Christiane Kaess: Zu wenig Personal in öffentlichen Einrichtungen - das klingt erst einmal belanglos. Aber es führt zu Situationen, die einen ganz schön erschrecken können. Sei es das Krankenhaus, das keine Patienten mehr annehmen kann, egal wie dringend der Fall ist, oder die Feuerwehr, bei der nicht mehr klar ist, ob sie genügend Mitarbeiter hat, um Menschenleben bei ihren Einsätzen zu retten, oder Straftaten, die verjähren, weil die Staatsanwaltschaften wiederum zu wenig Personal haben.
Seit Jahren beklagt der Deutsche Beamtenbund einen gravierenden Personalnotstand. Das wird auch Thema sein heute bei der Jahrestagung des Deutschen Beamtenbundes in Köln. Wir können das jetzt vertiefen mit Ulrich Silberbach, Bundesvorsitzender des Deutschen Beamtenbundes und Tarifunion. Guten Morgen!
Ulrich Silberbach: Guten Morgen, Frau Kaess. Ich grüße Sie.
Kaess: Herr Silberbach, Sie beklagen ja seit Jahren die gleichen Missstände. Warum ändert sich nichts?
Silberbach: Na ja - es hat sich ja in den letzten Jahren was geändert. Das wollen wir gar nicht in Abrede stellen. Spätestens seit 2015 haben wir einen starken Personalaufwuchs, insbesondere in den Bereichen innere Sicherheit und in Teilen auch in Bildung und in anderen Bereichen. Aber das war das Dilemma, auf das wir jahrelang hingewiesen haben. Neben dieser herausragenden neuen Aufgabe kam hinzu und kommt verschärfend hinzu, dass wir uns im demographischen Wandel befinden.
Jedes Jahr haben wir die geburtenstarken Jahrgänge, die jetzt abgehen, die in Rente oder Pension gehen, und die Kolleginnen und Kollegen fehlen uns. Allein in Nordrhein-Westfalen sind es 13.500 Stellen, die im Moment nicht besetzt sind. Da reden wir gar nicht von dem Personal, was wir zusätzlich brauchen, sondern es sind nur unbesetzte Stellen und hier ist die Politik dringend gefordert.
"Jetzt rächt sich, dass man über Jahre den öffentlichen Dienst kaputtgespart hat"
Kaess: Das heißt, die Situation wird schlimmer?
Silberbach: Die Situation wird für uns schlimmer, eben weil der demographische Wandel, der zwar schon seit einem guten Jahrzehnt bekannt ist, aber bis jetzt nicht angegangen wird. Das war bisher der Fehler in der Politik. Die Politik merkt zwar, sie muss jetzt umsteuern. Jetzt rächt sich aber, dass man über Jahre hinweg den öffentlichen Dienst kaputtgespart hat, weil wir beispielsweise in den Ausbildungsstellen für die Polizei, die wir dringend brauchen, gar nicht so viele Ausbildungskapazitäten zur Verfügung stellen können, wie wir neue Leute brauchen.
Kaess: Wo, würden Sie sagen, ist die Not am größten oder für die Bürger am besten spürbar, am meisten sichtbar?
Silberbach: Sie haben es in Ihren Anteasern ja schon erwähnt. Das ist einmal das Thema innere Sicherheit. Die Menschen in diesem Land fühlen sich nicht mehr sicher. In vielen Stadtteilen von Großstädten traut sich die Familie, abends nicht mehr um die Häuser zu ziehen. Auch wenn die Politik das nicht gerne hört, leben wir in Teilen in No-Go-Areas, wo sich der normale Mensch abends nicht mehr herumtreiben will.
Das zweite große Themenfeld ist das Themenfeld Bildung, inklusive der frühkindlichen Bildung, heißt fängt in der Kita schon an. Hier fehlen uns Erzieher/Erzieherinnen und natürlich fehlen uns eine ganze Menge Menschen, die den Bildungsauftrag als Lehrerin, als Lehrer noch verantwortungsvoll übernehmen wollen.
Kaess: No-Go-Areas ist in der Tat ein starker Begriff. Da würden wahrscheinlich einige jetzt widersprechen. Und Sie haben es selber gesagt: Bund und Länder haben in den letzten Jahren wieder mehr Personal eingestellt, zum Beispiel auch mehr Polizisten. Warum reicht das trotzdem nicht?
Silberbach: Sie merken es ja an der Aktivität der Politik. Auf einmal geht das Thema Clan-Kriminalität auch Politikern über die Zunge. Es ist jahrelang verpönt worden, findet in diesem Land alles nicht statt. Mittlerweile erkennt die Politik an: Wir haben Clan-Kriminalität in den Großstädten.
