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Russland-Ukraine-Krise
Gabriel (SPD): "Wenn Russland die Ukraine attackiert, wird es Nord Stream 2 nicht geben"

Die Bedingung für Nord Stream 2 sei schon immer die Sicherheit der Ukraine gewesen, sagte der ehemalige Außenminister Sigmar Gabriel (SPD) im Dlf. Die Frage sei, warum die Krise derzeit eskaliere. Moskau habe offenbar den Eindruck, dass die USA schwach seien und Europa keine gemeinsame Haltung habe.

Sigmar Gabriel im Gespräch mit Dirk-Oliver Heckmann |
Atlantik-Brücke - Pressekonferenz zu USA vor der Wahl
Sigmar Gabriel (SPD), Vorsitzender der Atlantik-Brücke (picture alliance/ dpa / Britta Pedersen)
Er hoffe, dass es nicht zu einem Krieg komme, sagte Sigmar Gabriel, Ex-Außenminister und Ex-SPD-Chef, im Dlf. Bei 100.000 russischen Soldaten an der ukrainischen Grenze sei das aber schon ein "denkbares realistisches Szenario".
Es sei gut, dass die deutsche Außenministerin Annalen Baerbock zu Gesprächen nach Moskau gereist sei: "Eigentlich müssten das viele aus Europa tun oder gemeinschaftlich reisen." Es sei kein gutes Zeichen, dass Europa die Ukraine-Krise derzeit weitgehend den Amerikanern überlasse. "Die Wahrheit ist leider, dass die Europäische Union eine sehr unterschiedliche Sichtweise auf Russland hat und sich nicht einigen kann", so Gabriel, der auch der Vorsitzende der Atlantik-Brücke ist.

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Dennoch sei es klar, dass ein Angriff Russlands auf die Ukraine ein Ende von Nord Stream 2 zur Folge hätte. "Das weiß jedes Kind, das braucht man gar nicht aussprechen." Er sei immer in der Überzeugung gewesen, dass es im deutschen Interesse sei, Nord Stream 2 zu realisieren. "Aber wenn Sie einen Krieg vor der Haustür haben, dann ist doch klar, dass man eine solche Energiepartnerschaft nicht einfach fortsetzen kann." Es sei aber die Frage, ob Russland ein Ende der Gaspipeline nicht vielleicht schon einkalkuliert habe.
Man könne sich aber auch fragen, warum diese Krise zum jetzigen Zeitpunkt eskaliere, so Gabriel. "Vermutlich, weil die russische Regierung die Einschätzung hat, dass die USA schwach sind, weil Joe Biden sehr stark innenpolitisch sich konzentrieren muss und außenpolitisch wenig Kraft zur Verfügung hat." Hinzu komme, dass Europa auch keine gemeinsame Haltung habe. "Das ist das Gefährliche, dass die russische Politik den Eindruck hat, die Gelegenheit ist günstig, und wenn die Europäer nicht in stärkerem Maße zeigen, dass sie eine gemeinsame Position haben, dann werden wir hier zum Spielball fremder Mächte." .
Russische Soldaten bei einem Manöver mit Panzer.
100.000 russische Soldaten sollen sich an der Grenze zum Osten der Ukraine aufhalten (dpa/picture alliance/Stanislav Krasilnikov)

