Peter Kapern: Es zeugt vielleicht von einem großen sozialen Herz, nicht aber unbedingt von ökonomischem Sachverstand, wenn auf Elektroloks Heizer mitfahren, die Jahre zuvor in längst ausrangierten Dampfloks noch die Kohlen in den Kessel geschaufelt hatten. Diese Geschichte wird immer wieder erzählt, um deutlich zu machen, in welchem Zustand sich Großbritannien befand, als Margaret Thatcher in "Downing Street Number ten" einzog. Es war eine ehemalige Großmacht, das Mutterland der Industrialisierung, das längst vom Niedergang gezeichnet war. Mit eiserner Hand räumte die "Eiserne Lady" auf. Als sie der Montanindustrie den Subventionshahn zudrehte und die Macht der Gewerkschaften brach, da löste sie damit eine Welle internationaler Arbeitersolidarität aus, wie es sie vielleicht seit der ersten Internationale von Marx und Engels nicht mehr gegeben hatte. In deutschen Fußgängerzonen wurde damals Geld gesammelt für streikende britische Kumpel. Geändert hat das nichts, Margaret Thatcher hielt Kurs. Und als sie dann 1990 ihren Rücktritt erklärte, war sie schon zum Pluralis Majestatis übergegangen.
Margaret Thatcher ist gestern im Alter von 87 Jahren gestorben. Bei uns am Telefon ist der britische Politikwissenschaftler Anthony Glees. Guten Morgen!
Anthony Glees: Guten Morgen.
Kapern: Mr. Glees, muss Großbritannien nun noch einmal ein letztes Mal der "Eisernen Lady" Dank abstatten, oder stünde die Insel heute besser da, wenn Thatcher nie regiert hätte?
Glees: Ich glaube, Dank, Dank, viel Dank. Sie war eine dominierende Figur, weil sie anders war. Sie war eine sehr gescheite Frau, umstritten, auch heute. Gestern Abend zum Beispiel in Brixton haben 300 Leute ihren Tod gefeiert. Es gibt auch Politiker heute Morgen, die sagen, gut, dass sie weg ist, gut, dass die Hexe weg ist. Das ist eine Freiheit, für die Margaret Thatcher selbst kämpfte, eine Freiheit, die sie selbst verstanden hätte. Aber dass sie Großbritannien vom Boden aus verändert hat in den elf Jahren, wo sie Premierministerin war, daran kann nicht gezweifelt werden. Sie war eine Riesenfigur in unserer Politik.
Kapern: Wo würden Sie sie einsortieren im Pantheon der britischen Regierungschefs, ganz nah bei Winston Churchill?
Glees: Ja, genau das. Ich glaube, Winston Churchill und Margaret Thatcher werden in der Geschichte gesehen als die zwei größten Premierminister, die Großbritannien im 20. Jahrhundert hatte, vielleicht die größten Premierminister überhaupt.
Kapern: Nun schreibt die deutsche Zeitung "Handelsblatt" heute Früh, wenn Finanzmärkte ein Raubtier sind, dann hat Margaret Thatcher den Käfig geöffnet. Gemeint ist damit der sogenannte "Big Bang", mit dem der Bankensektor dereguliert worden ist. Zahlen wir also heute nicht doch noch den Preis für ihre Politik?
Glees: Es muss natürlich zugegeben werden, dass nicht alles, was Margaret Thatcher tat, gut war oder richtig war oder vernünftig war. Sie wollte Freiheit in unserem Land aufblühen lassen und Freiheiten können auch zu Unstimmigkeiten, Unfairness führen und falschen Entscheidungen. Sie sprechen von der City of London, das ist schon richtig. Man könnte auch von der deutschen Wiedervereinigung sprechen, die sie ganz falsch fand. Das war auch unrichtig, irrational, durch ihre eigenen Erlebnisse im Zweiten Weltkrieg wohl geprägt. Also nicht alles, was sie tat, war gut getan und richtig. Aber sie ließ sich nicht einschüchtern. Sie ließ sich nicht einschüchtern von Gewerkschaften, die eine Übermacht in den 80er-Jahren in Großbritannien hatten. Sie ließ sich nicht einschüchtern von General Galtieri und den Leuten in Argentinien. Sie ließ sich auch nicht von den Kommunisten in der Sowjetunion einschüchtern. Und sie kam, ja, bewaffnet, aber auch mit Argumenten, und indem sie durchdrang und nie ihre Meinung veränderte. Man könnte die Meinung nicht teilen, man könnte Margaret Thatcher los werden, aber sie ließ sich nicht einschüchtern und ihre Meinung war ihre Meinung und das war ein großer Verdienst. Von wie vielen Politikern kann man heute sagen, besonders in Großbritannien, dass jedermann weiß, was sie denken, was für die Politiker von heute wichtig ist. Margaret Thatcher wollte führen, sie wollte nicht folgen.
Kapern: Aber man könnte, Mr. Glees, die Sache ja auch aus einem anderen Blickwinkel betrachten und sagen, sie war zeitlebens unfähig, dazuzulernen.
