Die Zerknirschung war ihm anzumerken, doch David Cameron gab sich staatsmännisch, als er am Freitag in der Downing Street vor die Presse trat.
"Wir vertrauen unseren Bürgern bei diesen großen Entscheidungen", sagte der britische Premierminister, und wenn es um die Regeln und Vereinbarungen gehe, wie die Menschen regiert würden, dann sei es eben manchmal richtig, sie auch selbst zu fragen.
Das Ergebnis allerdings ist für David Cameron erschütternd – ein Desaster: Schließlich hatte er für den Verbleib Großbritanniens in der Europäischen Union geworben. Doch die Briten stimmten mehrheitlich für den Austritt aus der EU – und dieser Wille sei zu respektieren, so Cameron.
Eine Abstimmung über das Schicksal Europas
In den Ländern der Europäischen Union gab es in der Vergangenheit schon viele Volksentscheide, auch über EU-Verträge. Doch noch kein Referendum war so wichtig und so einschneidend wie dieses; die Folgen sind noch überhaupt nicht abzusehen. Der Brexit-Entscheid wirft einmal mehr die Frage auf, wie sinnvoll solche Volksabstimmungen sind. Ist es vernünftig, den Bürgern eine bedeutende und kaum zu überblickende Entscheidung zu überlassen? Darüber streiten Demokratietheoretiker seit jeher. Zweifelsohne haben die britischen Wähler nicht nur über ihre eigene Zukunft entschieden: Ihr Votum hat Konsequenzen für 500 Millionen Menschen in der gesamten Europäischen Union. Es war eine Abstimmung über das Schicksal Europas.
"Warum soll nicht das Volk selbst darüber entscheiden können, was das eigene Schicksal sein soll?"
Sagt Bernhard Weßels. Er ist Professor am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung und sein Fachbereich ist Demokratie und Demokratisierung.
"Wenn man Demokratie ernst nimmt, dann muss man natürlich Volkssouveränität und dass das Volk das eigene Schicksal bestimmt, ernst nehmen. In den Grenzen, die heißen, die Demokratie selbst wird nicht gefährdet."
Die Mitgliedschaft in der Europäischen Union zur Abstimmung zu stellen, ist aus dieser Perspektive also legitim – doch das Ergebnis lässt auch den Demokratieforscher nicht kalt:
"Ich war vollkommen verdattert, muss ich sagen, und war dann eigentlich richtig böse mit den Briten. Weil das Problem für mich bei der ganzen Geschichte ist, es ist so eine weitreichende Entscheidung, die die Wohlfahrt der Bürger in Großbritannien so massiv tangieren wird und das heißt natürlich Wohlfahrtsverluste, und das ist was, wo ich denke, das muss man sich doch vorher überlegen!"
Das Referendum sei kein guter Tag für die Demokratie gewesen, sagt Bernhard Weßels:
"Weil Mehrheitsentscheidungen über so gravierende Fragen, die dann letztlich das ganze Wohlergehen eines Volkes, einer Wirtschaft bestimmen, nicht so ausgehen sollten, dass letztendlich 34,3 Prozent der Wahlberechtigten, der prinzipiell Wahlberechtigten über das Schicksal der ganzen Gesellschaft entscheiden. Und das ist passiert. Das ist ein Problem."
Bei dem Referendum stimmten zwar knapp 52 Prozent der Wähler für den Austritt aus der EU. Weßels verrechnet dieses Ergebnis allerdings mit der Wahlbeteiligung von gut siebzig Prozent und kalkuliert auch die etwa fünf Millionen Menschen mit ein, die sich gar nicht erst als Wähler hatten registrieren lassen. So gesehen, ist es also eine Minderheit, die das Schicksal Großbritanniens und Europas in die Hand genommen hat. Weßels ist nicht prinzipiell gegen Elemente direkter Demokratie – aber unter anderen Bedingungen:
"Man könnte zum Beispiel Quoren einziehen, die untersagen: 50 Prozent der prinzipiell Wahlberechtigten müssen in einer Frage zustimmen, damit die entsprechende Änderung eintritt. Wenn das nicht der Fall ist, dann bleibt es beim Status quo. Wir würden damit quasi bei einer Situation landen, wo Sie deutlich mehr als Zweidrittel oder eher Vierfünftel pro EU-Austritt haben müssten, bei den Beteiligungen, die wir da im Vereinigten Königreich erlebt haben."
Obendrein habe das Referendum die Spaltung der britischen Gesellschaft noch verschärft. Wahlanalysen zufolge stimmten junge Leute und Städter eher für den Verbleib in der EU, ältere Wähler und Menschen in ländlichen Regionen votierten eher für den Austritt.