Das ist immer unser Vorwurf. Die Politik versucht immer, alles erst mal zu negieren. Wir erwarten von der Politik, den Menschen die Wahrheit zu sagen, und dazu gehört, dass wir in den Themenfeldern innere Sicherheit und Bildung deutlich mehr investieren müssen, neben den anderen Themenfeldern, die auch in dieser Tagung angesprochen werden, dass wir natürlich generell in Fragen der Infrastruktur und im Thema Digitalisierung hinten anstehen, und hier muss mehr Geld in die Hand genommen werden. Und das können wir! Wir leben in einer Niedrigzins-Phase, dafür ist im Moment der richtige Zeitpunkt, in die Zukunft zu investieren.
Kaess: Herr Silberbach, die Ursachen, die Sie jetzt angedeutet haben, die sind ja bekannt, dass wir auch generell einen Fachkräftemangel in Deutschland haben und dass die Privatwirtschaft besser zahlt. Aber der öffentliche Dienst hat ja auch etwas zu bieten, zum Beispiel jede Menge Sicherheiten. Macht der öffentliche Dienst vielleicht einfach ein zu schlechtes Marketing?
Silberbach: Da sprechen Sie eine wunde Stelle an. Ich will Ihnen das mal ganz konkret sagen. Wir haben als DBB, Beamtenbund und Tarifunion, vor Jahren eine Aktion ins Leben gerufen: die Unverzichtbaren. Wir haben Stellenbörsen eingerichtet, was eigentlich klassische Aufgabe der Dienstherren und der Arbeitgeber war. Aber die haben das über Jahre hinweg nicht betrieben, sondern im Gegenteil Personal abgebaut, und wir haben uns dieser Verantwortung schon damals gestellt.
Das ist jetzt heute unsere Stärke, weil wir scheinbar besser wissen als mancher Arbeitgeber und Dienstherr, wo der Schuh drückt, und deswegen ist unsere Forderung, hier muss die Politik jetzt nachsteuern.
Kaess: Wie denn?
Silberbach: Durch natürlich mehr Personal einzustellen. Ich sage Ihnen nur mal Zahlen. Im Bereich der Polizei, wenn Sie Bundes- und Landespolizei zusammen nehmen, dann haben wir hier ein Manko von 40 bis 50.000 Menschen, die uns hier fehlen in diesem Land, um innere Sicherheit zu gewährleisten.
"Die jungen Menschen haben wieder Spaß am öffentlichen Dienst"
Kaess: Aber jetzt geht es ja darum, diesen Leuten die Jobs schmackhaft zu machen. Wie kann man es denn attraktiver machen oder attraktiver verkaufen und an den Mann bringen?
Silberbach: Die Attraktivität ist da. Ich bin selber sehr viel bei jungen Menschen unterwegs und betreibe auch Akquise für den öffentlichen Dienst, und da muss man feststellen, die jungen Menschen haben wieder Spaß am öffentlichen Dienst, wohl wissend, dass sie vielleicht zwei oder drei oder 400 Euro im Monat weniger verdienen als in der Privatwirtschaft.
Aber was immer wieder diskutiert wird von den jungen Menschen: Wir suchen eine sinnstiftende Tätigkeit. Und die kann der öffentliche Dienst natürlich bieten. Hier ist der Dienst am Gemeinwesen für die jungen Menschen tatsächlich wieder attraktiv. Es sind andere Lebensbiographien. Die jungen Menschen reden mit Ihnen heute nicht mehr darüber, ich will 30, 40 Jahre lang den gleichen Job machen, aber ich will im Moment eine Herausforderung annehmen, ich will für diese Gesellschaft etwas verändern und gestalten.
Das merken Sie auch natürlich an Fridays for Future etc. Deswegen wird auch das heute Thema unserer Tagung sein. Ich bin sehr froh, dass unser Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble sich heute einer Diskussion stellt nach einem Impuls, wo er mit jungen Menschen auch darüber diskutiert, wie kann Demokratie der Zukunft gestaltet werden.
