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Siegfried. Eine schwarze Idylle

Harry Mulisch gilt als der Doyen der niederländischen Literatur, und er weiß sich auch entsprechend zu geben. Vermutlich hat er schon mehrere Preise als bestgekleideter Niederländer bekommen, das markante Gesicht ist den Holländern vertrauter als das der meisten Politiker, und auch in Deutschland steht er in der Publikumsgunst neben Nooteboom, Palmen, 't Hart und de Winter ganz oben. Ganz offensichtlich hat der Leser weniger Mühe mit großangelegten Romanen als der vielbeschäftigte-ungeduldige Kritiker, und gibt es genug Leute, die ein sorgfältig organisiertes, geistreiches und weit ausholendes Erzählen zu schätzen wissen. Spannungsreiche Genauigkeit kennzeichnet auch den neuen Roman von Mulisch: "Siegfried". Der hat kein geringeres Thema als Hitlers Frau, Eva Braun, Hitlers Sohn, Siegfried, und Hitlers Untergang in Berlin, ein Walhalla-Opernspektakel. Mulisch geht es darum, das Geheimnis um Hitler, seine Unbegreiflichkeit, zu ergründen, und dafür holt er weit aus, wenn auch nur auf 190 Seiten.

Alexander von Bormann |
    Zunächst verkleidet er sich in einen Autor namens Rudolf Herter. Durchsichtig genug: So gut wie alles an diesem erfundenen Autor stimmt mit dem realen überein. Es zeichnet Mulisch aus, dass er so eitel ist, dass er sich keine Eitelkeit leistet. Seine Ich-Figur ist nämlich keineswegs sympathisch gezeichnet, auf Niederländisch würde man selbst sagen: ein 'kreng', ein Ekel. Er macht kluge Bemerkungen, denen er regelmäßig selbst Beifall zollt; er ist sich sicher, dass seine Gedanken so elaboriert sind, dass sie von anderen doch kaum verstanden werden; er erwähnt ausführlich die Ehrungen, die ihm zuteil werden. Wir können das vielleicht als ernste Ironie beschreiben, eine Distanzierungstechnik, die seit Platon und Horaz bekannt ist: "profanum vulgus arceo" - wie hält man sich, zumal im Medienzeitalter, den Anspruch des Volks vom Leibe, ihm zu gehören, gar: ihm Rechenschaft zu schulden. Mulisch gibt uns Zeichen genug, dass die Arroganz, die Überheblichkeit seines Helden auch dieser Abstoßbewegung geschuldet ist. Zugleich steht er auch dazu, dass es die kleinbürgerliche Sozialisation des Dichterfürsten ist, die diesen seinen Erfolg so öffentlich auskosten lässt; man hat es auch anders gekannt:

    In der geschäftigen Halle des Sacher wurde er an der Rezeption freudig überrascht begrüßt, wie jemand, auf den das luxuriöse Hotel schon seit Jahren gewartet hatte. Herter ließ es sich wohlwollend gefallen, doch weil er für sich selbst nie das geworden war, was er nun schon seit Jahrzehnten für die anderen war, dachte er: Das alles gilt einem achtzehnjährigen Jungen, der gleich nach dem zweiten Weltkrieg, unbekannt und arm wie eine Kirchenmaus, versucht, seine Geschichte zu Papier zu bringen. Aber vielleicht, überlegte er amüsiert, ....war er in Wirklichkeit weniger bescheiden, vielleicht verhielt es sich genau andersherum: Vielleicht hatte er sich tatsächlich nicht verändert, doch dann in dem Sinne, dass er für sich schon immer derjenige gewesen war, auch damals schon in seinem Mansardenzimmer mit Eisblumen an den Fenstern.

