Gerwald Herter: Leider steht Fukushima nicht mehr allein, auch wenn es dort zu einer zweiten Explosion gekommen ist. Auch in anderen japanischen Atomkraftwerken versagt die Kühlung der Reaktoren, Radioaktivität ist ausgetreten. Das bestreitet auch die japanische Regierung nicht mehr. Deutschland und andere EU-Staaten können das nicht einfach ignorieren. Wie lässt sich die Sicherheit europäischer Atomkraftwerke verbessern? Dazu nun Fragen an den EU-Energiekommissar Günther Oettinger. Guten Morgen!
Günther Oettinger: Guten Morgen, Herr Herter.
Herter: Herr Oettinger, könnte es zu schwersten Zwischenfällen, wie wir sie jetzt in Japan beobachten, auch in Deutschland und in Europa kommen?
Oettinger: Viele Vorgänge in Japan sind mit Europa kaum vergleichbar, aber klar ist, jetzt sind die Ingenieure gefragt, die haben nämlich die Abläufe in Japan für undenkbar gehalten. Ein Erdbeben mit einer unglaublichen Stärke, der Tsunami, dann der Stromausfall, dann die Erhitzung, dann die Explosionen. Wir wissen noch nicht genau – und wir haben enge Kontakte nach Japan -, wie schlimm die Explosionen wirklich waren, ob und wenn ja in welcher Menge radioaktive Stoffe freigetreten sind, ob die Kernschmelze eingetreten ist. Aber klar ist: All dies erschien uns noch vor wenigen Tagen als nicht denkbar.
Deswegen sollten wir auch in Europa nie sagen, dass in unseren Szenarien alles enthalten ist. Auch bei uns sind Naturkatastrophen, oder aber Terrorangriffe, oder aber Computer-Viren und ein Ausfall des Stromnetzes nicht unvorstellbar, und diese weitreichenden Möglichkeiten und die daraus folgenden Konsequenzen und Sicherheitsvorgaben will ich morgen mit den Aufsichtsbehörden aller Mitgliedsstaaten besprechen und mit den Energieunternehmen aller Mitgliedsstaaten besprechen und auch mit den Kernkraftherstellern, die in Europa Kernkraftwerke gebaut haben, besprechen.
Herter: Das ist nötig, weil wir uns, wenn ich Sie richtig verstehe, zu sicher gefühlt haben?
Oettinger: Wir haben in den Bauvorschriften, den Genehmigungsvorschriften, den Sicherheitsvorgaben für Kernkraftwerke in den letzten Jahrzehnten enorm viel an technischem Potenzial eingesetzt. Wir haben auch Nachrüstungen, Sicherheitsmaßnahmen, die nachträglich eingebaut wurden. Aber nochmals: Die Bilder von Japan zeigen uns, nichts, auch das Schlimmste ist nicht undenkbar. Und deswegen: Nehmen Sie alleine das Thema Erdbebenstärke. Die 8,9, 9,0 in Japan können nach menschlichem Ermessen bei uns nicht eintreten. Aber wenn sie auch nur annähernd einträten, würden unsere sicherheitstechnischen Maßnahmen in den Kernkraftwerken nicht ausreichen.
Herter: Das heißt, da müssen wir neu denken. Österreich hat keine Atomkraftwerke, hat mal ein Atomkraftwerk gebaut, das ist nicht in Betrieb gegangen. Österreich fordert Stresstests für Atomkraftwerke, wie wir sie aus der Bankenwelt kennen, um die Sicherheit zu überprüfen. Ist das eine mögliche Maßnahme?
Oettinger: Wir werden in jedem Fall jetzt unsere Vorschriften und die Sicherheitsstandards aller Kernkraftwerke in den 14 Mitgliedsstaaten der Europäischen Union, die Kernkraftwerke haben, grundlegend und ohne jede vorweggenommene Bewertung prüfen müssen. Das wird Tage dauern, aber ich glaube, dies muss es uns allen wert sein. Und klar ist: Die Sicherheit ist in Europa unteilbar, und soweit ist Österreich auch ohne Kernkraftwerk von Kernkraft berührt, die im europäischen Netz ist und die in der Nachbarschaft steht. Deswegen ist das Ganze ein europäisches Sicherheitsanliegen, über die globale Dimension unserer Interessen in Russland, in China, in den USA hinaus.
Herter: Gibt es EU-Normen für die Sicherheit von Atomkraftwerken?
Oettinger: Die Sicherheitsstandards sind weitgehend nationales Recht, aber auch eine europäische Kompetenz. Die Euratom-Behörde besteht seit sieben Jahrzehnten und ist für die Bündelung und für die Kontrolle eines hohen Sicherheitsmaßstabes verantwortlich.
Herter: Aber es gibt Normen für alles Mögliche und zum Beispiel die Erdbebensicherheit des französischen Atomkraftwerks Fessenheim wird in Deutschland ganz anders beurteilt als in Paris.
