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Sicherheitsexperte zum INF-Vertrag
"Der Vertrauensverlust ist spürbar"

Oberst a.D. Wolfgang Richter von der Stiftung Wissenschaft und Politik hat vor einer Erosion der Rüstungskontrolle gewarnt. Es sei wichtig, bestehende Abkommen zu erhalten, sagte Richter im Dlf mit Blick auf den New-START-Vertrag, der in anderthalb Jahren ausläuft.

Wolfgang Richter im Gespräch mit Jörg Münchenberg | 02.08.2019
US-Präsident Donald Trump und Russlands Staatschef Wladimir Putin sitzen weit voneinander entfernt nebeneinander(Archivbild).
Droht eine neue Rüstungsspirale zwischen den USA und Russland? (dpa / AP / Pablo Martinez Monsivais)
Jörg Münchenberg: Anfang Februar hatten die USA den INF-Vertrag gekündigt, weil Russland das Abkommen kontinuierlich verletze, so der Vorwurf. Das neue russische Waffensystem soll in der Lage sein, mehr als 2.000 Kilometer weit zu fliegen, was ein klarer Verstoß gegen den INF-Vertrag wäre. Nun also muss sich die NATO positionieren, gleichzeitig warb heute Morgen hier im Deutschlandfunk Außenminister Heiko Maas für neue internationale Abrüstungsvertrag. Dabei, so Maas, müsse dann auch China miteinbezogen werden.
Am Telefon ist jetzt Wolfgang Richter, Oberst a. D. und heute bei der Stiftung Wissenschaft und Politik. Herr Richter, ich grüße Sie!
Wolfgang Richter: Grüß Sie, Herr Münchenberg!
Münchenberg: Herr Richter, die USA und Russland machen sich gegenseitig für ein Ende des INF-Vertrages verantwortlich. Wer hat denn nun recht?
Richter: Wer recht hat, ist zunächst mal nicht so leicht von außen zu beurteilen. Die USA haben in der NATO Beweise vorgelegt für den russischen Vertragsbruch, diese Beweise waren für die NATO-Verbündeten überzeugend, sie sind aber nicht öffentlich. Insofern ist es natürlich der Öffentlichkeit auch nicht so leicht möglich, dazu Stellung zu nehmen. Der Wissenschaftliche Dienst des US-Kongresses hat allerdings Details öffentlich gemacht. Es geht um Tests russischer Raketen auf dem Testgelände Kapustin Jar, und zwar einmal von einem festen Startgerät aus, mit einer Reichweite deutlich über 2.000 Kilometer - das ist erlaubt als Test -, und einmal von einem mobilen Startgerät aus mit einer Reichweite deutlich unter 500 Kilometer, denn ein Start von einem mobilen Startgerät wäre verboten nach dem INF-Vertrag. Und so haben wir natürlich die Frage, handelte es sich dabei um die gleiche Rakete. Das ist aber eine Expertenfrage. Von außen lässt sich das von der Hülle her nicht so eindeutig feststellen, dazu wäre Verifikation nötig gewesen, Datenaustausch, die Expertengespräche und natürlich auch Beobachtungen auf dem Inspektionsgelände selbst. Und dann könnte man eine technische Festlegung ...
"Verifikation fand nicht statt"
Münchenberg: Aber Herr Richter, darf ich Sie kurz unterbrechen: Das heißt doch dann schon, man bewegt sich hier in einer gewissen Grauzone, weil Beweise, die die USA vorlegen - wir denken an den früheren Irakkrieg --, sind ja nicht immer tatsächlich in der Substanz so nachhaltig, wie die USA behaupten.
Richter: Nun, im Falle des Irakkrieges hat die deutsche Bundesregierung, aber auch Frankreich und andere sich deutlich distanziert von den USA. Dies hat diesmal nicht stattgefunden, deswegen sagte ich vorhin, die Beweise, die vorgelegt worden waren, waren offensichtlich für alle NATO-Verbündeten überzeugend, aber nicht alle haben deswegen mitgetragen, aus dem Vertrag auszusteigen, weil dann natürlich die Norm entfällt, an der man sich messen lassen muss.
