Die drittgrößte der dänischen Inseln ist Fünen. Auf einer Lichtung im dichten Wald, zwischen dem Fährschiffanleger in Bøjden und dem Städtchen Svendborg, steht ein Forsthaus, großzügig und massiv gebaut. Die niedrige Gartenpforte mit hellblau angestrichenen Holzbalken bildet eine kaum erkennbare Lücke in der grünen Hecke. Dort empfängt mich Ulla Lenz. Siegfried Lenz, der Meistererzähler, hat hier gewohnt. Die beiden hatten 2010 geheiratet, vier Jahre nach dem Tod seiner Frau Liselotte. Ulla war Lilos Freundin, sie stand ihm in schwerer Zeit zur Seite.
"Das ist das Försterhaus, vom Schloss da oben. Kommen Sie rein! Es sind ganz viele Stufen! Was kann ich für sie tun?"
Nach der Türschwelle laufe ich über helle Spannteppiche. Bücher, überall Bücher, auf Sofas und in Regalen: "Siegfried, Siegfried überall!"
"Sie betreten das Haus und sehen es von vorn", erklärt Ulla das Motiv auf dem großen farbigen Wandbild. Zahllose Bilder, Fotos, ein schwarzer Flügel, daneben: "Der Überläufer", eine hohe, dicke Sonderausgabe des von Siegfried Lenz 1951 geschriebenen, doch erst jetzt veröffentlichter Romans. Der Dank des Verlages! Ulla Lenz hatte im Sommer 2015 bei der Übergabe des literarischen Archivs an das Deutsche Literaturarchiv in Marbach das Manuskript mitaufgefunden, die Kapitel zusammengestellt und den Roman an den Verlag gegeben.
Vier Jahre lebten Siegfried und Ulla Lenz in dem ehemaligen Forsthaus
Auf der offenen Terrasse hinter dem Haus, unterhalb seines Arbeitszimmers, nehmen wir Platz. Links und rechts zwei kugelrund geschnittene Büsche.
"Möchten sie ein Bierchen, ein dänisches, von der Insel hier drüben: Ærø?" Ulla läuft zurück ins Haus. Ich schaue auf den von einem Laubwald umrahmten Rasen, der leicht abfällt, ehe er hinter einer Senke ansteigt. Vier Jahre lebten Siegfried und Ulla Lenz in dem ehemaligen Forsthaus auf Fünen, im Wechsel mit seinem Haus in einem Hamburger Vorort.
Ulla Lenz beschreibt das Auffinden des Romans "Der Überläufer", dann zeigt sie mir im Atlas den Weg zum einstigen Sommerhaus auf der Insel Alster. Dort wie hier habe er am Fenster einer Stube im Obergeschoss geschrieben und geschrieben. Der aus einer masurischen Kleinstadt stammende Lenz mochte die Ruhe, die Gegend und ihre Bewohner. Er war der "deutsche Däne". "Er hatte ja auch seine masurische Sprache, vor allem mit "…chen". Ich hieß auch nur Ullachen."
Ich solle mir das Fischerhäuschen auf Alster, in dem Siegfried und Lilo Jahrzehnte verbrachten, ansehen, rät Ulla. "Ich war neulich da und dort müsste die Hecke dringend geschnitten werden! Es ist eines von diesen Wegen hinunter. Das ist die Mühle von der 'Deutschstunde', die liegt hier, also das war sein Nachbar sozusagen."
"Er hatte ja nichts, kein Telefon, kein Fernsehen"
Das Vorbild: die Düppeler Mühle, eine Holländerwindmühle auf einem künstlichen Hügel. Der Roman von 1968 um Schuld und Pflicht im Nationalsozialismus und den Maler Emil Nolde spielt, ausgehend von einem grenznahen Dorf in Schleswig-Holstein, auch in dieser Landschaft.