Glees: Ich glaube, das wäre unrichtig. Wissen Sie, sie war eine wissenschaftliche Figur. Sie hatte in Oxford die Wissenschaft, Chemie studiert. Sie war von Wissenschaften immer stark beeindruckt. Und auf dem Höhepunkt ihrer Fähigkeiten war sie eben sehr rational. Die Emotionen waren im Hintergrund und die Prinzipien, die sie hatte, die Freiheit, dass Großbritannien eine Rolle in der Welt zu spielen hatte, und auch, dass man in dieser Welt klug sein muss, ja, aber auch tapfer und hartnäckig, auch mit Fragen des Geldes. Margaret Thatcher glaubte, dass man eine starke Währung haben müsste, dass die Inflation, so wie wir sie in Großbritannien heute haben, unmoralisch war, dass gewöhnliche Leute die Chance haben sollten, ihr Haus zu kaufen. Alles das, das waren Grundwerte, bürgerliche Grundwerte, die dazu führten, dass Großbritannien aus dem Sumpf herauskam, den sie vorfand, als sie 1979 nach Downing Street kam.
Kapern: Mr. Glees, Sie haben eben Thatchers Widerstand gegen die deutsche Wiedervereinigung angeführt. Ihr wird das Zitat zugeschrieben: "Ich habe Deutschland so gern, dass ich froh bin, dass es zwei davon gibt." Warum war sie da so sehr auf der falschen Seite der Geschichte?
Glees: Ich glaube, sie hat nie richtig verstanden, dass die Bundesrepublik eben ein anderes Deutschland war mit anderen Deutschen an der Macht. Für sie waren die Deutschen immer zu mächtig, zu groß. Ein Deutschland, das in zwei geteilt wurde, meinte sie, sei weniger gefährlich als ein großes dominierendes Deutschland, vor dem sie wirklich Angst hatte. Und das kam auch dadurch, dass ihre Familie, bevor sie Studentin in Oxford wurde, zwei junge jüdische Mädchen aus Wien in die Familie in Grantham aufgenommen hat. Und mit einem dieser Mädchen war Margaret Thatcher ihr Leben lang befreundet. Und die Geschichten, die sie erzählten über Wien 1938, wo die Nazis einmarschierten, das hat Margaret Thatcher nie vergessen. Ich habe mal mit ihr in der deutschen Botschaft in London über die deutsche Geschichte gesprochen und sie hat mir gesagt, wie empört sie war zu erfahren, dass jemand wie Konrad Adenauer einfach nichts gegen die Nazis im Dritten Reich gesagt hat. Wie war das möglich, Herr Glees, fragte sie mich, und ich antwortete, das war ein sehr alter Mann, er wusste genau, was ihm passieren würde, wenn er seinen Mund aufmachen würde. Und sie guckte mich so an und sagte: Ja typisch Deutsch, den Mund zu halten. Also eine Frau von sehr starken Gedanken, von der Geschichte geprägt, aber sie hat Großbritannien verändert.
Kapern: Anthony Glees, der britische Politikwissenschaftler, über das politische Vermächtnis der "Eisernen Lady". Mr. Glees, vielen Dank nach London für das Gespräch.
Glees: Gerne geschehen.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Margaret Thatcher ist gestern im Alter von 87 Jahren gestorben. Bei uns am Telefon ist der britische Politikwissenschaftler Anthony Glees. Guten Morgen!
Anthony Glees: Guten Morgen.
Kapern: Mr. Glees, muss Großbritannien nun noch einmal ein letztes Mal der "Eisernen Lady" Dank abstatten, oder stünde die Insel heute besser da, wenn Thatcher nie regiert hätte?
Glees: Ich glaube, Dank, Dank, viel Dank. Sie war eine dominierende Figur, weil sie anders war. Sie war eine sehr gescheite Frau, umstritten, auch heute. Gestern Abend zum Beispiel in Brixton haben 300 Leute ihren Tod gefeiert. Es gibt auch Politiker heute Morgen, die sagen, gut, dass sie weg ist, gut, dass die Hexe weg ist. Das ist eine Freiheit, für die Margaret Thatcher selbst kämpfte, eine Freiheit, die sie selbst verstanden hätte. Aber dass sie Großbritannien vom Boden aus verändert hat in den elf Jahren, wo sie Premierministerin war, daran kann nicht gezweifelt werden. Sie war eine Riesenfigur in unserer Politik.
Kapern: Wo würden Sie sie einsortieren im Pantheon der britischen Regierungschefs, ganz nah bei Winston Churchill?
Glees: Ja, genau das. Ich glaube, Winston Churchill und Margaret Thatcher werden in der Geschichte gesehen als die zwei größten Premierminister, die Großbritannien im 20. Jahrhundert hatte, vielleicht die größten Premierminister überhaupt.
Kapern: Nun schreibt die deutsche Zeitung "Handelsblatt" heute Früh, wenn Finanzmärkte ein Raubtier sind, dann hat Margaret Thatcher den Käfig geöffnet. Gemeint ist damit der sogenannte "Big Bang", mit dem der Bankensektor dereguliert worden ist. Zahlen wir also heute nicht doch noch den Preis für ihre Politik?