"Wenn die über 65-Jährigen so abgestimmt hätten wie die unter 65-Jährigen, dann wären es nur 14,8 Millionen gewesen, die für den Brexit gestimmt hätten, und das hätte nicht gereicht. Also die Alten bestimmen die Zukunft. Das ist vielleicht auch ein Problem, das man mitreflektieren müsste."
Denkzettel für die Regierung
Kritiker von Volksabstimmungen geben immer wieder zu bedenken, dass politische Entscheidungen heutzutage hochkomplex sind. Welcher Bürger kann sich schon in die Details von Handelsverträgen oder langwierig verhandelten internationalen Abkommen einarbeiten, wer kann abwägen, was der Austritt aus der Europäischen Union überhaupt bedeutet? Ist es also gefährlich, den Bürgern die Entscheidung zu überlassen? Zumindest verknüpfen sie ihre Abstimmung bei Referenden oftmals mit einer ganz anderen Botschaft – zum Beispiel mit einem Denkzettel für die Regierung. Es bleibt häufig nicht bei einer klar umrissenen Sachentscheidung, sondern die Frage des Referendums wird mit anderen, emotional aufgeladenen Themen vermischt. So war es wohl auch beim EU-Referendum im Vereinigten Königreich, sagt Bernhard Weßels.
"Wir haben ja das Problem, dass das Abstimmungsergebnis wahrscheinlich, jedenfalls zum Teil, deshalb zustande gekommen ist, weil wir die sogenannte Flüchtlingskrise haben und weil die Briten Angst vor Überfremdung haben. Jedenfalls in Teilen. Es ist ja nicht nur Anti-Europa, sondern auch eine Anti-Migrations-Entscheidung gewesen."
Dass es bei Volksabstimmungen nicht nur um die tatsächlich formulierte Frage auf dem Wahlzettel geht, war auch 2005 zu beobachten, als die Bürger in Frankreich und den Niederlanden aufgerufen waren, über eine europäische Verfassung abzustimmen. In beiden Ländern lehnten die Menschen den Vertrag mehrheitlich ab, doch ihr Nein galt eben nicht nur der Verfassung. Sondern auch der europäischen Politik im Allgemeinen und etwa den EU-Erweiterungen im Besonderen. Martin Schulz war damals SPD-Fraktionschef im Europaparlament:
"Für uns ist die Situation deshalb so schwierig, weil wir eigentlich das, was die Verfassung als Ziele beschreibt, mehr denn je brauchen, aber die Bürger es mehr denn je zurückweisen."
Das doppelte Nein der Franzosen und der Niederländer zur EU-Verfassung stürzte die Europäische Union in eine tiefe Krise. Jean-Claude Juncker äußerte sich damals als Premierminister von Luxemburg und amtierender EU-Ratspräsident:
"Heute Abend müssen wir feststellen, dass die EU nicht zum Träumen verleitet. Man liebt die EU nicht so, wie sie ist, deshalb lehnt man die künftige EU ab, die der Verfassungsvertrag beschreibt. Europa will mehr und intensiver als bislang auf seine Bürger hören."
Mehr auf seine Bürger hören – genau das ist den EU-Politikern offenkundig nicht gelungen. Die Unzufriedenheit mit der Europäischen Union und ihrer Politik ist größer denn je. Umfragen zeigen: Viele Bürger haben den Eindruck, die Kontrolle über ihre politischen Angelegenheiten zu verlieren. Und zwar an Brüssel. Das ist die Stunde der rechtspopulistischen Parteien, die in vielen europäischen Ländern im Aufwind sind: so etwa Marine Le Pens Front National in Frankreich, die niederländische Freiheitspartei von Geert Wilders, die FPÖ in Österreich oder auch die deutsche AfD. Diese Parteien fühlen sich durch das EU-Referendum in Großbritannien gestärkt, und viele ihrer Politiker rufen jetzt umso lauter nach weiteren Volksentscheiden in ihren Ländern, über die Gemeinschaftswährung etwa oder auch über die Mitgliedschaft in der EU. Ungarns nationalkonservativer Regierungschef Viktor Orban will im Herbst ein Referendum abhalten – über Flüchtlingsquoten. In den Niederlanden gab es im April ein Referendum, über ein EU-Abkommen mit der Ukraine.
