Archiv

Sigmar Gabriel (SPD) zur US-Wahl
"Wir Europäer haben auch ein paar Hausaufgaben zu machen"

Die Europäer zeigten gern mit dem Finger auf die USA, sagte der ehemalige Außenminister Sigmar Gabriel (SPD) im Dlf. Dabei müsse Europa selber Verantwortung übernehmen. Auch mit einem US-Präsidenten Joe Biden werde es kein Zurück in die "guten alten Zeiten transatlantischer Beziehungen" geben.

Sigmar Gabriel im Gespräch mit Friedbert Meurer |
Sigmar Gabriel (SPD), Vorsitzender der Atlantik-Brücke e.V., bei einer Pressekonferenz in Berlin
Sigmar Gabriel ist Vorsitzender der Atlantik-Brücke (picture alliance/ dpa/ Britta Pedersen)
Endspurt im Wahlkampf in den USA: Am 3. November wählen die Vereinigten Staaten von Amerika einen Präsidenten. Kaum ein Präsident hat je so viel Kontroversen hervorgerufen hat wie Donald Trump. Herausforderer Joe Biden von den Demokraten gilt laut Umfragen derzeit als Favorit. Da der US-Präsident aber nicht direkt gewählt wird, sondern über Wahlmänner, sind Umfragen schwierig zu bewerten.
Sigmar Gabriel war Bundesaußenminister und SPD-Vorsitzender und ist jetzt Vorsitzender des Vereins Atlantik-Brücke. Im Interview mit dem Deutschlandfunk betonte er, Europa werde eine neue Rolle einnehmen müssen, auch im Bereich der Verteidigung, da die USA ihre ganze politische, militärische und wirtschaftliche Kraft auf den Indopazifik konzentrieren wollten. "Das werden wir auch unter Biden erleben, und das ist für Europa eine neue Rolle, die wir bisher nicht kannten."
Wahlbehinderung in den USA - Die Strategie der Republikaner
Die Republikaner haben in diesem US-Wahlkampf alles versucht, um den Aufwind der Demokraten zu stoppen. Wahlbehinderung sei eine Spezialität der Republikaner, sagen Historiker.
Friedbert Meurer: Glauben Sie, es gibt eine Entscheidung Mittwochmorgen?
Sigmar Gabriel: Das ist leider nicht von meinem Glauben abhängig. Es spricht manches dafür, dass eine Situation entstehen kann, in der die ausgezählten Stimmen des Tages für Donald Trump sprechen, aber dann jeden Tag ein bisschen mehr die Briefwahlen dazu beitragen, dass am Ende Joe Biden gewinnt. Genau das ist das Szenario, vor dem alle Angst haben, weil dann alles Mögliche denkbar ist. Trump hat ja seit vielen Wochen die Briefwahl versucht zu delegitimieren, sagt, das ist dann alles Fälschung, um ein Argument zu haben, die Wahl nicht anzuerkennen, und dann wäre die USA mitten drin in einer Verfassungskrise. Man kann nur hoffen, dass das nicht passiert.
"Im Extremfall wird dann eine Woche lang gezählt"
Meurer: Es hat wieder entsprechende Äußerungen von Donald Trump gegeben. Es gibt sogar das Gerücht, er könnte Dienstagabend sich schon zum Wahlsieger ausrufen. Der Hintergrund dafür wäre ein Szenario, wonach bei den ausgezählten Stimmen in dem einen oder anderen Staat Trump vorlegt, und dann dauert es Tage, bis das Briefwahlergebnis kommt.
Gabriel: Ja, weil es in diesem Fall erstens viel, viel mehr Briefwahlen gibt durch Corona als in früheren Jahren. Die Menschen haben Sorge, sich da anzustellen. Und es gibt inzwischen auch ein Gerichtsurteil, dass der Poststempel 3. November ausreicht, damit eine Briefwahl noch gültig ist. Das heißt, es kann ja manchmal sein, dass dann die Post drei, vier Tage später erst ankommt. Im Extremfall wird dann eine Woche lang gezählt. Donald Trump hat seit vielen Wochen, seit Monaten ja darauf hingewiesen.