"Der öffentliche Dienst hat auch über Jahrzehnte hinweg den Anschluss verpasst"
Kaess: Herr Silberbach, es gibt ja nach wie vor eine Menge Kritik auch am öffentlichen Dienst und eine laute zum Beispiel, dass von den mehr als viereinhalb Millionen Beamten, die wir haben, bei weitem nicht alle sinnvolle Jobs machen. Ich zitiere mal den Ökonomen Holger Mühlenkamp. Der ist Rektor der Deutschen Universität für Verwaltungswissenschaft in Speyer. Der nennt in der Zeitung "Die Welt" ein Beispiel. Er sagt, aus einem statistischen Landesamt höre er, dass Unmengen von Daten erhoben werden müssen, ein Großteil dieser Daten aber gar nicht mehr benutzt wird. Ist das ein Beispiel dafür, dass der öffentliche Dienst nicht fähig ist, sich Veränderungen anzupassen?
Silberbach: Ja, das ist aber eine falsche Diktion. Nicht der öffentliche Dienst ist nicht fähig, sich Veränderungen anzupassen, sondern die Politik. Wir selber predigen seit Jahren, lasst uns unseren Paragraphen-Dschungel mal durchforsten, ob das noch alles zeitgemäß ist. Unsere Wirtschaft jammert über überbordende Vorschriften.
Wenn Sie heute einen Fabrikneubau planen und den auf die Straße bringen wollen, dann brauchen Sie sechs bis acht Jahre. Das kann sich heute fast kein Unternehmen mehr erlauben. Wir wollen aber, dass die Unternehmen hier in Deutschland bleiben. Deswegen brauchen wir vernünftige Planungsvorgänge. Die müssen gestrafft werden, die müssen durchorganisiert werden - ist aber nur ein Beispiel.
Nehmen Sie das große Themenfeld Digitalisierung. Unsere Kolleginnen und Kollegen müssen heute noch - hochqualifiziert ausgebildete Kräfte - Routinearbeiten übernehmen, die in jedem Privatunternehmen mittlerweile von Algorithmen und Künstlicher Intelligenz übernommen wird. Hier hat der öffentliche Dienst auch über Jahre, Jahrzehnte hinweg den Anschluss verpasst. Nicht umsonst sagt unsere Bundeskanzlerin, die Bundesrepublik Deutschland ist digitales Entwicklungsland.
Kaess: Das ist unter anderem die Kritik an zu viel Bürokratie. Aber es heißt ja auch oft, der öffentliche Dienst ist einfach zu wenig flexibel, es könnten zum Beispiel auch Beamten zwischen den Behörden wechseln, je nachdem wo sie gebraucht werden, es könnten mehr Kompetenzen von außen eingekauft werden, es könnte mehr Zusammenarbeit und Arbeitsteilung geben. Warum tut sich da so wenig?
Silberbach: Weil die Beamtinnen und Beamten und die Beschäftigten im öffentlichen Dienst dazu zwar bereit sind, aber auch da starre Strukturen im öffentlichen Dienst im Moment dagegen sprechen.
"Natürlich ist die Politik an allem schuld"
Kaess: Die Politik ist an allem schuld?
Silberbach: Natürlich ist die Politik an allem schuld. Wissen Sie, das ist immer das, was ich in der Öffentlichkeit auch gerne darstelle. Nicht die Beamtinnen und Beamten machen die Gesetze. Die Politik macht die Gesetze. Wir führen die Gesetze aus und durch.
Kaess: Aber Sie haben ja Zugriff auf die Organisation, wie Sie sich organisieren. Und Sie haben ja auch bestimmt einen gewissen Spielraum in Ihrer Arbeit.
Silberbach: Natürlich haben wir einen gewissen Spielraum in unserer Arbeit. Aber der Spielraum wird auch ein Stück weit dadurch gehemmt und genommen, wenn die Politik meint, sie muss sich für jedes Problem externe Berater einkaufen, weil sie von vornherein voraussetzt, dass diese Expertise im öffentlichen Dienst nicht vorhanden ist.
Sie wissen selber: über 700 Millionen gibt die Bundesregierung für externe Beratungen aus. Bundeswehr und solche Fälle sind da natürlich die großen Leuchttürme, aber es geht quer durch die Verwaltung. Das ist erstens ein fatales Signal an die Qualität des öffentlichen Dienstes, denn was wird damit gesagt: Ihr habt es nicht drauf. Und wenn ich das Menschen sage, dann demotiviere ich Menschen.
Die Qualität, die Ausbildung im öffentlichen Dienst, die ist hoch, speziell, gar keine Frage, aber sie ist genau auf die Lebenslagen auch ausgerichtet, und das wird von der Politik natürlich auch wieder nicht genutzt. Im Gegenteil: Da holt man sich externen Sachverstand. Die Gutachten stehen im Schrank für teures Geld, kein Mensch kann sie umsetzen, und das ist ein Fehler, den die Politik seit Jahren auch begeht.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.