    Mit dem Großroman Die Entdeckung des Himmels hatte Mulisch den Faustus-Roman von Thomas Mann einzuholen, ja zu überbieten versucht. Er begann mit lockerem Parlando und endete hochmetaphysisch. Der Hitler-Roman hat eine ganz vergleichbare Kurve. Doch geht der Erzähler einen Schritt weiter. Es geht um die Ergründung einer Person, die wirklich gelebt hat, über die es schon Hunderte von Büchern und noch mehr Zeugnisse gibt, und die dennoch, so findet Mulisch-Herter, ihr Geheimnis nicht preisgegeben hat. Der Autor Heiter wäre kein Dichter-Künstler, wenn er den Schlüssel in einem wissenschaftlichen Diskurs suchen würde. Er wird einen philosophischen anbieten: Hitler als konsequenter Nihilist. Aber das wäre - als Diskurs - langweilig, weil seit, Lukács u.v.a. oft genug dargestellt, sozusagen ein Gemeinplatz der Forschung. Der Autor setzt einen darauf und gibt uns seine Lösung des Hitler-Rätsels als existentielle Erfahrung. Zwar war auch das schon da, in Klaus Manns "Mephisto"-Roman zum Beispiel; aber Mulisch überbietet diesen mit einem Erzählprinzip, das höchst geistreich in Szene gesetzt wird. So hatte sich Thomas Mann genötigt gefühlt, der Struktur seines Faustus-Romans selber zu entsprechen und eine "Entstehung des 'Doktor Faustus'" dem Roman hinzuzurügen, sich selbst also der Reihe der Faust-Figuren einzuschreiben. Mulisch verfährt umgekehrt-gleichermaßen: Er setzt die Entstehung des Romans an den Anfang, lässt uns daran als Zeugen teilhaben, und auch seinen Herter lässt er von vornherein existentiell dem Thema verbunden sein. Die mit freundlichen Strichen gepinselte Erfolgsumwelt dient zur Folie eines altertümlichpathetischen Dichtungsverständnisses. Danach erschließt die Fantasie dem Autor jene Bereiche, die der Wirklichkeit zugrunde liegen, Bereiche, die schon Faust nur mit Grausen und nicht ohne Gefahr betrat und aus denen Herter letztlich nicht zurückkommen wird. Es beginnt recht unverfänglich mit der Geburt einer Idee bei einem Interview. Herter hat seine Schwierigkeiten mit dem Begriff Fantasie, den die Journalistin aufs Tapet bringt:

    Er hat so etwas Aktives, als könne man sie mit einem Wasserskifahrer hinter einem knatternden Motorboot vergleichen, während man sich eher einen Surfer vorstellen muss, der passiv und ruhig auf der Brandung reitet und sich von den Wogen führen lässt. [...] Ich will damit sagen, dass eine wie auch immer geartete künstlerische Fantasie weniger etwas ist, das verstanden werden muss, als vielmehr etwas, womit man versteht. Sie ist ein Werkzeug." - Wie ein aufziehendes Gewitter begann in seinem Kopf die Idee Form anzunehmen. "Wenn ich mit meiner Auffassung von Fantasie recht habe, dann muss es, möglich sein, zum Beispiel eine Frau, die für mich ein Rätsel ist, besser zu verstehen, indem man sie mit vollkommen fingierten, extremen Situationen konfrontiert und schaut, wie sie sich dann verhält. Gleichsam in einem Gedankenexperiment - nein, besser: Fantasieexperiment. - Vielleicht darf man so etwas nur mit einem unbegreiflichen Toten machen, den man hasst." "Und so jemanden kennen Sie auch?

    "Hitler", sagte Herter sofort. "Hitler natürlich. [...] Von allen Seiten hat man ihn eingekreist und erforscht, mehr Bücher als über irgendeinen anderen Menschen, doch sie haben uns keinen Schritt weitergebracht. [...] Er ist das Rätsel geblieben, das er von Anfang an für alle war - nein: er ist durch diese Studien immer rätselhafter geworden. All diese sogenannten Erklärungen haben ihn nur noch unsichtbarer werden lassen, worüber er selbst sehr zufrieden wäre. Wenn Sie mich fragen, dann sitzt er in der Hölle und lacht sich tot. Es wird Zeit, dass sich das ändert. Vielleicht ist die Fiktion das Netz, mit dem man ihn fangen kann.


    Mulisch, in der nur sehr nachlässig aufgesetzten Maske des Autors Herter, wendet viel Erzählfleiß daran, den Leser für seinen Weg zu gewinnen: nicht von unten nach oben, also von den historischen Tatsachen zur Bedeutung/ zum Wissen, sondern umgekehrt ginge der Weg der wahren Kunst - von oben nach unten. Er "möchte von irgendeiner fiktiven, höchst unwahrscheinlichen, äußerst phantastischen, doch nicht unmöglichen Tatsache der mentalen Wirklichkeit zur sozialen Wirklichkeit". Wie es sich für einen Thomas-Mann-Verehrer gehört, wird die Frage nach dem Künstlertum, nach der schöpferischen Leistung von Fantasie, gehörig ausgemessen, und wir wissen also, es geht darum, die Wahrheit zu erfinden, damit es sie gibt, hier also die Wahrheit über Hitler.