Es ging los mit dem Argument, eigentlich müsse man die Wahlen verschieben. Er wusste damals schon, dass das rechtlich ohne Zustimmung des Kongresses gar nicht möglich wäre. Der hat aber von Anfang an signalisiert, machen wir nicht. Trotzdem hat er immer wieder gefordert, die Wahl zu verschieben, um das Fundament für diese Argumentation zu legen, am Ende ist die Wahl nicht anständig gelaufen, die Briefwahlen sind gefälscht, ihr stehlt mir hier meinen Wahlsieg. Er hat ja in den letzten Tagen mehrfach gesagt an seine Anhänger, wir werden in jedem Fall gewinnen, jedenfalls wenn es fair zugeht und wenn die Wahlen nicht gefälscht werden, so dass die Gefahr schon ist, dass er nach den ausgezählten Stimmen des Dienstagabend dann erklärt, ich bin Präsident, und der Rest, was jetzt kommt, kann eigentlich nur Wahlfälschung sein.
Welche Rolle die Briefwahl bei der Präsidentschaftswahl spielt
Am 3. November findet in den USA die Präsidentschaftswahl statt. Wegen der Corona-Pandemie stimmen viele Menschen per Briefwahl ab. Das könnte erhebliche Auswirkungen auf den Wahl-Ausgang haben
"Das ist nicht politischer Bürgerkrieg"
Meurer: Diese Emotionen, die damit hochgeputscht werden, was sagen Ihre Gesprächspartner in den USA? Gibt es bei denen eine klare Angst vor Krawallen, einer Eskalation, Ausschreitungen?
Gabriel: Krawalle ist das eine. Da, glaube ich, müssen wir als Europäer auch ein bisschen uns zurückhalten. Auch in unseren Großstädten gab es in der Vergangenheit manchmal gewalttätige Auseinandersetzungen. Das wird jetzt in Europa manchmal so debattiert, als ob in Amerika der Bürgerkrieg drohe. Ich glaube, das ist etwas, was sehr überzogen ist.
Natürlich gibt es die Sorge, dass radikalisierte Anhänger der einen oder der anderen Seite zu gewalttätigen Auseinandersetzungen greifen könnten, aber das ist nicht politischer Bürgerkrieg. Da werden jetzt die Ängste, glaube ich, ganz schön übertrieben.
Eher muss man Angst haben, dass das Land seine tiefe Spaltung immer weiter treibt, und das ist natürlich für die Welt gefährlich, wenn immerhin noch die größte Supermacht der Erde quasi nur mit sich selbst beschäftigt ist, völlig ausfällt in der internationalen Politik, weil es sich nur mit sich selbst befasst. Oder, was noch schlimmer sein kann, Reaktionen in der Außenpolitik hat, die alle nur ein Reflex auf den innerparteilichen Streit oder innerpolitischen Streit sind. Eine solche USA ist für die Welt sehr schwer zu kalkulieren.
"Trump hat von seiner politischen Macht Gebrauch gemacht"
Meurer: Sie sagen andererseits gerade, Herr Gabriel, wir sollen es mit unseren Befürchtungen vielleicht erst mal nicht übertreiben und abwarten. Andererseits: Viele analysieren, dass die Situation und der Graben jetzt viel tiefer ist als 2000. Damals zwischen Al Gore und George Bush hat man sich über die Gerichte geeinigt. Das ist anerkannt worden. Diese zivilisierte Form der Einigung, ist die vielleicht außer Reichweite geraten?
