Archiv

Silke Scheuermann: "Wovon wir lebten"
Über die Lust an der Gefahr

Sozialer Abstieg, Drogen- und Gewaltexzesse, eine knallharte Geschichte: Silke Scheuermann ist eigentlich als feinsinnige Lyrikerin bekannt. In ihrem neuen Roman "Wovon wir lebten" schenkt sie ihren Leserinnen und Lesern nichts.

Von Claudia Kramatschek |
    Porträtfoto der Autorin Silke Scheuermann.
    Silke Scheuermann: "Auf eine Art ist das mein persönlichstes Buch, so komisch das klingt." (dpa/picture alliance/ Uwe Zucchi)
    "'Glaubst du, das ist eine tote Nutte?' Ich drehe mich um. Ein Stück über mir an der Böschung steht ein Junge, den ich hier noch nie gesehen habe. Von seinem Geschrei sind die Blesshühner, Enten und Nilgänse aufgeschreckt worden, die sich am Ufer versteckt halten; sie flattern wild durcheinander. Es ist sehr früher Morgen, ich kann die Nacht noch in der Luft riechen; Nebelreste qualmen über dem Flusswasser. 'Nein, ganz bestimmt nicht!', gebe ich ärgerlich zurück."
    Der da spricht, ist Marten – die Frau, die in der Böschung liegt, seine Mutter. Wieder einmal ist sie betrunken – auch der Umzug in eine neue Wohnung kann nicht übertünchen, dass die Verhältnisse in Martens Familie das sind, was man gemeinhin schwierig nennt: Seinen Vater hasst er. Seine Mutter wäre ohne ihn verloren.
    "Unsere Wohnung ist im ersten Stock. Gleich links, wenn man reinkommt, liegt mein Zimmer, gegenüber Mutters. Sie sind etwa gleich klein, aber nur ihres besitzt noch eine Tür. Die zu meinem hat Vater abmontiert, damit ich besser mitbekomme, wenn Mutter nachts mal wieder betrunken abhauen will, anstatt ihren Rausch auszuschlafen."
    Es ist ein krasser Einstieg in einen krassen Roman, in dem die Schriftstellerin Silke Scheuermann – von der Kritik gern festgelegt auf die feinsinnige Lyrikerin – ihren Lesern und Leserinnen für diesmal nichts schenkt: sozialer Abstieg, Drogen- und Gewaltexzesse, eine knallharte Geschichte. Silke Scheuermann:
    "Es haben immer alle herumgemeckert, das wäre Bildungsbürgertum, so kapriziös, die Frauen vor allem haben keine richtigen Probleme. ... Aber ne, das interessiert mich auch, wie es anders funktioniert: Ein gar nicht kunstaffines Milieu heißt ja auch, ... dass die Leute ihre Dramen selber durchmachen im Haus, also sich auf die Köpfe hauen, Berlin Tag und Nacht. Und das fand ich unglaublich spannend."
    Aus Langeweile und Zufall wird Marten zum Drogenkurier
    Marten wird im Verlauf des Romans alle Höhen und Tiefen durchlaufen, die man sich vorstellen kann: Eher aus Langeweile und Zufall wird er zum Drogenkurier; eine Ausbildung, die er beginnt, ödet ihn ebenso an wie ein Leben nach Reihenhausmodell; dem rasenden Stillstand, in dem er sich gefangen fühlt, sucht er mit Hilfe von Sex und Pillen zu entkommen.
    Er wird gewalttätig, verurteilt und lernt in der Resozialisierung Peter, einen ehemaligen Restaurantbesitzer kennen. Ausgerechnet mit Marten will Peter ein neues Restaurant eröffnen – so wird Marten eingeführt in die Welt der gehobenen Gastronomie.
    "Als Beilage hat uns Enrico Süsskartoffelschnitze eingepackt, leicht gesalzen und kross gebraten, Päckchen Nummer drei enthält das Dessert: warme, klebrige Mandelküchlein. 'Ricciarelli', nuschelt Peter mit vollem Mund. Und dann ist es wieder still im Wagen. 'Na', sagt Peter, 'ist das ein Kick? Mal ernsthaft: Das schießt dir ins Hirn und in die Muskeln wie reinstes Koks, oder? Kann irgendetwas besser sein?'"
    Die Lust an der Gefahr
    Doch unterhalb dieser erstaunlichen Wandlung vom Drogenkurier zum Starkoch – die für sich genommen wie ein Klischee klingen könnte – lauert etwas ganz Anderes: eine dunkle Energie, die Silke Scheuermann hier erkundet – eine Lust an der Gefahr und ein Leben, das sich scheinbar nur noch in der Grenzüberschreitung und im Exzess erfahren kann.
    Nicht nur Sex und Pillen geben Marten von früh an einen Kick – sondern auch das Töten und das Spiel mit körperlicher und seelischer Macht. Da ist etwa seine fatalen Beziehung mit einer jungen Frau namens Jenna – viele der Szenen sind schwer zu ertragen in der Ausbuchstabierung möglicher Formen einer quälerischen Unterwerfung. Was ist das, so fragt man sich vor allem als Leserin, für eine conditio humana, die Silke Scheuermann hier unter die Lupe nimmt? Scheuermann:
    "Das ist womöglich dasselbe wie bei einer Journalistin und Malerin wie in 'Die Stunde zwischen Hund und Wolf', die einfach sich selbst entgleitet und die Kontrolle verliert über so ein triebhaftes Wesen. Und dieser Unterschied zwischen Kultur: wie ist das überformt? Wie macht man sich oder hält man sich an Regeln? Das finde ich eben sehr interessant. Und ... wie ist es eigentlich, wenn jemand – ein Mann zumal – woanders aufwächst, wo das Faustrecht gilt?"
    Die Gegenfigur zu Marten und der Welt dieses Faustrechts bildet im Roman jene junge Frau, in die Marten sich ernsthaft verliebt: Stella von Sternburg, von adliger Herkunft, mit Berufswunsch Malerin und die erste Person, die ihn ebenso ernsthaft fragt, was er von seinem Leben erwartet.
    "Ihre großen dunkelblauen Augen sind auf mich geheftet. Prüfend, als ob es eine richtige und eine Menge falsche Antworten gebe. 'Puh, du stellst Fragen … Lass mich nachdenken. Eine gute Arbeitsstelle natürlich. Eine, die auch mal Spaß macht. Nette Kollegen.' Sie wartet. Ich füge hinzu: 'Ein Haus vielleicht, eine Frau, Kinder. Ein Auto. Einen Grillplatz und Schaukeln im Garten. So was in der Art. Eine glückliche Familie.' 'Ernsthaft? Das sind ja keine großen Erwartungen!' Sie lacht laut auf."
    Am Ende von seiner kriminellen Vergangenheit heimgesucht
    Immer wieder verlieren sich die beiden aus den Augen. Immer wieder begegnen sie sich. Ihre Liebe ist schwierig – auch, weil die Klasse, der sie jeweils angehören, sie subtil voneinander trennt. Silke Scheuermann:
    "Man fremdelt, wenn man in höhere Schichten reinkommt, die wirklich Geld haben, mit Geld aufgewachsen sind, das ist was anderes. ... Und genauso umgekehrt. .... Diese sozial wirklich schwachen Familien, das ist eben wie RTL, Wahrheitsfernsehen dann, und in beiden fühlt man sich nicht wohl."
    Was Marten und Stella verbindet, ist der Wunsch, etwas anderem anzugehören, die Membran zu durchtrennen, die jeden von uns an dem Ort gefangen zu halten scheint, dem wir entstammen. Doch Marten bleibt auch als Starkoch der Underdog, der er war – und wird am Ende gar von seiner kriminellen Vergangenheit heimgesucht. Stella wiederum wird als Künstlerin nie wirklich ernst genommen, eben weil sie reich und adelig ist. Letztlich spielt Silke Scheuermann im gesamten Roman mit solchen Übergangsmomenten.
    Dazu zählt erneut das Verhältnis zwischen Mensch und Tier. Nicht zufällig wird Marten zum Koch: Unser Umgang mit Essen und das heißt mit Fleisch eröffnet schließlich auch einen Blick auf unsere eigene Wolfsnatur. Silke Scheuermann klammert ihren Roman deshalb mit zwei korrelierenden Bildern: Am Anfang des Romans tötet Marten als Jugendlicher aus Frust das Kaninchen seiner Schwester. Am Ende des Romans schiebt Marten als Starkoch einen Braten in den Ofen. Ist das eine vom anderen wirklich so weit entfernt? Und warum und wie? Antworten liefert der Roman auf diese Fragen keine. Stattdessen weidet die Autorin ihre eigene Geschichte genüsslich aus: Kein Schlenker des Schicksals fehlt, immer wieder gibt es noch eine Wendung, noch einen Schlag auf den Hinterkopf ihres Protagonisten.
    Scheuermann: "Mein persönlichstes Buch, so komisch das klingt"
    Es ist, als exerziert auch der Roman eben jenen Exzess, der seinen Gegenstand bildet. Großartig auch, wie die Lyrikerin bis in die Idiomatik des von ihr beleuchteten Milieus hinein schlüpft, sich dessen Jargon, dessen innere Seelenwelt anverwandelt. Scheuermann:
    "Ich habe als Kind in Oberrad gewohnt, im Osten von Frankfurt, in einem Riesenwohnblock. Mein Vater war bei der Bahn, meine Mutter war Hausfrau. Kleine Wohnung, und da habe ich eben so in den Gängen im Mietshaus die Leute kennen gelernt und auch so Leute, die so Sachen machten. ... Und dann bin ich jetzt eben nach Offenbach von Frankfurt Sachsenhausen gezogen. Und auf der Straße erinnerte ich mich doch an vieles, ... und das war für mich die Klammer, dass ich dachte, ich muss darüber schreiben. Und es ist mir eben noch sehr nah, näher als ich jemals dachte. Auf eine Art ist das mein persönlichstes Buch, so komisch das klingt."
    Die quälende Frage, die dieser so burlesk wie brutale Roman uns also in Wahrheit stellt, lautet insofern: Wer und was sind wir – und können wir überschreiten, wer wir sind?