    Nachdem der Botschafter zu Ende gesprochen hatte, sagte Herter, Hitler sei gerade wegen seiner Rätselhaftigkeit zur dominierenden Gestalt des zwanzigsten Jahrhunderts geworden. Stalin und Mao seien auch Massenmörder gewesen, doch die waren nicht rätselhaft; darum habe man über sie auch sehr viel weniger geschrieben. In der Weltgeschichte hat es zahllose Gestalten wie sie gegeben, und die gebe es immer noch, und es würde sie auch immer geben, doch so wie Hitler sei nur Hitler gewesen. Möglicherweise sei er der rätselhafteste Mensch aller Zeiten. Darum habe auch der Nationalsozialismus in Wirklichkeit wenige oder überhaupt keine Gemeinsamkeiten mit dem vergleichsweise recht unbedeutenden Faschismus Mussolinis oder Francos. Es wäre doch schön, wenn am Ende des zwanzigsten Jahrhunderts das letzte Wort über ihn gesprochen werden könnte, eine Art 'Endlösung der Hitlerfrage'.

    Dieses Thema spinnt Herter auch im folgenden weiter, etwa wenn von Wagners "Tristan und Isolde" und seiner Chromatik die Rede ist - die "letztendliche harmonische Auflösung" komme erst zum Schluss, mit dem erlösenden Tod. Herter bezieht den Wagner-Ansatz auf sein Hitler-Thema und macht eine "harmonische Endlösung" daraus. Fast alle Mulisch-Romane lösen diesen Ansatz in leicht-verquerer Weise ein, glauben sozusagen noch an die 'große' Erzählung, welche erst von der Ideologiekritik, dann von der Postmodeme so hart angegriffen wurde: als geschichtsphilosophische Klitterung und metaphysische Wahnidee. Mulisch trägt der Kritik halb-ironisch (?) Rechnung, indem er seinen Autor Herter gehörig Strafe und Buße für sein Werk erleiden lässt. Auch das folgt dem Mannschen Ansatz im "Doktor Faustus". Dazu gehört ebenso die taktvolle Technik, von einem Großen aus einer geringeren Perspektive zu erzählen, etwa der des Assistenten/Famulus (Wagner) oder des Kammerdieners. Der nun findet sich auch hier, gelingt es Herter doch regelmäßig, wie der Botschafter gleich zu Anfang konstatierte, "die Wirklichkeit nach seinem Wunsch zu gestalten".

    So taucht nach der Lesung in der Nationalbibliothek ein altes Paar auf, das Herter etwas Wichtiges mitteilen möchte, und er verabredet sich mit den Beiden für den nächsten Nachmittag. Es ergibt sich etwas Unglaubliches: Ullrich Falk und seine Frau Julia haben bis 1944 verantwortlich im Haushalt von Adolf Hitler und Eva Braun auf dem Berghof in Obersalzberg gearbeitet, also so intim wie halt möglich am täglichen Leben des Führers teilgenommen. Hiervon wollen sie nun, am Ende ihres Lebens angekommen, einem Zeugen berichten. Ihre Wahl fiel auf Herter, weil sie gegen Ende des Krieges in die besetzten Niederlande abkommandiert waren, zu Seyß-Inquart, für den Herter - versteht sich - höchst sarkastische Bemerkungen übrig hat. Die Erzählung führt nun in die Hitlerzeit zurück, der Autor Herter-Mulisch hat es sozusagen bequem: Er braucht sich nichts mehr auszudenken, die Wirklichkeit hat sich ihm einmal wieder gefügt. Gleichwohl bleibt es ein gefährliches Terrain, auf das er sich nun begibt; nicht ganz unvergleichlich - so wünscht Mulisch es zu sehen - dem Berghof, auf den die Falks seinerzeit verbracht wurden.

    Im Büro angekommen, mussten sie einen Eid auf den Führer ablegen, in dem sie schworen, alles, was sie auf dem Berghof hörten oder sahen, geheim zu halten; auch ein Tagebuch zu führen, war ihnen untersagt. Für den Fall, dass sie diesen Eid brachen, erwartete sie bestenfalls das Konzentrationslager. Diesen Eid wird er jetzt also nach über sechzig Jahren brechen, dachte Herter. Er sagte nichts, doch Falk hatte seine Gedanken gelesen: "Ich weiß nicht, ob ein Eid auch über das Grab hinaus Gültigkeit hat. All diese Menschen sind inzwischen tot, und vieles ist sowieso bereits bekannt. Aber nicht alles." Falk suchte nach Worten. "Ich weiß nicht, ob so etwas möglich ist, aber wir würden uns wünschen, dass Sie den Eid von uns übernehmen. Jedenfalls für die kurze Zeit, die uns noch bleibt, danach können Sie tun, was Sie wollen. Es geht um etwas, das wir nicht mit ins Grab nehmen möchten."