"Immer geradeaus und da ist ein Hof und da wohnte die Miene. Das ist die Nachbarin und sie sprach immer im Falsett, da ganz oben, und dann kam sie rüber: "Lenz, Lenz, der Bundeskanzler am Telefon! Sie hatte Telefon. Er hatte ja nichts, kein Telefon, kein Fernsehen. Ein Radio hatten sie, sonst nichts. "
Wir beugen uns über den im Atlas aufgeschlagenen Landkartenausschnitt: Und das ist ja das zweitletzte Haus. Unten liegt ein Hof, das war der Nachbarhof von denen. Hier unten hat er sein Boot und ein Bootshäuschen. Hat Siegfried Lenz von seinem Sommerhaus das Höruper Haff, den Nebenarm der Flensburger Außenförde, sehen können? Ja von oben. Er hatte ja das "Feuerschiff" oben gesehen. Da war nur so ein kleines Schlafzimmerchen und ein großer Balkon draußen und da konnte er raussehen.
"Von meinem Fenster sehe ich weit draußen auf der Bucht den brandroten Rumpf eines Feuerschiffes: Ansteuerungspunkt für die Schifffahrt, ein Symbol der Sicherheit […] Ich versuchte, mir einen Konflikt zwischen unbewaffneter und bewaffneter Macht auf dem Feuerschiff vorzustellen", erinnerte sich Siegfried Lenz.
Überall Lenz: Bücher, Bücher, Bücher
"Er war ja immer unten am Wasser. Er hat geschrieben. Klopfen sie an der Tür, das ist ein ganz kleines Haus mit der Vorderfront zur Straße mit einer hohen Hecke. Die haben einen kleinen Anbau links am Haus gemacht. Das war sein Zimmer. Da hat er gesessen und geschrieben. Hat er mir erzählt! Ja, wir sind vorbei gefahren, nachher. Zusammen. Ach, ja."
Ich habe ein Exemplar seiner 2008 veröffentlichten Novelle "Schweigeminute" dabei. Lenz hat sie Ulla gewidmet. Ulla Lenz schreibt einen herzlichen Gruß hinein. 20, 30 Seiten waren fertig als seine Frau Lilo 2006 starb. Der Text blieb liegen. Doch dank Ulla ging es Wort für Wort weiter. Er schrieb auf, sie tippte ab. "Ja, ich hab’s abgetippt! Ich hab’s nie gelernt. Also, das war mit unendlich vielen Fehlern, aber sie haben’s geschafft im Verlag."
Vor meinem Abschied führt mich Ulla Lenz durch ihr Haus, die Treppe hinauf zum Arbeits– und Schlafzimmer. Auch hier überall Lenz: Bücher, Bücher, Bücher. Manche wurden ihm zugeschickt. Der Schreibtisch am Fenster mit Tabak, Pfeifen und Zündhölzern. All das werde ich später, im Museum in Jütland ähnlich wiederfinden.
Von der Gartenpforte winkt sie mir nach. Ihre hellwachen Augen, ihre Gastfreundschaft mir, einem Unbekannten, gegenüber haben mich beeindruckt. Der schmale Weg schlängelt sich zurück in die offene Landschaft mit sanft-hügligen Feldern, Baumgruppen und Dörfern. Weit öffnet sich der Bug der Fähre. Sie nimmt Fahrzeuge und Passagiere auf, verlässt pünktlich um Eins den westlichen Hafen auf Fünen und nimmt Kurs auf Alster. Von Insel zu Insel!
"Alle Häuser haben Rosen. Das ist so Sitte"
Hinter Laubbäumen und Hecken lugen die wenigen Wohnhäuser heraus. Das "selbstbewusste Grün der Rüben", das Lenz 1960 erlebte, ist längst dem Gelb von Getreide gewichen: "Und das ist ja auch arbeitsintensiv mit Rüben, ja."
Nach Lebølløkke führt ein holpriger Feldweg von der Landstraße hinab in Richtung Wasser. Dann stehe ich vor dem hell verputzten Sommerhaus. Es ist still hier. Die Hecke ist frisch geschnitten, die Eingangstür seit einiger Zeit einem mit blauen, maritimen Motiven beklebten Fenster gewichen. Jetzt geht es von der rechten Seite hinein. Zwischen den beiden Vorderfenstern ein kräftiger Stamm rotblühender Rosen. Ich habe Ulla Lenz‘ Worte noch im Ohr: "Alle Häuser haben Rosen. Das ist so Sitte. Man möchte das gern zeigen, wie hübsch es hier ist. Das ist auf Fünen und auf Alsen. Das ist so allgemein, man möchte gerne zeigen, dass es schön ist."
