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"Sie war eigentlich einfach eine scheue Persönlichkeit"

Wislawa Szymborska habe die Öffentlichkeit nicht gesucht, sondern gemieden, sagt Renate Schmidgall, die mehrere Gedichte der polnischen Lyrikerin übersetzt hat. Ihr Leben habe Szymborska augenzwinkernd in vor und nach der "Nobel-Katastrophe" geteilt.

Renate Schmidgall im Gespräch mit Hubert Winkels |
    "Nun läuft die geschriebene Ricke durch den geschriebenen Wald, etwa um von dem geschriebenen Wasser zu trinken, das ihr Näschen widerspiegelt wir Blaupapier. Warum hebt sie den Kopf, ob sie was wittert?"

    Hubert Winkels: Das war ein ganz kurzes polnisches Gedicht, gelesen von der Autorin Wislawa Szymborska, die gestern Abend im Alter von 88 Jahren in Krakau gestorben ist. Sie war die wichtigste Lyrikerin, man kann sagen die wichtigste lyrische Stimme im heutigen Polen überhaupt: hoch anerkannt von der Kritik, mit dem Literaturnobelpreis versehen und von ihren Landsleuten nicht nur geachtet, sondern in der literaturgemäßen Weise verehrt. In einem längeren Gespräch mit der Übersetzerin Renate Schmidgall werden wir uns der Person und ihrem Werk zu nähern versuchen, und anschließend weiten wir den internationalen Raum noch aus und stellen eine der bekanntesten und einflussreichsten Literaturzeitschriften überhaupt vor: das englisch-amerikanische Magazin "Granta".

    Doch zunächst darf ich Renate Schmidgall im ARD-Studio in Frankfurt begrüßen, wohin sie von Darmstadt aus angereist ist – dem Ort, wo das Deutsche Polen-Institut seinen Sitz hat und damit auch der große alte Mann der deutsch-polnischen Literaturvermittlung, Karl Dedecius. Dieser hat viele der frühen Gedichte Szymborskas übersetzt. In den letzten Jahren hat Renate Schmidgall diese anspruchsvolle Aufgabe übernommen, Wislawa Szymborska zu übersetzen. Renate Schmidgall hat nicht nur den deutschen Übersetzerpreis 2006 gewonnen, sondern vor zwei Jahren auch den Karl-Dedecius-Preis. Frau Schmidgall, was macht die besondere Herausforderung bei der Übersetzung der Gedichte von Wislawa Szymborska aus?

    Renate Schmidgall: Szymborskas Gedichte wirken auf den ersten Blick sehr, sehr einfach. Sie schreibt in einer einfachen Sprache, grammatikalisch ohne Probleme, erfindet sozusagen die Sprache nicht neu, einfache Sätze, aber sie benutzt sehr, sehr viele Sprachspiele, die sehr schwer ins Deutsche zu übersetzen sind. Sie spielt mit der Sprache wirklich. Und das ist natürlich immer schwierig.

    Winkels: Jetzt habe ich eben kurz Karl Dedecius erwähnt, den Leiter des Polen-Instituts, langjährig wichtiger Übersetzer eben auch von Wislawa Szymborska, der die frühen und mittleren Gedichte übersetzt hat. Würden Sie sagen, Sie haben andere Akzente gesetzt? Kann man mal – unabhängig vom Stilwandel der Dichterin selbst – sagen, dass Sie eine gewisse andere Zugangsweise gewählt haben?

    Schmidgall: Ich glaube, das kann ich so eigentlich nicht sagen. Ich werde vielleicht generell ein bisschen einen anderen Stil haben als Dedecius, ich bin einige Jahre jünger. Bei ihm fällt manchmal auf, dass er einen relativ, ja eben älteren Wortschatz benutzt, es ist aber eben bei Szymborska ja auch angebracht. Von daher kann ich jetzt eigentlich nicht grundsätzlich sagen, dass ich etwas anders mache.

    Winkels: Wenn man bei ihr jetzt mal absieht von den ganz frühen Gedichten, die man eher stalinistisch nennt – vielleicht kommen wir noch drauf zu sprechen –, kann man in den vielen Jahrzehnten, in denen sie als Dichterin hervorgetreten ist, Unterschiede feststellen, so zwischen mittlerer und später Phase in ihrem Schreiben?

    Schmidgall: Ich glaube, so formuliert ist es recht schwierig. Ich würde eher sagen, dass Szymborska eigentlich mit jedem Gedicht ganz anders schreibt. Jedes Gedicht hat eine eigene Poetik, einen eigenen Atem, einen eigenen Rhythmus und steht sozusagen immer ein Stück weit für sich allein. Von den Themen her, finde ich, hat sich nicht viel geändert. Das ist unsere Existenz, ganz allgemein, und zwar unter einer sehr eben ungewöhnlichen Perspektive, das ist, glaube ich, das, was ihre Gedichte ausmacht.

    Winkels: Und damit meinen Sie, mit der Perspektive?