Und was ich besonders persönlich auch kritisiere: Der Versuch, das zu tun, was man bei der Rüstungskontrolle immer tut, das Kernstück nämlich wahrzunehmen - das ist die Verifikation -, das fand nicht statt. Es hätte technische Expertengespräche geben müssen, man hätte das Standarddesign der Rakete erörtern müssen, vielleicht mit Schnittmodellen, am besten mit Flugvorführungen. Dann hätte man das in technischen Zusatzprotokollen festlegen können, damit es vertragskonform ist. Denn die Rakete, die von außen so gleich aussieht, kann völlig unterschiedliche Konfigurationen haben. Das liegt an der Größe des Gefechtskopfs oder an der Steuereinrichtung et cetera. Das muss man wissen, bevor man die Reichweite daraus ableitet.
Münchenberg: Sie sagen, es gab jetzt nicht die Möglichkeit, das zu verifizieren. Würden Sie dann so weit gehen und sagen, wir haben eine neue Qualität auch des Misstrauens, jetzt von russischer Seite in jedem Fall, aber vielleicht auch von der NATO aus?
Richter: Auf alle Fälle. Ich meine, der Vertrauensverlust ist ja spürbar gewesen schon seit Langem, vor allen Dingen seit 2014. Hier nenne ich nur die Stichworte Ukraine, Krim, Syrien et cetera. Aber wir haben auch eine Erosion der Rüstungskontrolle zu beobachten, die schon sehr lange eingesetzt hat. Das begann 2001 mit dem Ausscheiden der USA aus dem Vertrag über die strategische Raketenabwehr, dem ABM-Vertrag, es ging weiter über die lange Erosion des Vertrags über konventionelle Streitkräfte in Europa, und die letzte Diskussion, die wir hatten, war ja zum iranischen Atomprogramm beziehungsweise zu dem Abkommen mit dem Iran, aus dem die USA ebenfalls ausgestiegen sind.
Also es muss mehrere Gründe geben, warum man nicht mehr interessiert ist an dieser Art von Rüstungskontrolle. Und es gibt ja auch einen zweiten Grund, den die Amerikaner genannt haben, das ist nämlich China, die Tatsache, dass China nicht dabei ist. Nun kann man nicht zwei Gründe gleichzeitig bearbeiten in kurzer Zeit.
"Festhalten an dem, was noch da ist"
Münchenberg: Nun gibt es ja aber gleichzeitig neue Appelle für multilaterale Rüstungskontrollverträge - der Außenminister Heiko Maas hat das heute bei uns auch im Deutschlandfunk heute Morgen gefordert. Sie sagen, gleichzeitig haben wir eine Erosion bei der Rüstungskontrolle. Ist das dann nicht ziemlich utopisch, solche neuen Abkommen zu fordern?
Richter: Ich glaube, es ist ganz wichtig, dass wir nicht nur neue Abkommen fordern, sondern auch festhalten an dem, was noch da ist. Ich erinnere an den New-START-Vertrag, der, wenn wir nichts tun oder wenn die Amerikaner und Russen nichts tun, im Februar 2021 ausläuft. Das wäre dann eine Situation, in der wir überhaupt keine rechtsverbindliche Begrenzung von Nuklearwaffen mehr hätten - die erste Situation dieser Art seit den früheren 70er-Jahren. Das muss man natürlich vermeiden.
Auf der anderen Seite sollte man sich aber auch keine Illusionen machen über eine frühzeitige Multilateralisierung. Ich meine, wir sprechen im Falle Chinas zum Beispiel von etwa maximal 300 Nuklearwaffen, und wir reden im Falle der USA und Russland von jeweils über 6.000 Nuklearwaffen - nicht alle aktiv, aber immerhin noch da.
Münchenberg: Darf ich Sie noch mal unterbrechen: Der USA-Präsident hält ja gerade von Multilateralismus ziemlich wenig.
