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Sigrid Nunez: "Was fehlt dir"
Was am Ende übrigbleibt

Eine ältere Frau kümmert sich um ihre sterbende Freundin und wird so mit der eigenen Endlichkeit konfrontiert. Was ist wirklich wichtig? Diese Frage rückt immer mehr in den Vordergrund. Sigrid Nunez hat mit „Was fehlt dir“ ein warmherziges Trostbuch über die Kunst zu leben und zu sterben verfasst.

Von Bettina Baltschev |
Ein Portrait der Autorin Sigrid Nunez das Buchcover von „Was fehlt dir“
Schreibt gern über große letzte Fragen: Die US-Autorin Sigrid Nunez (Buchcover Aufbau Verlag / Autorenportrait © Marion Ettlinger )
Es ist ein schlichter menschenfreundlicher Satz der französischen Philosophin Simone Weil, den Sigrid Nunez ihrem Roman voranstellt:
"Die Fülle der Nächstenliebe besteht einfach in der Fähigkeit, den Nächsten fragen zu können, welches Leiden quält dich."

Die Freundin hat Krebs

Und im Grunde ist "Was fehlt dir" eine kunstvolle Abhandlung darüber, ob sich dieser Satz in der Realität als tragfähig erweist. Denn die namenlose Erzählerin wird unverhofft zur Begleiterin ihrer ebenso namenlosen Freundin, die unheilbar an Krebs erkrankt ist. Um selbstbestimmt zu sterben, hat sich diese Freundin Tabletten besorgt und gemeinsam begeben sich die Frauen im wahrsten Sinne des Wortes auf eine letzte Reise, in ein schönes großes Haus, wo die Erkrankte hofft, ihr Leben in Ruhe beenden zu können. Für die Erzählerin ist das eine Herausforderung, der sie sich stellt, weil auch sie in einem Alter ist, in dem sich der Gedanke an den Tod nicht mehr völlig ignorieren lässt.
"Der wahre Grund, warum ich zugestimmt hatte, meiner Freundin zu helfen, war, dass ich hoffte, an ihrer Stelle genau das zu können, was sie jetzt tun wollte. Und auch ich hätte jemanden gebraucht, der mir half. (In den folgenden Tagen gab es Momente, in denen ich unwillkürlich das Gefühl hatte, dass das alles eine Art Probe war, dass meine Freundin mir den Weg zeigte)."

Melancholischer Rückblick aufs Leben

Zwar schwingt in der Geschichte der beiden Frauen ein melancholischer Grundton mit, doch weil sie reflektierte und selbstironische Menschen sind, wird die Krankheit lediglich zum Auslöser für lange, manchmal durchaus komische Gespräche. Da werden die guten und die schlechten Seiten des Lebens verhandelt, die genutzten und ungenutzten Chancen, die abwesenden und ungeborenen Kinder. Und hier kommt eine weitere Figur ins Spiel, ein Ex-Freund der Erzählerin, der mit apokalyptischen Vorträgen durchs Land zieht. Darin sagt er der modernen Zivilisation den Untergang voraus und obwohl er selbst Vater und Großvater ist, warnt er dringend davor, Kinder in diese Höllenwelt zu setzen.
"Die Wahrheit ist, mir wird jedes Mal, wenn ich ein Neugeborenes sehe, schwer ums Herz. Ich bin schrecklich wütend, aber ich fühle mich auch die ganze Zeit schrecklich schuldig. Ich tue, was ich jetzt tue, weil ich es früher nicht getan habe. Ich habe mein Leben für Dinge verschwendet, die sich als trivial erwiesen haben, obwohl sie mir irgendwann wichtig erschienen."

Männer kommen nicht gut weg

Während der Ex-Freund ihr in einem Restaurant seine Thesen vorlegt, wundert sich die Erzählerin einmal, wie sehr dieser Mann gealtert ist und schlägt damit einen Bogen zu dem Thema, das sie selbst recht massiv umtreibt, das der alternden Frau. "Geschichten von Frauen sind häufig traurige Geschichten", heißt es einmal und es werden gleich mehrere Begegnungen mit älteren Frauen aufgeführt, die diese steile These unterfüttern sollen, was das Buch leider in eine leicht larmoyante Schieflage bringt. Männer kommen dabei nicht gerade gut weg. Schließlich mündet der Gram über das zerrüttete Verhältnis zwischen den Geschlechtern gar in einem Statement, das auf die politischen Verhältnisse in den USA anspielt.
"Das Durcheinander ist dichter, die Verwirrung tiefer, die Diskrepanz stärker. Rote Staaten und blaue Staaten. Und man vergesse freundlich und gut."
Doch nicht zuletzt und zum Glück ihrer Leserinnen ist Sigrid Nunez‘ Roman auch ein Buch über die Literatur. Immer wieder zitiert die Erzählerin Autorinnen und Autoren, deren Worte sie bewegt haben, darunter Patricia Highsmith, Ingeborg Bachmann und Gustav Flaubert. Zwar geraten die Nacherzählungen von Lektüreerlebnissen hin und wieder etwas zu ausführlich, doch darf schließlich die sterbende Freundin sagen, was womöglich der eigentlichen Haltung von Sigrid Nunez entspricht und von ihr aufgemachten Fronten zwischen Männer und Frauen relativiert.

Trostbuch über das Leben und Sterben

"Aber ich will nichts mehr über Narzissmus und Entfremdung und die Vergeblichkeit der Beziehungen zwischen den Geschlechtern lesen. Ich will nichts mehr über menschliche, vor allem männliche Abscheulichkeiten lesen. Was ist aus Faulkners Vorstellung geworden, dass es die Aufgabe des Schriftstellers ist, die Menschen zuversichtlicher zu machen?"
Wie bereits in "Der Freund" vermag Sigrid Nunez auch in "Was fehlt dir" in einem eher handlungsarmen Text, den sie in einem eleganten Plauderton formuliert, starke, hin und wieder provozierende Bilder zu platzieren und existentielle Themen zu verhandeln. Selbstbestimmtes Sterben, die Angst der Menschen vor der Bedeutungslosigkeit, die Wirksamkeit von Literatur. Und nie verliert Sigrid Nunez dabei aus dem Blick, dass wir uns am Ende doch alle nur eines wünschen: die manchmal herrliche, manchmal unerträgliche Strecke zwischen Geburt und Tod, die wir Leben nennen, so heil wie möglich zu überstehen.
Sigrid Nunez: "Was fehlt dir"
Aus dem amerikanischen Englisch von Anette Grube
Aufbau Verlag, Berlin. 222 Seiten, 20 Euro