Mark Rutte, Ministerpräsident der Niederlande, sagt, er sei absolut gegen Referenden, und noch mehr gegen solche über internationale Verträge. Doch es nutzte nichts: Seine Landsleute stimmten mit klarer Mehrheit gegen das Assoziierungsabkommen mit der Ukraine. Geert Wilders von der rechtspopulistischen Freiheitspartei interpretierte das Ergebnis als Botschaft an Brüssel – es sei der Anfang vom Ende der Europäischen Union.
Referenden passten zu der populistischen Stimmung, die derzeit viele Länder überschwemme, schrieb kürzlich der Harvard-Professor Ian Buruma. Von einer "Referendumsfarce" spricht er: Volksabstimmungen seien oft demagogisch und der Demokratie sogar abträglich, sie spiegelten das Misstrauen gegenüber den politischen Repräsentanten wider. Ist der Ruf nach Volksabstimmungen also ein Zeichen dafür, dass die repräsentative Demokratie versagt hat? So weit würde Emanuel Richter zwar nicht gehen. Er ist Professor für Politikwissenschaft an der RWTH Aachen, zu seinen Fachgebieten gehören Demokratietheorie und die Probleme trans- und supranationaler Demokratien. Doch auch er sieht, dass gerade populistische Parteien die Instrumente direkter Demokratie für sich nutzen:
"Das ist ein Baustein, ein Mosaikstein in einem Puzzle, das sich über ganz Europa erstreckt. Und das ist auch meine Befürchtung, dass natürlich damit den Populisten enormer Aufwind gegeben wird, insofern als sie jetzt sagen können wird, naja schaut her, wenn ihr die Bevölkerung befragt, dann wird sie euch mitteilen, dass sie dieses Europa in großen Teilen ablehnt."
Als Vorbild für direkte Demokratie wird oft die Schweiz genannt
Allerdings stießen die Populisten in eine Lücke, die die etablierten Parteien nicht ausgefüllt hätten: Es sei eben nicht gelungen, Stimmungen, Meinungen, auch randständige Positionen zu integrieren.
"Und insofern ist diese Basis nicht gut für eine direkte Demokratie nicht gut, wo viele Unzufriedene sind, wird die direkte Demokratie immer als Hammerschlag gegen die gerade Regierenden benutzt, also als Misstrauensvotum, und hat damit ihre Zweckerfüllung verfehlt, nämlich Positionen in den Prozess einer funktionierenden repräsentativen Demokratie einzubringen. Insofern ist im Moment das Klima für eine Ausweitung direkter Demokratie nicht gut."
Was der Politologe Emanuel Richter durchaus bedauert – denn er argumentiert leidenschaftlich für mehr Demokratie, und dazu gehöre eben auch die direkte Demokratie.
"Sie ist ein Korrekturmechanismus für die repräsentative Demokratie und ist eigentlich dafür da, Minderheitenpositionen, die sonst in der politischen Sphäre nicht gut zum Ausdruck kommen, über einen direkten Volkswillen in die Politik hineinzutragen."
Als Vorbild für direkte Demokratie wird oft die Schweiz genannt. In keinem anderen Staat der Welt haben die Bürger so ausgeprägte Möglichkeiten demokratischer Mitbestimmung. Die Schweizer können über Schul- und Drogenpolitik abstimmen, über Arbeitslosengeld und Militäreinsätze.
Befürworter von Volksentscheiden führen an, dass direkte Mitbestimmung auch mehr Akzeptanz für Politik und Gemeinwesen nach sich ziehe. Wer eingebunden ist und mitentscheiden darf, fühlt sich eben auch ernst genommen – so die Überlegung. Möglicherweise ist es genau das, was der Europäischen Union fehlt. Denn viele Bürger erleben europäische Politik vor allem als Fremdbestimmung einer anonymen Entscheiderkaste in Brüssel.
"Das Problem in Europa ist, dass solche Referenda eigentlich an den Anfang gehört hätten, sprich, dass man eigentlich bevor solche großen Integrationsschritte wie der europäische Binnenmarkt, oder die Eurozone in Gang gesetzt werden, bevor all das geschieht, man die Bevölkerung hätte befragen müssen. Und zwar in allen beteiligten Staaten."
Was aber beispielsweise in Deutschland gar nicht möglich wäre. Das Grundgesetz sieht Volksentscheide im Prinzip nicht vor. Mal abgesehen von der Abstimmung über eine neue Verfassung nach Artikel 146 oder die Neugliederung des Bundesgebietes nach Artikel 29. Auf diese Weise kam Anfang der 1950er-Jahre übrigens das Land Baden-Württemberg zustande, während die Fusion von Berlin und Brandenburg 1996 am Volkswillen scheiterte. Dass das Grundgesetz vor allem auf repräsentative Demokratie ausgelegt ist, hat historische Gründe.