    "Das mache ich", schwor Herter mit erhobenen Fingern - wobei ihm klar wurde, dass er sich jetzt auf satanisches Gebiet begeben hatte: Ein Eid verband ihn mit Falk, wie er Falk mit Hitler verbunden hatte.


    Es wird sich gegen Ende des Romans erweisen, dass dieser Gedanke eine Schlüsselstellung für die Interpretation seines Ausgangs hat. Wir sind gehalten, an den Eid zu denken, mit dem sich Faust an Mephisto band, auch 'nur', um etwas mehr als die anderen zu wissen. Es wird die Frage sein, ob wir auch jetzt wieder eine "Stimme von oben" erwarten können, die ihr "Gerettet" in den leiblichen Untergang der Hauptperson spricht. Mythische und intertextuelle Bezüge grundieren die leicht und spannend gehaltene Erzählung von Mulisch, der sich jetzt sozusagen mit Herter zurücklehnt und im wesentlichen die beiden Alten berichten lässt. Es ist auch unglaublich genug, was sie zu erzahlen haben. Der vielfach gestaffelte, kunstvoll mit leichter Hand entworfene Rahmen soll die Glaubwürdigkeit verbürgen. Wir bekommen nun Innensichten aus dem Zentrum des Berghofs, und Mulisch hat - wie immer - gut gearbeitet: Er ist so genau informiert, gerade auch über alle möglichen Kleinigkeiten, dass wir nicht zögern, den Bericht der Zeugen als authentisch zu nehmen, ihm höchste Glaubwürdigkeit zuzuerkennen. Mit Hilfe seiner Zeugen, die Hitler aus nächster Nähe beobachten konnten, macht sich Herter an eine Deutung der, wie er findet, dämonischen Figur. Das ist nicht unproblematisch und wahrscheinlich die Schwachstelle des Romans. Mulisch findet Hitler Unbegriffen, ja unbegreiflich. Er macht diese Position möglichst stark, damit, wenn eine Lösung auftaucht, diese umso großartiger herauskommt. Dabei ist, was er zu bieten hat, nicht viel mehr als die gute, alte, oft genug vorgetragene Nihilismus-These.

    Herter/Mulisch deuten Hitler also als "die Vergöttlichung dessen, was nicht existiert", sind also der Mephisto-These von Klaus Mann dicht auf den Fersen. Im Unterschied zu anderen dämonischen Gestalten der Geschichte wie Nero, Napoleon oder Stalin bestand Hitlers Wesen, so die akklamierte Einsicht, "in der Abwesenheit eines Wesens". Mulisch knüpft hieran eine interessante, weitreichende Erzählthese: Wenn das Fehlen eines 'wahren Gesichts' der wahre Charakter von Hitler war, so kann auch ein Deutungs-, ein Schreibversuch über ihn nur dann erfolgreich sein, "wenn es ihm nicht gelang, sein enthüllendes Phantasma zu schreiben". Hitler wäre ihm, dem nachsetzenden Deuter, wiederum entkommen. Mulisch setzt das höchste Pathos in diese Passage, die den überraschenden Schluss bestimmen wird:

    Herter erschrak über sich selbst. In welche Regionen begab er sich? Trieb er es nicht zu weit? Es drohte Gefahr. Doch er durfte jetzt nicht zurückschrecken, er spürte, dass es jetzt oder nie gelingen würde, was auch immer passierte, es war ihm gleich; wenn es jemanden auf Erden gab, der dazu in der Lage war, dann er. "Vielleicht bin ich deshalb auf der Welt", hatte er vorgestern zu Maria gesagt - als wäre auch er ein Gesandter aus dem Ganz Anderen... Die Mythisierung Hitlers - als Gesandter nihilistischer Göttlichkeit - geht also Hand in Hand mit der anteilhaften Mythisierung des Erzählers. Das darf nicht mit neueren metaphysikkritischen Theorien verwechselt werden, ist eher deren Gegenteil. Die Leere ist offensichtlich doch nicht die Leere, sondern ein Etwas, vor dem man sich entsetzen kann.