Das Interview im Wortlaut
Dirk-Oliver Heckmann: Herr Gabriel, eine Sprecherin des Weißen Hauses hat in der Nacht gesagt, wir befinden uns in einer Phase, in der Russland jederzeit einen Angriff auf die Ukraine starten könnte, und NATO-Generalsekretär Stoltenberg meinte gestern in Berlin, man müsste mit dem schlimmsten rechnen. Realismus oder Alarmismus?
Sigmar Gabriel: Na ja. Wenn Sie sehen, dass 100.000 Soldaten oder noch mehr an der Grenze eines Landes aufmarschieren, dann werden die das nicht machen, wenn nicht auch prinzipiell die Möglichkeit angedacht wird, dort einzumarschieren. Insofern ist das schon ein leider denkbares realistisches Szenario.
Heckmann: General a.D. Kujat hat bei uns im Deutschlandfunk gesagt, reines Drohpotenzial.
Gabriel: Ich hoffe, er hat recht.
Heckmann: Was führt Sie zu der Annahme?
Gabriel: Weil ich hoffe, dass es zu keinem Krieg kommt. Das ist doch klar, dass man hofft, dass nicht das schlimmste eintritt. Wenn ich sage, ich hoffe, er hat recht, heißt das ja nicht, dass ich nicht das Gegenteil leider auch befürchte. Ich kann nur hoffen, dass auf der russischen Seite tatsächlich es sich um Drohgebärden handelt, aber wer weiß das genau, und versetzen Sie sich einfach in die Lage eines Ukrainers oder eines Balten oder eines Polen. Die sind deutlich näher dran. Die müssen das als eine Vorbereitung einer militärischen Aggression empfinden. Deswegen geht es weniger um die Frage, wie wir Deutschen das sehen, sondern wie sehen das eigentlich die Betroffenen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass in Deutschland nicht auch alles in Aufruhr wäre, wenn an unserer Grenze 100.000 Soldaten einer fremden Macht aufmarschieren würden.

Europa überlässt den Konflikt weitestgehend den USA

Heckmann: Herr Gabriel, Außenministerin Annalena Baerbock hat gestern in Moskau gesagt, es sei schwierig, diesen Truppenaufmarsch nicht als Bedrohung zu sehen. Aber sie hat auch Dialog eingefordert von Moskau. In Kiew hat sie sich etwas weniger diplomatisch ausgedrückt und hat gesagt, der Angriff würde hohe Kosten haben. Kann aber nicht, Herr Gabriel, der Kreml sicher sein, so wie Europa, so wie Deutschland aufgestellt ist, auch mit der Ampel-Koalition, werden die Kosten nicht allzu hoch sein?
Gabriel: Das ist die Frage, ob man dem Kreml diese Kalkulation erlaubt. Ich finde es erst mal gut, dass wenigstens Frau Baerbock diese Reise gemacht hat. Eigentlich müssten das viele aus Europa tun oder gemeinschaftlich reisen, so wie das damals die deutsche Kanzlerin und der französische Präsident Francois Hollande getan haben, als es das letzte Mal eine Situation gab nach dem Einmarsch der Russen auf der Krim, wo eine größere Auseinandersetzung um die Ukraine drohte. Die haben damals das Problem nicht gelöst, das ist auch schwer zu lösen, aber sie haben zumindest die Ausdehnung des Konfliktes, eine weitere militärische Eskalation verhindert. Dass Europa dazu weitgehend das den Amerikanern überlässt, finde ich eigentlich kein gutes Zeichen für Europa, und dass Frau Baerbock ein bisschen stellvertretend für die Europäer das in die Hand nimmt, finde ich gut. Die Frage ist, sind wir auch bereit in Europa, der russischen Regierung zu sagen, das wird teuer werden, wenn ihr tatsächlich militärisch in der Ukraine interveniert.