    Schmidgall: Ja, damit meine ich, dass sie oft eben von einem Standpunkt aus schaut, auf den man normalerweise gar nicht kommt, sei es jetzt aus dem Kosmos auf uns, aus der Zukunft oder dass sie unterm Mikroskop die Welt betrachtet, solche ungewöhnlichen Standpunkte machen oft auch ihre Lyrik aus.

    Winkels: Zugleich sagen Sie aber, sie hätte sich durch oder sie habe sich durch eine gewisse Einfachheit ausgezeichnet. Wie geht das zusammen, diese ganz spezielle Perspektive, die dann ja auch etwas Spezielles erhält, und die Einfachheit im Tun?

    Schmidgall: Ja, das ist auch irgendwo schon ein unheimlich, finde ich, spannungsreicher Gegensatz. Die Themen und sozusagen ihr Denken ist alles andere als einfach, aber die Sprache selbst ist sehr unartifiziell und sehr in diesem Sinne eben einfach.

    Winkels: Von Ironie ist immer gerne die Rede im Zusammenhang mit ihr. Was ist denn das für eine Ironie, die sie bewegt, mit der sie umgeht?

    Schmidgall: Das ist eine sehr, finde ich, eine sehr warme Ironie eben. Also sie kippt nie in Sarkasmus, sie hat nicht diese Kälte, die die Ironie auch haben kann, dieses Schonungslose. Das heißt, schonungslos sind ihre Aussagen vielleicht schon, aber sie hat irgendwie immer eben den Menschen im Mittelpunkt, und eigentlich entlässt sie uns auch nie so ganz vollkommen hoffnungslos.

    Winkels: Dabei ist sie 1923 geboren, in der Nähe von Posen, das heißt aber auch, dass sie als Heranwachsende, als junger Mensch, den Zweiten Weltkrieg in seiner ganzen Wucht erlebt haben muss, oder sie hat es, man weiß es. Welche Rolle spielt der Krieg, die Kriegserfahrung in dem Werk von Wislawa Szymborska?

    Schmidgall: Das kann ich jetzt gar nicht so genau sagen. Ich denke, thematisiert hat sie nicht so sehr stark den Krieg. Ich denke, als Erfahrung eben, als diese Erfahrung, dass alles plötzlich infrage gestellt sein kann und der Tod ganz nah dem Leben ist, diese Erfahrung geht auf jeden Fall in alle Gedichte in ihr Werk ein.

    Winkels: Kann man daraus schon schließen, dass sie überhaupt wenig, sagen wir Historisch-Politisches in ihren Gedichten verarbeitet hat?

    Schmidgall: Ja, würde ich eigentlich so sehen, ja. Es gibt ein Gedicht, wo sie ironisch sagt, ja, die Zeiten sind politisch, alles ist politisch, was du machst, ist politisch, wie du den Arm hebst, ist politisch, aber eben – ja, das ist Ironie.

    Winkels: Hat sie sich zu ihren frühen beiden ersten Gedichtbänden, die sehr sozialistisch realistisch geprägt waren, nachher noch geäußert? Was für ein Verhältnis hatte sie zu dieser – wenn man so will – Verirrung?

    Schmidgall: Ich denke, die Verirrung ist einfach eine ganz normale Verirrung. Es ist ja kein Wunder, dass jemand nach dem Zweiten Weltkrieg in Polen eine sozialistische Position eingenommen hat.

    Winkels: Sie war ja überhaupt wenig auskunftsfreudig generell über ihr Leben, aber auch über ihr Schreiben, deswegen weiß man auch nicht wirklich viel, was man so journalistisch verarbeiten könnte. Woher kam diese Skepsis, diese Zurückhaltung oder auch das Skrupulöse?

    Schmidgall: Ich denke, sie war eigentlich einfach eine scheue Persönlichkeit. Also was mich sehr beeindruckt hat in einem Gespräch – im April habe ich sie besucht letztes Jahr, wir haben über alte Bekannte, gemeinsame Bekannte gesprochen –, und da hat sie erzählt, ja, ja, das war ja vor der Nobel-Katastrophe. Also sie hat ihr Leben in vor und nach der Nobel-Katastrophe geteilt, natürlich auch augenzwinkernd, klar, aber sie war gar niemand, der gern in der Öffentlichkeit steht, der im Mittelpunkt steht, der ewig irgendwie Interviews gibt und so weiter, das war gar nicht ihr Ding.

    Winkels: Das ist natürlich eine herausragende souveräne Haltung, den Nobelpreis zu bekommen und zu sagen, jetzt ist nach der Nobelpreis-Katastrophe. Vielen Dank, Renate Schmidgall, für dieses Gespräch zum Tod der polnischen Lyrikerin Wislawa Szymborska. Die Bücher der Dichterin sind im Berliner Suhrkamp Verlag erschienen. Ein zentraler Band ist zweifellos "Salz" aus dem Jahre 1973, und zuletzt – beide Bände 2005 – "Der Augenblick" und "Liebesgedichte". Und im kommenden Sommer wird – posthum natürlich – wieder übersetzt von Renate Schmidgall bei Suhrkamp der neue Szymborska-Band "Glückliche Liebe und andere Gedichte" erscheinen.

    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.