Links der spätere, flache Anbau, das Wohn- und Schreibzimmer, vorher hatte Lenz, selbst bei sengender Hitze, im oberen Stübchen gehockt, den Blick in Richtung Wasser. Ich begreife, dass er "von dem liebenswerten Wunderland Alsen" schrieb, "Inselhöflichkeit" und "Gastlichkeit" genießend, in ein anderes "Zeitgefühl" eintauchend.
Knapp 40 Kilometer weiter, über Sønderborg, an der Flensburger Förde finde ich – kurz vor der deutschen Grenze - "Binds Restaurant". Ulla Lenz hatte mir auch diesen Weg beschrieben: "Und sie müssen dafür sorgen, dass sie auch mit Herrn Bind, also mit dem Christian (sprechen), denn er ist ja aus dem Elsass und die sind ja zweisprachig."
Pia ist Dänin, Christian aus dem Elsass. Hinter der Patriziervilla haben Sie elegant und unauffällig die helle Küche angebaut. Essen mit Aussicht! Für Gourmets, zu denen Siegfried Lenz zählte, wie für aufstrebende Meisterköche, denn Christian arrangiert auch Kochkurse. Pia Bind begrüßt mich herzlich per "Du", weist zu ihrem Auto, sagt, sie seien gestern aus dem Urlaub zurückgekommen und hätten eben erfahren, dass unweit, in der Hochschule eine "Jütländische Kaffeetafel" veranstaltet werde. Dort sollten wir jetzt vorbei schauen. 1981 hatte Lenz seinen "Kummer mit jütländischen Kaffeetafeln" niedergeschrieben. Daran erinnere ich mich. Mir kommt ein "Oh Gott, oh Gott" über die Lippen. Pia lacht: "Nur mal anschauen".
"Und das ist auch ja sehr lustig, dass es ein Deutscher ist, der das geschrieben hat über uns! Das ist ja toll! Aber er war ja sehr viel in Dänemark, auch auf Alsen, woher ich komme." Das erklären mir Nina Kjaerhus und Gitte Johansen in der Mensa der Rønshoved Højskole, einer Volkshochschule. Lenz beschrieb nicht woher diese Tradition stammt. Die Jütländische Kaffeetafel war vor circa 160 Jahren während der deutschen Besatzungszeit verbreitet, als es keinen Alkohol geben durfte, Versammlungen, Tanz und manch' anderes verboten war.
"Und das ist auch ja sehr lustig, dass es ein Deutscher ist, der das geschrieben hat über uns! Das ist ja toll! Aber er war ja sehr viel in Dänemark, auch auf Alsen, woher ich komme." Das erklären mir Nina Kjaerhus und Gitte Johansen in der Mensa der Rønshoved Højskole, einer Volkshochschule. Lenz beschrieb nicht woher diese Tradition stammt. Die Jütländische Kaffeetafel war vor circa 160 Jahren während der deutschen Besatzungszeit verbreitet, als es keinen Alkohol geben durfte, Versammlungen, Tanz und manch' anderes verboten war.
"Das ist selbst mit dem stärksten Kaffee nicht zu schaffen!"
"Es ist von 1864 bis 1920, da war es ja verboten, Sammlungen zu haben, Alkohol zu trinken. Die Deutschen haben ‚Nein‘ gesagt und dann hatten die Leute etwas anders herausgefunden. Sie haben da rausgefunden, ah, wir machen ein Fest! Du kommst mit einem Kuchen und du, und du und du und zusammen das hier."
In dieser Not tranken die Jütlander Kaffee, nahmen ihre Backreste, Reis, oder Roggenbrot und formten daraus Kuchen für einen "geselligen Abend". Die heutige Tafel ist 17teilig: Kuchen, Torten (eine zwölflagig), flache Plätzchen. Selbst mit dem stärksten Kaffee nicht zu schaffen! Auch wenn später erzählt, gesungen, getrunken und gegessen wird, wie es Brauch ist bei einer jütländischen Kaffeetafel. "Du solltest von jedem etwas kosten! Man soll von jedem ein Stück nehmen."
Das wird mir jetzt doch zu heiß. Siegfried Lenz fragte seinerzeit, ob man "nicht zumindest einen Gang in der rituellen Kuchenschlacht ersparen könnte" – er wurde nicht gehört!