"Ich bitte die Abgeordneten, bei der Stimmabgabe sich zu erheben ..."
Am 8. Mai 1949 verabschiedete der Parlamentarische Rat in Bonn das Grundgesetz. Die Verfassung war auch eine Reaktion auf die Erfahrungen in der Weimarer Zeit und der NS-Diktatur. Das politische System sollte stabil sein, abgesichert gegen Populisten und Radikale. Die Deutschen, die noch wenige Jahre zuvor in glühendem Fanatismus Adolf Hitler gefolgt waren, sollten auf nationaler Ebene keine direkten Mitbestimmungsrechte bekommen. Es sind aber nicht nur die Lehren aus der Diktatur, die für die repräsentative Demokratie sprechen, sagt der Politologe Bernhard Weßels.
"Wenn man an die ursprüngliche Idee der Demokratie denkt, die heißt, Selbstbestimmung des Volkes, dann heißt das natürlich eigentlich direkte Demokratie. So kennen wir das aus dem klassischen Athen. Das hat sich aber in den großen komplexen Gesellschaften als so nicht machbar herausgestellt, weshalb wir heute repräsentative Demokratie haben."
Für Cameron ist es die größte Niederlage seiner politischen Laufbahn
Umfragen zeigen zwar immer wieder, dass sich die Bundesbürger mehr Volksentscheide wünschen - auch auf nationaler Ebene. Bundeskanzlerin Merkel hält davon allerdings nichts. In einem Interview mit einer Online-Plattform sagte sie vor einigen Jahren:
"Wir sollten dabei bleiben, die Wahlen sind so etwas wie die Volksabstimmung über die Regierungsprogramme der einzelnen Parteien, und in den Ländern, wo es zu Einzelfragen Volksbefragungen gibt, soll das ruhig weiter so sein. Für die Bundespolitik ist es, glaube ich, besser so."
Eine Volksabstimmung über die EU-Mitgliedschaft wäre hierzulande also gar nicht möglich. Nach dem EU-Referendum im Vereinigten Königreich wird nun über eine Neugestaltung der Europäischen Union debattiert, über ein Kerneuropa, ein Europa der zwei Geschwindigkeiten, über eine Art Neugründung der Union. In manchen Ländern stehen dann möglicherweise wieder Referenden an. Entscheidend sei in jedem Fall, im Vorfeld sachlich zu informieren und die Themen nicht miteinander zu vermischen, sagt der Demokratieforscher Bernhard Weßels:
"Man muss die Bürger sehr sorgfältig darauf vorbereiten, über was sie da abstimmen, und da sind natürlich Akteure gefragt, die rationalen Informationen beizubringen, damit die Bürger sich einen Reim darauf machen können."
Man kann wohl darüber streiten, ob die Informationskampagnen in Großbritannien diesem Anspruch gerecht geworden sind. Weßels beklagt etwa, dass die EU-Befürworter mehr Anzeigen auch in der Boulevardpresse hätten schalten müssen. Emanuel Richter von der RWTH Aachen sieht es etwas anders.
"Das Wissen der britischen Bürger über Europa war noch nie so groß wie in diesen Tagen, ja? Das muss man als positiven Effekt eines Referendums hervorheben."
Für David Cameron, den britischen Premierminister, der das EU-Referendum überhaupt erst ins Spiel gebracht hatte, ist das Ergebnis jedenfalls die größte Niederlage seiner politischen Laufbahn: Er hat seinen Rücktritt angekündigt.
"Das Land braucht jetzt eine frische Führung. Es wäre nicht richtig, wenn ich als Kapitän versuchen würde, dieses Land zu seinem nächsten Ziel steuern."
Emanuel Richter: "Seine Absicht war, Zugeständnisse herauszuhandeln, er hat sich ja auch gerühmt, mit der EU scharf verhandelt zu haben. Er hat gesagt, jetzt bringe ich Sonderregelungen für Großbritannien mit nach Hause, und das muss genügen, deshalb wird die Bevölkerung seiner Politik zustimmen."
Womit er sich verspekuliert hat. Hätte David Cameron gewusst, wie das Referendum ausgeht, er hätte es seinen Landsleuten wohl nie angeboten, ist auch Bernhard Weßels überzeugt:
"Ja, das wird er ganz sicherlich bereuen … Er hat da ein strategisches Spiel gespielt, bei dem die Strategie nicht aufgegangen ist, und darüber wird er sich maßlos ärgern."