Russland könnte Stopp von Nord Stream 2 einkalkulieren

Heckmann: Das wird auf der einen Seite ja gesagt, Herr Gabriel, immer wieder in den letzten Tagen. Aber de facto ist es doch so – ich weiß nicht, wie Sie es sehen: Militärisches Eingreifen wird ausgeschlossen, es gibt keine Waffenlieferungen an die Ukraine, jedenfalls nicht von Deutschland, bei Nord Stream 2 steht die SPD vor Wolfgang Ischinger. Der Chef der Münchner Sicherheitskonferenz hat dieser Tage sinngemäß gesagt, wenn man alles ausschließt, dann hat man eine schwache Position.
Gabriel: Ich habe gestern ziemlich genau zugehört und der deutsche Kanzler Olaf Scholz hat gesagt, alles liegt auf dem Tisch. Damit ist gar nichts ausgeschlossen. Es ist doch völlig klar, wenn Russland die Ukraine attackiert, wenn Truppen da einmarschieren, dann wird es natürlich Nord Stream 2 nicht geben. Das weiß jedes Kind, das braucht man gar nicht aussprechen. Die Frage ist, reicht diese Drohung bereits aus. Ich vermute, Russland kalkuliert das ein in seinen Handlungen. Ich habe mich immer als Entspannungspolitiker gesehen. Ich war immer der Überzeugung, es ist im deutschen Interesse, Nord Stream 2 zu realisieren. Aber wenn Sie einen Krieg vor der Haustür haben, dann ist doch klar, dass man eine solche Energiepartnerschaft nicht einfach fortsetzen kann. Die Frage ist, hat die andere Seite, hat Russland das bereits schon einkalkuliert und gibt es noch andere Dinge, die Europa tun kann.
Verlegung der Ostsee-Erdgaspipeline Nord Stream 2 vor der Küste der schwedischen Insel Gotland
Verlegung der Ostsee-Erdgaspipeline Nord Stream 2 vor der Küste der schwedischen Insel Gotland (picture alliance/ dpa/ Itar-Tass/ Ruslan Shamukov)

"Nord Stream 2 war nie ein völlig unpolitisches Projekt"

Heckmann: Lassen Sie uns einen Moment bei Nord Stream 2 bleiben, Herr Gabriel. Bis zum heutigen Tage hat Kanzler Olaf Scholz immer von einem rein wirtschaftlichen Projekt gesprochen. Jetzt hat er es zum ersten Mal in Frage gestellt, zumindest angedeutet. Vorher sagte er noch, diese Frage wird völlig unpolitisch beantwortet werden.
Gabriel: Das hat die frühere Kanzlerin Angela Merkel auch jeden Tag gesagt. Die Wahrheit ist, dass wir mit Russland immer darüber geredet haben, Nord Stream 2 ist nur unter zwei Bedingungen möglich, dass die Ukraine nicht als Gegner ständig angesehen wird, und zweitens, dass das Gas weiter durch die transukrainische Pipeline ebenso fließt. Wir haben sogar über Mengen geredet. Es gab immer eine Verbindung zwischen der Sicherheit der Ukraine, der Sicherheit der Energieversorgung der Ukraine und Nord Stream 2.

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Heckmann: Ist das eine verbindliche Absprache gewesen? Ist das schriftlich?
Gabriel: Aber sicher! – Das weiß ich nicht, ob Frau Merkel das schriftlich hat machen lassen. Ich weiß jedenfalls, dass es in allen deutschen Zeitungen stand, dass es mir gegenüber der russische Präsident mehrfach auch gesagt hat. Insofern ist es immer so gewesen, dass die Frage der Ukraine, insbesondere der Pipeline, die ja durch die Ukraine geht und von der die Ukraine immer Angst hat, der Nord Stream dient dazu, sie zu umgehen, dass das Bedingung war für die Zustimmung Deutschlands. Insofern war es nie ein völlig unpolitisches Projekt. Wenn jemand mit Krieg droht – ich meine, man muss es sich mal vorstellen: Wir reden über ein Land, das ist von Berlin eine Stunde Flug entfernt, das ist sehr nah bei uns -, dann ist doch klar, dass das nicht weitergehen kann, und das hat der Kanzler gestern auch gesagt. Alle hoffen, dass dieser Preis und auch die wirtschaftlichen Drohungen der USA ausreichen, Russland an einer solchen militärischen Aggression zu hindern, aber der Forderungskatalog, den die russische Regierung vorgelegt hat, der ist schon so, dass niemand von uns ihn unterschreiben kann. Da wird Finnland und Schweden verboten, der NATO beizutreten. Man kann sich fragen, wie kommt Putin eigentlich darauf, die beiden Länder haben einen NATO-Beitritt überhaupt nicht angedacht. Das tun sie erst, seit Russland ihnen das verbieten will. Die Ukraine – auch das stand nicht auf der Tagesordnung. Man kann sich überhaupt fragen, warum diese Krise zum jetzigen Zeitpunkt, und vermutlich, weil die russische Regierung die Einschätzung hat, dass die USA schwach sind, weil Joe Biden sehr stark innenpolitisch sich konzentrieren muss und außenpolitisch wenig Kraft zur Verfügung hat - die USA sind tief gespalten -, und Europa auch keine gemeinsame Haltung hat. Das ist das Gefährliche, dass die russische Politik den Eindruck hat, die Gelegenheit ist günstig, und wenn die Europäer nicht in stärkerem Maße zeigen, dass sie eine gemeinsame Position haben, dann werden wir hier zum Spielball fremder Mächte.