Richter: Das tut er, in der Tat, durch seine Aktionen, auf der anderen Seite hat er bei seinem Wahlkampfauftritt - am 20. Oktober letzten Jahres, meine ich, war es - deutlich gemacht, dass es zwei Gründe gibt: nämlich den russischen Vertragsbruch und die Tatsache dass China nicht dabei ist. Das heißt, er hat eigentlich schon die Möglichkeit angesprochen, einen trilateralen Vertrag zu haben. Andererseits haben die USA in dieser Hinsicht keinen ernsthaften Versuch unternommen, geschweige denn einen konzeptionellen Vorschlag gemacht. Deswegen zweifle ich daran, ob das im Moment ernst gemeint ist.
Bedrohungslage ist unverändert
Münchenberg: Herr Richter, was heißt das denn jetzt trotzdem, der INF-Vertrag ist ja heute erst mal ausgelaufen, was heißt das für die NATO? Der Generalsekretär Stoltenberg hatte schon gesagt, es gehe jetzt nicht um die Stationierung von neuen atomaren Mittelstreckenraketen in Europa. Also wie sollte sich die NATO jetzt positionieren?
Richter: Zunächst einmal muss man festhalten, dass sich die Bedrohungslage nicht grundsätzlich geändert hat, denn der Vertrag hat bodengestützte Waffen verboten, aber nicht diejenigen, die von See oder aus der Luft abgefeuert werden, und die gab es auch bisher schon. Das heißt, rein von der Strategie her oder von der Bedrohungslage her hat sich nichts geändert.
Das Vertrauen ist geschwunden und die Rüstungskontrolle erodiert. Sieht man sich die Verteidigungsszenarien im Baltikum an, die ja doch sehr stark das strategische Denken der NATO bestimmen, so muss man auch hier festhalten, dass die Zuführung von NATO-Verstärkungskräften ja vor allen Dingen auf den letzten 500 Kilometern unterbrochen werden könnte. Und auch diese Waffen, die unterhalb von 500 Kilometer Reichweite dort wirken können, sind ja nicht durch den INF-Vertrag verboten.
Deswegen ist meine Aussage, wir haben keine prinzipiell neue Bedrohungslage. Was die NATO darauf tun sollte, aus meiner Sicht, ist zunächst mal einen Versuch zu machen, eine Erklärung, eine reziproke Erklärung beider Seiten hervorzurufen, dass wir auf die Stationierung bodengestützter Waffen verzichten. Das halte ich noch für möglich. Andere Möglichkeiten, die diskutiert werden, sind defensiver Art ...
Münchenberg: Genau, es geht ja auch um zusätzliche Militärübungen, mehr Beobachtungen, aber es stellt sich ja schon die Frage: Wird das Russland beeindrucken?
Richter: Ich denke, dass die Stärke oder das Zeigen von Stärke zwar gut ist für die Bündnissolidarität, aber ich glaube nicht, dass Russland sich dadurch einschüchtern lässt. Ich vermute eher, dass wir aufpassen müssen, dass Russland nicht in einer Weise reagiert, die uns dann am Ende doch wieder in eine Rüstungsspirale führt. Natürlich, man kann über defensive Systeme reden. Man muss nur aufpassen, die Raktenabwehrfähigkeit der NATO, die wir bisher hatten und die ja zumindest der NATO-Aussage nach immer nur gegen Iran oder andere Staaten außerhalb Europas gerichtet war, aber nie gegen Russland. Wenn man jetzt sagt, wir ändern das und wollen sie also gegen Russland richten, dann ist das natürlich ein Stück Unglaubwürdigkeit, was damit erzeugt wird. Man kann aber auch zu den Aegis-Schiffen, die man schon hat, nämlich vier, zwei weitere hinzufügen - das hat der amerikanische Oberbefehlshaber in Europa ja auch schon gefordert. Und letztlich kann man über ein neues System der taktischen Luftverteidigung sprechen, aufbauend auf dem MEAD-System, daran denkt ja auch die Bundeswehr, so etwas einzuführen.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.