Frauen in indischen Salwakamiz – langes Hemd über weiter Hose - steigen aus den Autos. Bärtige Männer mit und ohne Turban begrüßen einander. Der Sikh-Tempel im Hamburger Stadtteil Stellingen sieht aus wie ein Mehrfamilienhaus. Vor dem weißgetünchten Gebäude weht die deutsche Flagge und die orangefarbene Sikh-Fahne. Jeden Sonntag treffen sich hier bis zu Hundert Sikh-Familien, um gemeinsam den Gottesdienst zu feiern. Gleich hinter dem Eingang zieht man sich die Schuhe aus. Aus den Lautsprechern tönen religiöse indische Lieder, sogenannte Kirtans, die aus dem oberen Saal übertragen werden. Dort spielt heute ein kleines Ensemble.
Die Videokamera isst mit
Im Tempel duftet es nach den Gewürzen vom indischen Essen und dem traditionellen Chai. In der großen Versammlungshalle fallen sofort zwei große Bildschirme auf, die unter den Märtyrer-Bildern hängen. Seit dem Anschlag auf den Sikhs-Tempel in Essen vor einem Jahr, haben die Hamburger Sikhs eine Video-Überwachung eingerichtet. Zur eigenen Sicherheit vor potentiellen Attentätern. Denn die Sikhs pflegen traditionell den Tempel offen zu halten, jeder ist willkommen, unabhängig von der eigenen Religion. Und Sonntags gibt es in allen Sikh-Tempeln auf der Welt kostenloses vegetarisches Essen - für alle Besucher.
"Es ist jeden Tag auf. Es kann jeder kommen, es wird jeden Tag gekocht. Es gibt einen, der ist fest angestellt: der Koch, der die Küche organisiert. Dann haben wir zwei Priester, die sich fürs Gebet, für den Gottesdienst oben verantwortlich fühlen."
Sagt Gurbir Singh Muhar. Der 25-jährige Flugzeugingenieur mit orangefarbigem Turban trägt einen ungestutzten Vollbart. Nach der Tradition sollen Sikh-Gläubige ihre Haare nicht abschneiden. Trotzdem sieht man hier auch viele Sikhs mit kurzen Haaren. Eines aber eint alle: Sie bedecken im Tempel ihren Kopf mit einem Tuch oder einem Turban, die Männer genauso wie die Frauen.
"Wir sind alles eins"
Im Obergeschoss setzen sich zum Gottesdienst Frauen und Männer getrennt nach Geschlechtern auf den Teppich am Boden. Der Blick ist nach vorne auf das heiligen Buch der Sikhs gerichtet, den Adi Granth. Das heilige Buch liegt auf einem Podest unter einem Baldachin – eingerahmt von kostbaren Tüchern, Blumen sowie einigen Schwertern. Ein Mann schwingt immer wieder einen Fliegenwedel über dem Buch, als ob er einem König frische Luft zufächelt.
"Das ist die Schrift der heiligen zehn Gurus und in der ist das Wissen verfasst. Und da wird immer wieder gepredigt, kann man sagen, dass wir alle eins sind, alle Brüder, Schwestern wir sind alle eins."
Sartaj Singh trägt weder Vollbart, noch Turban, sondern ein dunkles Tuch auf dem Kopf. Der 29-jährige betont die Idee der Egalität unter den Sikhs. Er sagt: "Das wurde damals von Guru Nanak eingeführt, das soll zeigen, dass wir alle gleich sind, ob arm oder reich. Früher gab's viele Könige oder andere Kasten zum Beispiel. Die hat Guru Nanak abgelehnt. Also wer ein Sikh ist, der gehört keiner Kaste mehr an. Sikh heißt "Lernender", "Schüler" und man lernt sein ganzes Leben und es ist ein Prozess."
Guru Nanak ist der Begründer der Sikh-Religion – er lebte im 15. Jahrhundert. Nach ihm kamen weitere Gurus, aber der zehnte beendete die Linie. Ein Buch mit den gesammelten Hymnen und Weisheiten der Sikhs sollte fortan ihr Lehrer sein. In der Sikh-Religion finden sich Elemente aus dem Hinduismus, zum Beispiel der Glaube an die Wiedergeburt, aber man kann auch Texte aus dem mystischen Islam wiederfinden. Sikhs sind sie strenge Monotheisten und viele ernähren sich vegetarisch. Gott steckt in jedem Menschen, doch nur wer sich in Meditation übt, kann sich weiter entwickeln und das Gute in jedem Menschen sehen.