"Die Europäische Union hat eine sehr unterschiedliche Sichtweise auf Russland"

Heckmann: Könnte auch mit ein bisschen an der SPD liegen. Generalsekretär Kühnert sagt, man sollte militärische Konflikte nicht herbeireden, und meinte da den Westen. Und Matthias Platzeck, der Chef des Deutsch-Russischen Forums, ebenfalls Ex-SPD-Chef, der meinte in der ARD dieser Tage, man müsse auf Putin zugehen.
O-Ton Matthias Platzeck: „Wenn man diplomatisch Erfolg haben will, muss man – das weiß ich, fällt uns schwer – erst mal sagen, ja, eure Sicherheitsbedürfnisse, eure Sicherheitsbedenken sind anzuerkennen, beziehungsweise wir werden mit ihnen umgehen.“
Heckmann: Dreht Matthias Platzeck da nicht die Tatsachen auf den Kopf? Denn die 100.000 russischen Soldaten sind ja keine Erfindung.
Gabriel: Ihre erste Frage war, ob die Situation in Europa daran liegt, dass Matthias Platzeck und Herr Kühnert Äußerungen machen. Ich bin überzeugter Sozialdemokrat, aber ich glaube, Sie überschätzen hier ein bisschen die Lage in Europa.
Heckmann: Die SPD ist Kanzlerpartei, stellt den Kanzler.
Gabriel: Passen Sie auf: Dieses Interview funktioniert nur, wenn Sie mich was fragen und ich dann ausreden darf. Sonst wird es schwierig.
Heckmann: Ja, gerne!
Gabriel: Ich glaube nicht, dass an diesen beiden Äußerungen die Haltung Europas scheitert, sondern die Wahrheit ist leider, dass die Europäische Union eine sehr unterschiedliche Sichtweise auf Russland hat und sich nicht einigen kann. Was der deutsche Bundeskanzler gestern gesagt hat, alle Optionen – und dazu gehört auch Nord Stream – liegen auf dem Tisch, habe ich nun schon mehrfach gesagt. Die Frage, ob man auf Russland zugehen muss oder nicht – ich meine, das tut die Europäische Union, das tut die NATO, das tun die USA. Sie reden nämlich mit demjenigen, der einen ultimativen Forderungskatalog auf den Tisch gelegt hat und gleichzeitig 100.000 Mann an der Grenze eines fremden Landes aufmarschieren lässt. Mehr Dialogbereitschaft kann man nicht zeigen. Dialog ist das eine. Der andere Verhandlungspartner muss uns aber auch ernst nehmen. Deswegen müssen wir auch eine klare und harte Haltung haben. Die hat Frau Baerbock, finde ich, in Moskau gut dargelegt, auch in Kiew. Und ich finde, nur so wird eine Möglichkeit eröffnet, sich zu einigen. Nur dann, wenn die beiden Dinge zusammenkommen, Dialogbereitschaft, aber auch Klarheit, dass jeder, der den Frieden in Europa torpediert, der Truppen nicht nur auf-, sondern auch einmarschieren lässt, dass der dafür einen hohen ökonomischen Preis bezahlen muss.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.