Oettinger: Ja, aber die Deutschen werden angehört. Aber richtig ist, dass Bauvorschriften und technische Sicherheitsvorschriften weitgehend in der Hand der Mitgliedsstaaten sind. Allerdings haben wir in den letzten Jahren einige Kernkraftwerke der ersten Generation, der Tschernobyl-Generation, europäisch stillgelegt. Länder wie Bulgarien, die Slowakei, Lettland haben ihre Mitgliedsvoraussetzungen für die EU dann erfüllt, wenn auch die Stilllegung von alten Kernkraftwerken vollzogen wurde. Dies ist der Fall.
Herter: Zum Beispiel Kosloduj in Bulgarien. Aber Bulgarien will den Reaktor Belene weiterbauen. In den 80er-Jahren wurde dieser Bau aufgegeben. Dieses Gebiet gilt nicht als besonders erdbebensicher, im Norden Bulgariens, in der Nähe der Donau. Können Sie dagegen etwas machen?
Oettinger: Belene ist ein offener Fall, da geht es zum Ersten um die Frage der technischen und der geologischen Sicherheit. Die wird in der Tat umfassend zu prüfen sein. Zum Zweiten geht es um Finanzierungsfragen, dann zum Dritten geht es um den Bedarf überhaupt. Es gibt ja derzeit für Belene keinen europäischen Investor. Nur die Russen sind im Grundsatz bereit einzusteigen, aber die Angelegenheit ist offen und wird natürlich jetzt, wie generell auch der Bau anderer neuer Kernkraftwerke, nochmals mit Distanz zu prüfen sein.
Herter: In Deutschland gibt es Kernkraftwerke, die nicht mehr zugelassen würden in der Baugenehmigung, die aber trotzdem noch laufen. Können Sie damit einverstanden sein?
Oettinger: Wir haben ja in Deutschland in den letzten Jahrzehnten ständig und auch umfassend nachgerüstet. Das heißt, auch ältere Kernkraftwerke haben Sicherheitstechnik, die neuen Vorgaben genügt. Aber nochmals: Wenn wir jetzt wirklich diese undenkbar für uns gehaltenen Bilder in Japan betrachten, sollte man nichts ausschließen, sollte deswegen ohne jede Vorbewertung an die Prüfung der Sicherheits- und Baustandards aller Kernkraftwerke, der Neuen, aber auch der Älteren natürlich gehen.
Herter: Abschalten wäre also möglich?
Oettinger: Ich schließe gar nichts aus. Noch mal: Wenn wir es ernst meinen und sagen, der Vorfall hat die Welt verändert und hat vieles, was wir als Industriegesellschaft für sicher und beherrschbar gehalten haben, infrage gestellt, dann können wir gar nichts ausschließen.
Herter: Das war der EU-Kommissar für Fragen der Energie, Günther Oettinger, im Deutschlandfunk. Herr Oettinger, vielen Dank für das Gespräch.
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Günther Oettinger: Guten Morgen, Herr Herter.
Herter: Herr Oettinger, könnte es zu schwersten Zwischenfällen, wie wir sie jetzt in Japan beobachten, auch in Deutschland und in Europa kommen?
Oettinger: Viele Vorgänge in Japan sind mit Europa kaum vergleichbar, aber klar ist, jetzt sind die Ingenieure gefragt, die haben nämlich die Abläufe in Japan für undenkbar gehalten. Ein Erdbeben mit einer unglaublichen Stärke, der Tsunami, dann der Stromausfall, dann die Erhitzung, dann die Explosionen. Wir wissen noch nicht genau – und wir haben enge Kontakte nach Japan -, wie schlimm die Explosionen wirklich waren, ob und wenn ja in welcher Menge radioaktive Stoffe freigetreten sind, ob die Kernschmelze eingetreten ist. Aber klar ist: All dies erschien uns noch vor wenigen Tagen als nicht denkbar.
Deswegen sollten wir auch in Europa nie sagen, dass in unseren Szenarien alles enthalten ist. Auch bei uns sind Naturkatastrophen, oder aber Terrorangriffe, oder aber Computer-Viren und ein Ausfall des Stromnetzes nicht unvorstellbar, und diese weitreichenden Möglichkeiten und die daraus folgenden Konsequenzen und Sicherheitsvorgaben will ich morgen mit den Aufsichtsbehörden aller Mitgliedsstaaten besprechen und mit den Energieunternehmen aller Mitgliedsstaaten besprechen und auch mit den Kernkraftherstellern, die in Europa Kernkraftwerke gebaut haben, besprechen.
Herter: Das ist nötig, weil wir uns, wenn ich Sie richtig verstehe, zu sicher gefühlt haben?
Oettinger: Wir haben in den Bauvorschriften, den Genehmigungsvorschriften, den Sicherheitsvorgaben für Kernkraftwerke in den letzten Jahrzehnten enorm viel an technischem Potenzial eingesetzt. Wir haben auch Nachrüstungen, Sicherheitsmaßnahmen, die nachträglich eingebaut wurden. Aber nochmals: Die Bilder von Japan zeigen uns, nichts, auch das Schlimmste ist nicht undenkbar. Und deswegen: Nehmen Sie alleine das Thema Erdbebenstärke. Die 8,9, 9,0 in Japan können nach menschlichem Ermessen bei uns nicht eintreten. Aber wenn sie auch nur annähernd einträten, würden unsere sicherheitstechnischen Maßnahmen in den Kernkraftwerken nicht ausreichen.