Gabriel: Noch kann man nicht davon sprechen, dass die amerikanischen Institutionen ausgehebelt sind. Das hat Trump nicht getan. Auch die Besetzung des Gerichtes ist ja nicht ein Außerkraftsetzen des Gerichts gewesen, sondern er hat von seiner politischen Macht Gebrauch gemacht und sie genutzt. Deswegen ja, die Spaltung ist viel tiefer. Sie hat übrigens lange vor Trump begonnen. Er ist nicht die Ursache; er ist eher das Ergebnis dieser tiefen Spaltung Amerikas. Es gibt nicht unerhebliche Teile der amerikanischen Bevölkerung, die sich von den politischen und wirtschaftlichen Eliten abgehängt gefühlt haben. Mir hat mal jemand gesagt, die letzte Wahl, Trump gegen Clinton, sei eine "can you hear me now"-Wahl gewesen, könnt ihr mich jetzt endlich hören, jetzt zeige ich euch mal meine Unzufriedenheit. Es gibt viele soziale Gründe für die Spaltung des Landes. Die hat Trump sich zunutze gemacht. Er ist nicht in allen Fällen die Ursache.
"Hatte den Eindruck, Trump kam uns gerade recht"
Meurer: Sie haben, Herr Gabriel, in einem Gastbeitrag für den Tagesspiegel gesagt – so lautete die Überschrift -, die US-Wahl wird überschätzt bei uns. Was haben Sie damit gemeint?
Gabriel: Mein Eindruck ist, dass wir Europäer, gerade wir Deutschen gerne mit dem Finger auf die USA zeigen und dabei vergessen, vielleicht auch vergessen wollen, dass viele Dinge, die bei uns zuhause nicht in Ordnung sind, nichts mit der Frage zu tun haben, wer ist in den USA gerade Präsident. Die Spaltung Europas in Nord und Süd in Wirtschaftsfragen, die Spaltung in Ost- und Westeuropa in Fragen der Rechtsstaatlichkeit, die Idee, was soll Europa eigentlich sein, die technologische Schwäche, die Europa hat gegenüber China und den USA beispielsweise, die Unfähigkeit, sich in unserer unmittelbaren Nachbarschaft gemeinschaftlich zu bewegen, die Unfähigkeit zur gemeinsamen Außenpolitik, unser Streit in der Migrationspolitik, das alles sind Themen, die müssen wir klären und nicht die Vereinigten Staaten.
Ein bisschen hatte ich in den letzten Wochen und Monaten den Eindruck, Trump kam uns gerade recht, weil wir immer irgendjemanden hatten, der für das Elend der Welt verantwortlich ist, aber wir Europäer haben auch ein paar Hausaufgaben zu machen.
Das Bild zeigt die amerikanische Flagge, Dossier zur US-Wahl 2020 
Eine neue Rolle für Europa
Meurer: Das mag so sein, Herr Gabriel. Aber Klimaschutz beispielsweise, wenn jemand sich weigert, am Abkommen teilzunehmen, könnte Biden natürlich klar die bessere Alternative sein, und das hätte dann doch gravierende Folgen.
Gabriel: In dem Artikel steht auch nichts, dass die USA egal sind. Sie sind für die Frage Klimaschutz entscheidend. Sie sind dafür mit entscheidend, was tut die Welt gegen die Weiterverbreitung von Nuklearwaffen-Tätigkeiten beispielsweise. Auch beim Thema Zunahme des Hungers in der Welt, bei der Bekämpfung der Pandemie, da überall brauchen wir die Vereinigten Staaten. Aber es gibt ein paar Dinge, die wir selber machen müssen, und der Blick auf die USA darf nicht verstellen, dass es eigene Dinge gibt, die wir zu tun haben.
Und noch etwas werden wir merken: Auch Joe Biden als US-Präsident wird nicht einfach ein Zurück in die guten alten Zeiten transatlantischer Beziehungen bedeuten. Die Konflikte über China, über Russland, über Handelsdefizite, alle diese Konflikte werden bleiben. Wir haben dann einen Präsidenten, der Gott sei Dank wieder Interesse an uns hat und der mit uns verhandeln wird und der Allianzen und Partnerschaften akzeptiert und nicht nur als Gefolgschaft versteht. Aber die Tatsache, dass Europa in vielen Aufgaben selber verantwortlich sein muss, bis hin zur Verteidigung, weil die Amerikaner ihre ganze politische und militärische und wirtschaftliche Kraft auf den Indopazifik konzentrieren wollen, das werden wir auch unter Biden erleben, und das ist für Europa eine neue Rolle, die wir bisher nicht kannten.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.