Hohe Ideale, kleine Schritte
In den Gottesdiensten werden aus dem heiligen Buch Hymnen gesungen. Andere Teile werden feierlich vorgelesen. Mit einem Projektor wird der Punjabi-Text und die englische Übersetzung an die Wand geworfen. Das heilige Buch erklärt, was korrektes Verhalten ist, dass man sich für die Gemeinschaft einbringt und unerschrocken für Liebe und Gerechtigkeit eintritt.
"Das ist das Wissen und das Wissen sollen wir praktizieren. Danach wird meditiert. Wir brauchen Wissen und die Praxis. Das Wissen alleine bringt nichts, man muss es dann auch ausführen und das ist das Wesentliche."
In jedem Menschen Gott zu sehen, ist ein hohes Ideal. Da kann man schnell an die eigenen Grenzen kommen. Deshalb reichen auch erst mal kleine Schritte, zum Beispiel über den ehrenamtlichen Dienst in der Gemeinschaft, betont Sartaj Singh.
"Die wichtigste Botschaft ist, dass wir das menschliche Leben bekommen haben als das größte Geschenk und wir es nutzen, um diesen einen Schöpfer wieder zu treffen. Das geht nur durch Meditation. Und das wird auch in dem Guru Granth Sahib – das ist unser Gottesbuch – erklärt. Das ist der innere Weg jeden Menschens – unabhängig, ob er eine Frau ist, ob er ein Mann ist, ob es ein Kind ist oder ein Erwachsener."
Gottesbegegnung – das ist das Ziel des spirituellen Wegs, sagt Rajbir Kaur, die mit ihrer Familie in den Tempel gekommen ist. Aber die Suche nach Gott, die innere Reinigung ist das Wichtigste. Es bedeutet, dass man Respekt vor allem Leben entwickelt und sich nicht über andere Religionen stellen darf.
Rajbir Kaur sagt: "Unsere Gurus haben sich auch geopfert, um die Rechte der Hindus zu bewahren. Weil für uns jeder Mensch, auch wenn er kein Sikh ist... Ein Sikh ist ein Schüler. Das heißt, wenn ein Hindu Gott sucht, ist er für uns auch ein Schüler. Er sucht was, er will was lernen. Sikh ist keine Religion, die sich von anderen abgrenzt. Sikh ist eine Religion, die sagt, jeder Mensch, der auf dem Weg ist, der ihn will, der ihn sucht, ist ein Sikh."
Wer Turban trägt, gilt als Taliban
In Deutschland sind die Sikh-Tempel, die Gurdwaras, mehr ein sozialer Rückzugsort, wo sich die Familien treffen und Punjabi sprechen. Doch mittlerweile haben die Sikhs erkannt, dass sie selbst die Initiative ergreifen müssen, dass sie sich öffnen müssen, damit sie in den Dialog der Religionen einbezogen werden.
Sartaj Singh erzählt: "Das ist ein Projekt, das in Zukunft ansteht. Wir arbeiten darauf hin, aber wir sind noch – wie sagt man - in den Kinderschuhen."
Während nach den Anschlägen auf das World-Trade-Center 2001 in Amerika Menschen die Turban-tragenden Sikhs mit Muslimen verwechselt haben, sei das in Deutschland jedoch eher selten. Aber:
"Menschen, die nicht viel in der Welt rumgekommen sind, verwechseln uns mit Muslimen. Da muss man sich ab und an 'Taliban' oder 'Terrorist' sich anhören. Das ist traurig, aber mit der Zeit ändert sich das. Wir versuchen da auch gegenzusteuern."
Zum Beispiel durch den Tag der offenen Tür, den es seit zwei Jahren bei den Hamburger Sikhs gibt. Auf Nachfrage gibt es auch Faltblätter über die Grundzüge des Sikh-Glaubens.
"In Amerika hatten die Sikhs große Probleme gerade nach den Terroranschlägen und da haben die große Kampagnen gestartet", sagt Sartaj Singh. "Aber wir sind jetzt in Deutschland und da ist es wichtig, das Land mit zu unterstützen. Wir sind ein Teil davon und wir müssen uns integrieren. Wir grenzen uns von nichts ab. Integrieren heißt ja nicht, dass er sich die Haare schneidet wie ich. Wichtig ist, dass er deutsch spricht und seinen Teil zum Land beiträgt. Damit das Land auch Erfolg hat und dass er ehrliche Arbeit leistet."