Herter: Das heißt, da müssen wir neu denken. Österreich hat keine Atomkraftwerke, hat mal ein Atomkraftwerk gebaut, das ist nicht in Betrieb gegangen. Österreich fordert Stresstests für Atomkraftwerke, wie wir sie aus der Bankenwelt kennen, um die Sicherheit zu überprüfen. Ist das eine mögliche Maßnahme?
Oettinger: Wir werden in jedem Fall jetzt unsere Vorschriften und die Sicherheitsstandards aller Kernkraftwerke in den 14 Mitgliedsstaaten der Europäischen Union, die Kernkraftwerke haben, grundlegend und ohne jede vorweggenommene Bewertung prüfen müssen. Das wird Tage dauern, aber ich glaube, dies muss es uns allen wert sein. Und klar ist: Die Sicherheit ist in Europa unteilbar, und soweit ist Österreich auch ohne Kernkraftwerk von Kernkraft berührt, die im europäischen Netz ist und die in der Nachbarschaft steht. Deswegen ist das Ganze ein europäisches Sicherheitsanliegen, über die globale Dimension unserer Interessen in Russland, in China, in den USA hinaus.
Herter: Gibt es EU-Normen für die Sicherheit von Atomkraftwerken?
Oettinger: Die Sicherheitsstandards sind weitgehend nationales Recht, aber auch eine europäische Kompetenz. Die Euratom-Behörde besteht seit sieben Jahrzehnten und ist für die Bündelung und für die Kontrolle eines hohen Sicherheitsmaßstabes verantwortlich.
Herter: Aber es gibt Normen für alles Mögliche und zum Beispiel die Erdbebensicherheit des französischen Atomkraftwerks Fessenheim wird in Deutschland ganz anders beurteilt als in Paris.
Oettinger: Ja, aber die Deutschen werden angehört. Aber richtig ist, dass Bauvorschriften und technische Sicherheitsvorschriften weitgehend in der Hand der Mitgliedsstaaten sind. Allerdings haben wir in den letzten Jahren einige Kernkraftwerke der ersten Generation, der Tschernobyl-Generation, europäisch stillgelegt. Länder wie Bulgarien, die Slowakei, Lettland haben ihre Mitgliedsvoraussetzungen für die EU dann erfüllt, wenn auch die Stilllegung von alten Kernkraftwerken vollzogen wurde. Dies ist der Fall.
Herter: Zum Beispiel Kosloduj in Bulgarien. Aber Bulgarien will den Reaktor Belene weiterbauen. In den 80er-Jahren wurde dieser Bau aufgegeben. Dieses Gebiet gilt nicht als besonders erdbebensicher, im Norden Bulgariens, in der Nähe der Donau. Können Sie dagegen etwas machen?
Oettinger: Belene ist ein offener Fall, da geht es zum Ersten um die Frage der technischen und der geologischen Sicherheit. Die wird in der Tat umfassend zu prüfen sein. Zum Zweiten geht es um Finanzierungsfragen, dann zum Dritten geht es um den Bedarf überhaupt. Es gibt ja derzeit für Belene keinen europäischen Investor. Nur die Russen sind im Grundsatz bereit einzusteigen, aber die Angelegenheit ist offen und wird natürlich jetzt, wie generell auch der Bau anderer neuer Kernkraftwerke, nochmals mit Distanz zu prüfen sein.
Herter: In Deutschland gibt es Kernkraftwerke, die nicht mehr zugelassen würden in der Baugenehmigung, die aber trotzdem noch laufen. Können Sie damit einverstanden sein?
Oettinger: Wir haben ja in Deutschland in den letzten Jahrzehnten ständig und auch umfassend nachgerüstet. Das heißt, auch ältere Kernkraftwerke haben Sicherheitstechnik, die neuen Vorgaben genügt. Aber nochmals: Wenn wir jetzt wirklich diese undenkbar für uns gehaltenen Bilder in Japan betrachten, sollte man nichts ausschließen, sollte deswegen ohne jede Vorbewertung an die Prüfung der Sicherheits- und Baustandards aller Kernkraftwerke, der Neuen, aber auch der Älteren natürlich gehen.
Herter: Abschalten wäre also möglich?
Oettinger: Ich schließe gar nichts aus. Noch mal: Wenn wir es ernst meinen und sagen, der Vorfall hat die Welt verändert und hat vieles, was wir als Industriegesellschaft für sicher und beherrschbar gehalten haben, infrage gestellt, dann können wir gar nichts ausschließen.
Herter: Das war der EU-Kommissar für Fragen der Energie, Günther Oettinger, im Deutschlandfunk. Herr Oettinger, vielen Dank für das Gespräch.
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