte das eine Tat aufklären oder, wie ich es gerade beschrieben habe, in einer Livesituation auch beobachtend einschreiten, dass ein Sicherheitspersonal dann reagieren kann, wenn jemand auf dem Bahnsteig auffällt. Aber lassen wir das. Offen ließ der Innenminister gestern weitere technische Möglichkeiten, wie er sagte. Das solle eine Spitzenrunde aus Bahn-, Verkehrs- und Innenministerium erörtern. Wie weit reicht da die Fantasie der FDP für solche ergänzenden Sicherheitsmaßnahmen auf deutschen Bahnhöfen?
Kuhle: Ich finde, mit Blick auf das europäische Ausland und auf anderer Staaten, beispielsweise in Asien, kann man durchaus darüber nachdenken, ob es technische Möglichkeiten gibt, den Schutz an Bahnsteigen zu erhöhen. Das muss man aber besonnen machen, und ich warne davor, jetzt auf der Grundlage einer Tat das gesamte Sicherheitskonzept an deutschen Bahnhöfen zur Disposition zu stellen. Es muss darüber gesprochen werden. Es ist richtig, dass Experten aus dem Verkehrsministerium und dem Innenministerium in den Dialog darüber treten, aber wir sollten auch nicht in Aktionismus verfallen, sondern besonnen und ruhig analysieren, was schiefgelaufen ist, und immer berücksichtigen, dass der Staat eine hundertprozentige Sicherheitsgarantie nicht wird geben können und möglicherweise auch nicht geben sollte.
Dobovisek: Will man in Brüssel zum Beispiel in einen Hochgeschwindigkeitszug steigen, in einen Thalys nach Paris, einen Eurostar nach London oder einen ICE nach Frankfurt, dann muss man eine gültige Fahrkarte vorzeigen und sich, wie am Flughafen, durchleuchten lassen. Ist das eine Alptraumvorstellung aus Ihrer Sicht?
Kuhle: Das kommt drauf an, wie das Gesamtkonzept an den Bahnhöfen aussieht. Es ist in vielen europäischen Staaten, in Frankreich, in Italien beispielsweise so, dass man für den Zugang zum Gleis seine Fahrkarte schon abstempeln lassen muss. Das ist in Deutschland nicht so, genauso wenig, wie es in der Deutschen Bahn eine verpflichtende Sitzreservierung gibt, aber ich bin durchaus offen, darüber zu diskutieren, ob man solche Maßnahmen ergreifen kann.
"Deutschland hält auch manche Fahndungen national"
Dobovisek: Jetzt haben wir auch schon viel über den Täter gesprochen. Wir wissen, dass er aus der Schweiz kommt, zumindest in den letzten Jahren dort gelebt hat, nicht auffällig war, er ist später auffällig geworden, ist jüngst auch von einem Haftbefehl gesucht worden, trotzdem die Grenze nach Deutschland überschreiten konnte, weil es im Schengenraum auch nicht grundsätzlich Personenkontrollen gibt. Was lernen wir aus diesem Vorgang?
Kuhle: Wir lernen daraus, dass wir in der Europäischen Union und in angrenzenden Staaten, die bei Schengen mitmachen, wie beispielsweise die Schweiz, darüber diskutieren sollten, ob eine Fahndung nicht schneller auch auf europäischer Ebene erfolgen sollte als auf nationaler Ebene. Es ist ja hier so, dass die Sicherheitsbehörden gestern in der Pressekonferenz auch ganz deutlich gemacht haben, dass niemand von dieser Fahndung in der Schweiz wusste. Das heißt, selbst wenn man die Person aufgegriffen hätte, hätte man in Deutschland nicht festgestellt, dass er in der Schweiz gesucht ist.
Dobovisek: Machen Sie der Schweiz damit einen Vorwurf?
Kuhle: Nein, wenn die Schweiz dazu nicht verpflichtet ist, eine entsprechende Weitergabe der Daten vorzunehmen, kann man ihr keinen Vorwurf machen. Ich finde, dass der BKA-Chef, Herr Münch, das gestern auch hinreichend dargestellt hat. Deutschland hält auch manche Fahndungen national und lässt sie erst später sozusagen auf europäischer Ebene laufen. Man muss sich das anschauen und da miteinander ins Gespräch kommen. Möglicherweise muss sowohl Deutschland als auch die Schweiz schneller solche Fahndungen auch auf europäischer Ebene notifizieren. Allerdings sollten wir uns auch immer vergegenwärtigen, dass das möglicherweise in dem konkreten Fall trotzdem nichts genutzt hätte. Es hätte hypothetisch die Wahrscheinlichkeit gesenkt, dass diese Tat geschieht, weil man möglicherweise zufällig den Täter aufgegriffen hätte vorher, aber eine entsprechende Notifizierung auf europäischer Ebene, das ist schon ein Schritt, über den man nachdenken kann.
"Das ist wirklich widerwärtig"
Dobovisek: Der mutmaßliche Täter, er ist Eritreer, hat in der Schweiz lange gelebt, haben wir besprochen. Alice Weidel von der AfD twitterte gleich nach Bekanntwerden der Tat: "Schützt endlich die Bürger unseres Landes statt der grenzenlosen Willkommenskultur", Zitat Ende, weil der mutmaßliche Täter eben aus Eritreer stammt, aber darüber hinaus mit der Flüchtlingspolitik seit 2015 offensichtlich nichts zu tun hat. Ganz ehrliche Frage, Herr Kuhle, würden wir heute anders über den Fall reden, wäre der Täter ein Deutscher aus Frankfurt Bockenheim?
Kuhle: Ich befürchte ja. Ich befürchte, dass die Herkunft des Täters eine Rolle spielt, und wir können das daran erkennen, dass die AfD sich die Tat ganz schnell zunutze machen wollte. Mir fehlt wirklich die Fantasie, und ich frage mich, wie ein Mensch wie Frau Weidel sowas überhaupt mit seinem Gewissen vereinbaren kann, fünf Minuten nach einer solchen Tat vor die Kameras zu treten oder zu twittern, ohne überhaupt zu wissen, was der Hintergrund ist. Das ist wirklich widerwärtig, und das ist auch unanständig gegenüber den Opfern und gegenüber den Sicherheitsbehörden. Die einen wollen trauern, die anderen wollen einfach nur ihren Job machen. Ich bin froh, dass es eine große Mehrzahl an Politikern in Deutschland gibt, die einfach in einer solchen Situation auch mal sagen, ich muss mir die Zeit nehmen, diese Situation zu verstehen und zu durchdringen. Erst dann kann man über mögliche politische Schlussfolgerungen sprechen. Das muss erlaubt sein, sonst werden wir eine politische Debatte erleben, die so aufgeregt und aufgeheizt ist, dass man Probleme überhaupt nicht mehr lösen kann, und das wollen wir nicht erleben.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.