    Zunächst wendet sich die Erzählung jener Erfindung zu, von der ganz am Anfang die Rede war. Da hatte der Autor beim Interview den Vorschlag gemacht, etwas Unbegreifliches wie Hitler in einem Gedanken-, genauer einem Fantasieexperiment zu fangen, die Rätsel-Figur mit vollkommen fingierten, extremen Situationen zu konfrontieren und zu schauen, wie sie sich dann verhält. Diese Erfindung bestimmt weitgehend die zweite Hälfte des Romans: Mulisch lässt Hitler und Eva Braun einen Sohn haben. Da das politisch unmöglich ist - Hitler gehört allen deutschen Frauen -, wird der heimlich geborene Sohn Siegfried den Falks unterschoben, kann also in der direkten Nähe seiner leiblichen Mutter aufwachsen. Es ist ein munterer, geistvoller kleiner Junge, der da in dieser sehr absonderlichen Umgebung heranwächst, in der sog. Reichs-Kristallnacht geboren. Mulisch wuchert auch hier mit seinem Pfunde: Kleine Knaben kann er besonders anrührend darstellen - man denke an Quinten in der "Entdeckung des Himmels". Schließlich hat er sie auch privat - als Vater und als Großvater zugleich - vor Augen. So wird der Leser durchaus für Siggi eingenommen, wie Hitler übrigens auch, und ist schockiert, als er lesen/hören muss, dass Hitler 1944 die Ermordung seines Sohns befahl. Dem Pflegevater Ullrich Falk wird die Exekution auferlegt, er hat keine Wahl und erschießt ihn. Gegen Ende des Romans, das in die Keller des Berliner Führerbunkers führt, wird deutlich, dass diesem grauenvollen Beschluss eine Intrige zugrunde lag. Heinrich Himmler hatte die Akten von Eva Braun gefälscht und ihr eine nichtarische Großmutter unterstellt. So wäre der kleine Siegfried "ein jüdischer Bastard" gewesen, eine Vorstellung, die Hitler augenblicklich zum Befehl der Ausmerzung motivierte. Eva Braun versöhnt sich 1945 mit dieser Unmenschlichkeit, weil der Sohn dann ohnehin mit in den Tod hätte gehen müssen. Mulisch verlässt in diesen Szenen den Bericht der Falks, sondern erzählt sozusagen ungebrochen/ gleichzeitig zur Handlung, was die Intensität steigert. In dieser Erzählschlinge - der gemordete Sohn - meint Mulisch also Hitler gefangen zu haben - als einen Abraham, den kein Gottesruf vom Sohnesmord abhält. Leere Transzendenz und die Verkehrung von Opfer in Mord hängen zusammen. Ob die großen Anstalten, ob das Fantasieexperiment mehr bringt, als wir letztlich wissen - wer hätte Hitler keinen Sohnesmord zugetraut? - sei dahingestellt.

    Als Rudolf Herter ins Hotel zurückkommt, ist er angegriffen, spricht aber noch einige Gedanken in sein Diktaphon. Die umkreisen vor allem die Denkfigur, Hitler als einen Niemand zu fassen bzw. ihn gerade deshalb nicht fassen zu können:

    Hitlers Chef des Wehrmachtführungsamtes, Generaloberst Jodl, hat einmal gesagt, der Führer sei für ihn immer ein Buch mit sieben Siegeln gewesen. Ich habe diese Siegel heute zerbrochen. Es stellt sich heraus, dass dieses Buch ein Blindband mit lauter leeren Seiten ist. Er war der wandelnde Abgrund. Das letzte Wort über Hitler lautet "nichts". Die unzähligen Studien über seine Person verfehlen ihr Thema, weil sie sich mit etwas beschäftigen und nicht mit nichts. Es war nicht so, dass er niemanden an sich heranließ, wie alle sagen, die ihn persönlich erlebt haben, sondern da war nichts, an das sie herangelassen werden konnten. Nein, vielleicht sollte ich es andersherum ausdrücken. Vielleicht muss man es so verstehen, dass das Vakuum, das er war, sich mit anderen Menschen vollsog, die dadurch ebenfalls vernichtet wurden... Das Ganze erinnert an ein Schwarzes Loch.