Glees: Es muss natürlich zugegeben werden, dass nicht alles, was Margaret Thatcher tat, gut war oder richtig war oder vernünftig war. Sie wollte Freiheit in unserem Land aufblühen lassen und Freiheiten können auch zu Unstimmigkeiten, Unfairness führen und falschen Entscheidungen. Sie sprechen von der City of London, das ist schon richtig. Man könnte auch von der deutschen Wiedervereinigung sprechen, die sie ganz falsch fand. Das war auch unrichtig, irrational, durch ihre eigenen Erlebnisse im Zweiten Weltkrieg wohl geprägt. Also nicht alles, was sie tat, war gut getan und richtig. Aber sie ließ sich nicht einschüchtern. Sie ließ sich nicht einschüchtern von Gewerkschaften, die eine Übermacht in den 80er-Jahren in Großbritannien hatten. Sie ließ sich nicht einschüchtern von General Galtieri und den Leuten in Argentinien. Sie ließ sich auch nicht von den Kommunisten in der Sowjetunion einschüchtern. Und sie kam, ja, bewaffnet, aber auch mit Argumenten, und indem sie durchdrang und nie ihre Meinung veränderte. Man könnte die Meinung nicht teilen, man könnte Margaret Thatcher los werden, aber sie ließ sich nicht einschüchtern und ihre Meinung war ihre Meinung und das war ein großer Verdienst. Von wie vielen Politikern kann man heute sagen, besonders in Großbritannien, dass jedermann weiß, was sie denken, was für die Politiker von heute wichtig ist. Margaret Thatcher wollte führen, sie wollte nicht folgen.
Kapern: Aber man könnte, Mr. Glees, die Sache ja auch aus einem anderen Blickwinkel betrachten und sagen, sie war zeitlebens unfähig, dazuzulernen.
Glees: Ich glaube, das wäre unrichtig. Wissen Sie, sie war eine wissenschaftliche Figur. Sie hatte in Oxford die Wissenschaft, Chemie studiert. Sie war von Wissenschaften immer stark beeindruckt. Und auf dem Höhepunkt ihrer Fähigkeiten war sie eben sehr rational. Die Emotionen waren im Hintergrund und die Prinzipien, die sie hatte, die Freiheit, dass Großbritannien eine Rolle in der Welt zu spielen hatte, und auch, dass man in dieser Welt klug sein muss, ja, aber auch tapfer und hartnäckig, auch mit Fragen des Geldes. Margaret Thatcher glaubte, dass man eine starke Währung haben müsste, dass die Inflation, so wie wir sie in Großbritannien heute haben, unmoralisch war, dass gewöhnliche Leute die Chance haben sollten, ihr Haus zu kaufen. Alles das, das waren Grundwerte, bürgerliche Grundwerte, die dazu führten, dass Großbritannien aus dem Sumpf herauskam, den sie vorfand, als sie 1979 nach Downing Street kam.
Kapern: Mr. Glees, Sie haben eben Thatchers Widerstand gegen die deutsche Wiedervereinigung angeführt. Ihr wird das Zitat zugeschrieben: "Ich habe Deutschland so gern, dass ich froh bin, dass es zwei davon gibt." Warum war sie da so sehr auf der falschen Seite der Geschichte?
Glees: Ich glaube, sie hat nie richtig verstanden, dass die Bundesrepublik eben ein anderes Deutschland war mit anderen Deutschen an der Macht. Für sie waren die Deutschen immer zu mächtig, zu groß. Ein Deutschland, das in zwei geteilt wurde, meinte sie, sei weniger gefährlich als ein großes dominierendes Deutschland, vor dem sie wirklich Angst hatte. Und das kam auch dadurch, dass ihre Familie, bevor sie Studentin in Oxford wurde, zwei junge jüdische Mädchen aus Wien in die Familie in Grantham aufgenommen hat. Und mit einem dieser Mädchen war Margaret Thatcher ihr Leben lang befreundet. Und die Geschichten, die sie erzählten über Wien 1938, wo die Nazis einmarschierten, das hat Margaret Thatcher nie vergessen. Ich habe mal mit ihr in der deutschen Botschaft in London über die deutsche Geschichte gesprochen und sie hat mir gesagt, wie empört sie war zu erfahren, dass jemand wie Konrad Adenauer einfach nichts gegen die Nazis im Dritten Reich gesagt hat. Wie war das möglich, Herr Glees, fragte sie mich, und ich antwortete, das war ein sehr alter Mann, er wusste genau, was ihm passieren würde, wenn er seinen Mund aufmachen würde. Und sie guckte mich so an und sagte: Ja typisch Deutsch, den Mund zu halten. Also eine Frau von sehr starken Gedanken, von der Geschichte geprägt, aber sie hat Großbritannien verändert.
Kapern: Anthony Glees, der britische Politikwissenschaftler, über das politische Vermächtnis der "Eisernen Lady". Mr. Glees, vielen Dank nach London für das Gespräch.
Glees: Gerne geschehen.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.