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"Sieben Tage, die Brasilien verändert haben"

Der Leiter des Goethe-Instituts Sao Paulo, Wolfgang Bader, macht die stagnierende Wirtschaft für den Aufruhr in Brasilien mitverantwortlich. Die prompte Dialogbereitschaft der Präsidentin hält er für bemerkenswert. Er sieht ein "ganz neues Phänomen politischer Partizipation und zivilrechtlicher Artikulation."

Wolfgang Bader im Gespräch mit Christoph Schmitz |
    Christoph Schmitz: Mit dem "primavera brasileira", dem "Brasilianischen Frühling", hat es etwas Seltsames auf sich. Zum einen herrscht in Brasilien zurzeit ja gar kein Frühling, sondern es geht in den Winter. Außerdem wollen die Massenproteste, anders als im arabischen Frühling, keine Diktatoren vom Feld räumen, sondern sie machen einer demokratisch legitimierten Regierung die Hölle heiß, einer Regierung, deren Parteien sich selbst über Straßenproteste der Arbeiterschaft und langjährigen Widerstand an die Macht mühsam herangearbeitet haben. Und Präsidentin Dilma Rousseff hat nun auch noch die Flucht nach vorn angetreten und sich selbst zum Kopf der landesweiten Bewegung erklärt. Sie will mit dem Protestwind der Straße im Rücken politische Reformen ansteuern. Eine Verfassungsversammlung soll es richten, abgesegnet von einer Volksabstimmung. - Wie war die Stimmung in Brasilien vor allem unter den Intellektuellen und Kulturschaffenden des Landes vor den Demos gegen Fahrpreiserhöhungen? Das habe ich den Leiter des Goethe-Instituts von Sao Paulo gefragt, Wolfgang Bader.

    Wolfgang Bader: Ja, die Massendemonstrationen, die haben im Grunde alle überrascht, weil erstens Massendemonstrationen dieses Ausmaßes in Brasilien eher unüblich sind. Die letzten, die liegen ungefähr 20 Jahre zurück und hatten mit den Direktwahlen zum Präsidenten zu tun. Ansonsten gibt es eher lokale Demonstrationen, die aber kooperativer Art sind: die Lehrer, die Beamten, auch die Polizei für höhere Gehälter. Das, was jetzt stattgefunden hat, praktisch aus dem Nichts heraus und zu einem ganz konkreten Anlass, ist doch etwas, was viel, viel weiter gegangen ist, als man anfangs dachte.

    Schmitz: Das heißt, es gibt keine Vordenker für diese selbstbewusste Erhebung der Bürger gegen die politische Unkultur der Machteliten?

    Bader: Ja! Das ist auch ein ganz, ganz neues Phänomen. Es ist eine Massenbewegung, die aber noch keine Organisationen oder Führungspersönlichkeiten hervorgebracht hat. Es ist eine Bewegung auch außerhalb der bestehenden Strukturen. Die Straße artikuliert sich in der Politik und man achtet ganz, ganz stark auf diesen Demonstrationen darauf, dass bestehende Organisationen wie beispielsweise Parteien oder Gewerkschaften diese nicht zu ihrer Sache machen, und das ist natürlich ein Problem für die Politik: Mit wem soll sie eigentlich den Dialog führen.

    Schmitz: Auf der brasilianischen Nationalflagge steht geschrieben "Ordem de Progresso", Ordnung und Fortschritt. Mit dem Arbeiterführer Lula da Silva als Präsident hatte Brasilien seit 2002 große soziale Fortschritte gemacht und als Schwellenland hat sich Brasilien längst einen wirtschaftlichen und politischen Führungsanspruch erarbeitet. War der Fortschritt in jüngster Zeit erlahmt und drohte oder droht er, in den alten Sümpfen der Korruption stecken zu bleiben, weswegen es jetzt die Proteste spontan gab?

    Bader: Brasilien hat schon eine bemerkenswerte Entwicklung in den letzten Jahrzehnten hinter sich gebracht, wirtschaftlicher Art, auch politische Stabilität gesehen und so weiter. Aber was man jetzt bemerkt ist: Das Wachstum wird langsamer beziehungsweise geht zurück und die Inflation spielt natürlich eine Rolle. Deswegen ist auch dieser Anlass der Fahrpreiserhöhungen plötzlich so explosiv geworden, und zwar nicht nur in einer Stadt, sondern landesweit. Das heißt, wirtschaftliche Argumente spielen schon eine Rolle, aber ganz, ganz schnell hat sich diese Bewegung in eine andere Richtung bewegt und da kam natürlich auch ein super Weltanlass, dieser Confederations Cup, wo man dann thematisiert hat: aha, wie steht es denn mit dem Proporz der öffentlichen Ausgaben. Das heißt, wir haben eine Bewegung, die in eine Dynamik gekommen ist, auf der Straße und von dem Anlass, der im Grunde geregelt wurde - die Fahrpreiserhöhungen wurden zurückgenommen -, in ein ganz großes politisches Feld eingedrungen ist.

    Schmitz: Was glauben Sie, wie werden sich die aktuellen Ereignisse auf die politische Kultur des Landes auswirken? Wird sich da etwas tun, wird auch in der politischen Kultur Brasilien moderner, demokratischer, offener, gerechter?

    Bader: Die Mehrzahl der Kommentatoren sagt, sieben Tage, die Brasilien verändert haben, es wird nichts mehr so sein wie vorher. Es hat sich hier ein ganz neues Problem erwiesen, nämlich der Dialog zwischen Politik, der institutionalisierten Politik und der Bevölkerung, und das, glaube ich, wird auf lange Sicht auch über die Entwicklung dieses Landes entscheiden. Die Regierung ist jetzt auch ganz, ganz groß eingestiegen mit diversen Pakten, mit diversen Zugeständnissen und so weiter, um – und das ist auch der Tenor – diese Lektion, wie es heißt, auf der Straße aufzunehmen. Die Präsidentin hat eine bemerkenswerte Ansprache gehalten im Fernsehen, hat gesagt, wir hören euch zu, wir sehen diese Lektion und wir versuchen, jetzt diese politische Energie in bestimmte Kanäle zur Verbesserung des Landes zu wenden.

    Schmitz: Ein Satz noch zum Schluss, Herr Bader. Sind Sie optimistisch oder eher skeptisch?

    Bader: Ich bin eher optimistisch. Brasilien ist ein sehr optimistisches Land und das, was sich hier artikuliert hat, ist wirklich ein ganz, ganz neues Phänomen politischer Partizipation und zivilrechtlicher Artikulation, und es ist auch kein Wunder, dass die Präsidentin sagt, okay, wir brauchen ein Plebiszit, um eine verfassungsgebende Versammlung einzuberufen, und diese Versammlung soll auch über weitergehende Partizipation, Bürgerrechte und so weiter entscheiden.

    Schmitz: Wolfgang Bader war das, Leiter des Goethe-Instituts von Sao Paulo, über die Massenproteste in Brasilien.


    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.