Es nahm einfach kein Ende: "Stopfkuchen, mehr Stopfkuchen. Hier beginnt eine Verwandlung, denn hier kommt ja Sahne drauf. Dann kommen die Großen. Die Torte hier ist die allerbeste, aus Schwarzbrot gemacht und dann kommen hier die Kleineren. Hier, zuletzt, hat man "Ärger". Das ist ein Ärgerkuchen. Denn man sagt, jetzt hast du alles hier gegessen und dann, zuletzt, die zwei. Das hier, du sagst nein, ich kann nicht mehr: Ärgerlich, du musst einen Ärger nehmen und das hier ist gar nichts und dann sagst du auch, ich kann jetzt wirklich nicht mehr! Doch, das ist ja ‚gar nichts‘! Dieser Kuchen hier heißt ‚gar nichts‘. Das ist das Ende. Man darf nicht kneifen. Das darf man nicht, das ist unhöflich!"
Zurück im Gartenrestaurant Bind. Den halbrunden Vorbau der Villa zur Flensburger Förde hin umkränzen rosafarbene, bodenbedeckende Moosröschen. Sie säumen den Wegesrand zur eisernen Gartenpforte in der Mitte der grünen Sträucherhecke. Auf der Rasenseite wächst Lavendel. Wir steigen hinauf in das Anfang 2016 eröffnete Zimmer mit vielen persönlichen Dingen des Dichters. Ulla Lenz richtete es mit Pia und Christian Bind ein. "Und das ist gut, viel Arbeit, aber das ist gut geworden, glaube ich, meine Nichte hat das geschrieben, sie hat etliche Schreibfehler auf Deutsch, aber sie übersehen das großzügig, nicht. (Lacht). Das waren die Möbel aus dem Wohnzimmer", hatte Ulla gesagt. Ich nehme mit Pia und Christian Bind Platz im schlichten Museumszimmer:
"Dann setzen sie sich hier. Das ist Siegfrieds Tisch. Und diese Möbel sind aus Siegfrieds Sommerhaus. Die Pfeife müsste jetzt noch rauchen, fast wie zuhause, habe Lust hier zu sitzen. Abends, wenn ich fertig, bin, mach‘ ich immer eine halbe Stunde Papierarbeit. Das ist der Tagesplan für morgen. Da sitz‘ ich immer hier!"
Fotos, Bücher, der Arbeitstisch am Fenster, natürlich mit Blick auf ’s Wasser und natürlich mit seinen Tabakdosen und Pfeifen. Bücher auf Deutsch und Dänisch, die Bildunterschriften zweisprachig, der Artikel einer dänischen Zeitung. "Also die Gäste kommen hier hoch und schauen ein bisschen und lesen und so, sehr bekannt, kleiner Mann in der Höhe, aber großer Mann in der Welt!"
Ein Dichter las vor 40 Gästen eines Restaurants
Der Verlag fand das unglaublich: Ein Dichter, der große Säle füllen würde, las vor 40 Gästen eines Restaurants: "Da sitzt er da, an dem kleinen Tisch da und am Wasser hier und spricht ein paar Geschichten, die er selbst ausgesucht hat. Das ist super, ist groß, wenn man sowas sieht."
Siegfried Lenz, erinnert sich Sternekoch Christian Bind, aß gern Fisch, vor allem Steinbutt, und schaute ihm zu. "Du darfst nicht rauchen hier und in der Küche da war ein kleiner Fahrstuhl. Dort haben wir einen Stuhl hingestellt und dann saß er dort. Haben die Tür zugemacht, hat er seine Pfeife geraucht. Da haben wir gesprochen." Pia zeigt auf das dunkelrote Sofa an der Seitenwand zum Fenster hin und erklärt, hier könne Ulla übernachten wenn sie es wolle: "Wenn Ulla fährt, von Hamburg nach Fünen, dann kann sie eine kleine Pause hier machen und dann kann sie auf Siegfrieds Sofa schlafen. Dann braucht sie nicht so lange zu fahren."
Zum duftenden Kaffee reicht Pia ein Stück lockerer Schichtentorte mit Schwarzbrotteig, Sahne, knackigen Schokostückchen, roten und schwarzen Johannisbeeren und einen Kranzkuchen mit zimtiger, marzipanartiger Füllung, Rosinen und Nussplättchen. Selbstgebacken! Ein Zehntel der üblichen jütländischen Kaffeetafel!