    Mulisch scheint einer zeitgenössisch-metaphysikkritischen Deutung auf der Spur, wenn er dieses Nichts als ein Bündel von Prädikaten ohne Subjekt zu fassen sucht. Doch sind diese Denkrichtungen an ihm eher vorbeigegangen; er hält sich an die älteren Traditionen einer Negativen Theologie, wo auch das Nichts wieder eine Gestalt, eine Wesenheit wird. Er deutet Hitler allen Ernstes als Wiederverkörperung Nietzsches. Hitler, am 20. April 1889 geboren, wurde folglich im Juli 1888 gezeugt, "genau in dem Moment, als Nietzsches Verfall begann".

    Vielleicht hat er doch zu viel mittelalterliche Philosophie gelesen, auch scheint ja 'substantielles' Denken wieder angesagt - es gibt einige entsprechende Strömungen. Seine Frau fragt den rastlos spinnenden Dichter-Philosophen Heiter sozusagen aufklärerisch:

    Aber wie hängt das alles zusammen? Wie soll ich mir das alles vorstellen? Was soll ein Fötus im Bauch einer österreichischen Frau mit dem mentalen Zustand eines Mannes in Italien zu tun haben? Das ist doch mehr als verrückt!" "Das ist es auch, das ist es auch", sagte Heiter, heftig mit dem Kopf nickend, "und dennoch ist es so. Es liegt doch auf der Hand. Das ist ein groteskes Wunder. Er ist nie ein unschuldiger Säugling gewesen, schon als Fötus war er ein Mörder, und in gewisser Weise ist er immer dieses mordende Ungeborene geblieben." Etwas ruhiger fuhr er fort: "Ist dir überhaupt klar, worüber wir reden? Es geht hier um das Schlimmste des Schlimmen. Und das einzige, was ich mir ausdenken kann, ist, dass wir es bei Hitler mit einer Art Meta-Naturphänomen zu tun haben - vergleichbar mit dem Meteoriteneinschlag während der Kreidezeit, der die Dinosaurier aussterben ließ. Mit dem Unterschied, dass er kein außerirdisches Wesen war, sondern eines von außerhalb des Seins: das Nichts.

    Mulisch lässt seinen Helden sehr weit gehen, alles mit der These, man müsse über Hitler ebenso schonungslos zu denken wagen, wie er gehandelt hat - er habe das von Nietzsche gelernt. Dann folgt ein Satz, der zeigt, dass die Autorfigur sich ihrem Gegenstand Hitler tiefer verbunden wissen will, als bekömmlich ist. Nietzsche sei auf dieselbe Weise vor Hitler gewesen, wie Herter nach ihm sei. Die Faszination Herters durch Hitler wird schließlich durch den Tod besiegelt. Ein genialer, zugleich erprobter Schachzug von Mulisch: Seinen Helden sterben zu lassen, bevor der sein Geheimnis der Welt verraten kann. So hatte er auch in "Die Entdeckung des Himmels" kurzerhand einen Meteor auf seinen Helden Max fallen lassen, als dieser das große Geheimnis der Schöpfung zu enträtseln drohte; wohlgemerkt nachdem viele hundert Seiten in ihn investiert waren. Herter stirbt mit dem Diktaphon in der Hand, als er das Geheimnis Hitlers, das als ein metaphysisches präsentiert wird, zu lüften droht. Seine letzten Worte, auf dem Band aufgezeichnet, lauten: "Er... er... er ist hier", was Hitlers erschreckten Ausruf in dessen Alptraum-Nacht wiederholt.

    Es bleibt also bei der Denkfigur der Leibhaftigkeit des nichtenden Nichts, gekrönt von der heroisch-mythischen Vorstellung, dass man für die Schuld der Erkenntnis zu zahlen habe. Mulisch verschließt die Erkenntnis der Wahrheit Hitlers in seinen toten Helden. Doch da wir als Leser ihm auf der Fährte bleiben durften, haben wir Anteil daran. Ob es auch uns - wie Herter - den Einsatz des Lebens wert wäre, Hitler philosophisch zu begreifen, mag dahingestellt bleiben. Herters Selbst-Opfer deutet auch eine Grenze des Verstehensanspruchs an. Das gehört so zur Literatur und ihrer Lieblingspraxis, dem Mythisieren. Ob dieses dem Thema gewachsen ist, das wird mit dem Tode Herters durchaus zweifelhaft gemacht. Auch durch das verdeckte Pathos, das im fiktiven Hitlerzitat "Er...ist...hier" wabert. Da das Ganze höchst unterhaltsam und geistreich angerichtet ist, folgt man dem Roman aber gern bis an das makabre Ende.