Frust im alltäglichen Straßenverkehr über Sperrungen und Umleitungen infolge von Rettungseinsätzen, der sich in Wut, Hasstiraden und Beleidigungen entlädt; Auseinandersetzungen mit "Gaffern", Voyeuristen und Social-Media-Aktivisten, die Retter bei der Arbeit behindern; handfester Streit mit Patienten unter Drogen- oder Alkoholeinfluss, weil diese in dem Moment nicht begreifen, dass es sich um Sanitäter handelt, die ihnen helfen wollen, und deren Einsatz als Eingriff in ihre Privatsphäre und als Form der Entmündigung verstehen. Solche Erklärungen für verbale und körperliche Gewalt werden von Experten und Vertretern der Feuerwehr und der Rettungsdienste seit Langem benannt. Sie sind bekannt.
Aber an Silvester geschah etwas Anderes: Da wurden die Retter von Unbeteiligten beim Löschen attackiert, mit Feuerwerk beschossen, gezielt in die Falle gelockt und geplündert oder im Vorbeifahren mit einem Feuerlöscher beworfen. Laut dem emeritierten Professor für Kriminologie, Thomas Feltes, werden solche Übergriffe erst seit vier Jahren systematisch erfasst. Die Intensität, wie man sie zu Silvester gesehen haben, sei neu, sagte er der "Berliner Morgenpost": "Ansonsten ist Gewalt gegen Feuerwehr in den vergangenen Jahren sogar rückläufig gewesen, die gegen Rettungskräfte steigt allerdings an."
Eine Folge von Corona und der Energiekrise
Möglicherweise handelt es sich unter anderem um eine Folge der Corona-Pandemie und der Entwicklungen der Querdenker-Szenen. Sanitäter stünden in so einem Kontext stellvertretend für diejenigen, die einem die offenbar verhassten Schutzmaßnahmen und Impfung eingebrockt haben. "Fast drei Jahre Pandemie Ausnahmezustand, überall Schikanen, Repressionen und Bullen, jetzt die nächste solidarische Anstrengung der Gesellschaft, alle haben Opfer für den gerechten Krieg aufzubringen", zitiert der "Focus" den Blogger Sebastian Lotzer auf der linksradikalen Plattform "non-copyriot.com". Ähnlich äußerten sich Schüler aus Neukölln in einem Beitrag für das ARD-Fernsehen.
Rettungskräfte gelten vielen als Vertreter des Staates - aus Unkenntnis oder weil sie sie so sehen wollen. "Wer Berufskleidung trägt, wer einer Organisation angehört, wer beauftragt ist, zu helfen“, erklärte schon vor einem Jahr der Kulturwissenschaftler Daniel Hornuff im Deutschlandfunk Kultur, "der steht unter Verdacht, Handlanger des Systems, ein sogenannter 'Systemling', ein Ausführender der politischen Staatsmacht zu sein: Unter dem Deckmantel der guten Tat werde die Unterdrückung der Bevölkerung vorangetrieben."
"Dienstbekleidung wird als Feindbild empfunden"
Die Feuerwehr selbst beobachtet das schon lange. "Dienstbekleidung wird als Feindbild empfunden", hieß es schon vor Längerem beim Bayerischen Roten Kreuz ebenso wie vom Sprecher der Deutschen Feuerwehr-Gewerkschaft, Tobias Thiele, der 2018 der Zeitung "Bild" sagte: "Viele Menschen wollen oder können nicht mehr zwischen Feuerwehr und Polizei unterscheiden. Für die reicht es, dass jemand eine Uniform trägt." Auch der Rettungsdienst werde heute "aufgrund seiner Präsentation in der Öffentlichkeit als Teil des Staates eingestuft", heißt es in einer DRK-Studie.
Hinzu kommt offenbar eine nicht unerhebliche Geringschätzung. Der Respekt vor Uniformträgern habe enorm abgenommen, vor allem bei jungen Männern zwischen 20 und 29 Jahren, sagte Alfred Gebert, Professor für Psychologie und Soziologie an der Fachhochschule des Bundes in Münster, der Deutschen Welle. Einzelne Studien belegen die hohe Relevanz von Gewalt gegen Einsatzkräfte. Bereits vor etwa fünf Jahren starteten Rettungsdienste und Feuerwehren die Kampagne "Respekt? Ja – Bitte!"
Nicht in allen Ländern hat die Feuerwehr hohes Ansehen
Ein Großteil der Randalierer hatte einen Migrationshintergrund. In vielen Ländern weltweit stehen Feuerwehr und Sanitäter an der Spitze von Rankings zu Berufen, denen die Bevölkerung großes Vertrauen entgegenbringt. Aber nicht in allen. Wie das Nürnberg Institut für Marktentscheidungen unter Verweis auf eine GfK-Studie schreibt, haben Feuerwehren beispielsweise in Kenia oder Nigeria, wo sie vermutlich aufgrund mangelnder Ausrüstung und Infrastruktur weniger effektiv sind als anderswo, einen weniger guten Ruf.
Zudem agieren Einsatzkräfte in Staaten mit diktatorischen Regimes oder in Kriegsgebieten oft als Handlanger des Gegners. In vielen Staaten gibt es keine freiwilligen, sondern nur Berufsfeuerwehren, die an den Polizei- und Militärapparat angedockt sind, wie in einer Anhörung des Ausschusses für Kommunale Fragen, Innere Sicherheit und Sport 2021 im Bayerischen Landtag betont wurde. Die Jobs dort hätten nur eine geringe Reputation und würden oft von ausländischen Gastarbeitern ausgeübt.
Die hessische Landesfeuerwehrverband gibt sogar explizite Handlungsempfehlungen für interkulturelle Kontext, da „die Feuerwehr in vielen Herkunftsländern von Migrantinnen und Migranten mit Militär und Staatsmacht verbunden wird“.
Blaulicht, ähnliche Uniformen, ähnliche Notrufnummer
Blaulicht, ähnliche Uniformen, ähnliche Notrufnummern (110, 112, 116117) - manches suggeriert eine direkte Verbindung zu staatlichen Organen und zur Polizei. Dass Polizisten in Deutschland als zentrales Organ der Exekutive von Verbrechern, Randalierern und Extremisten zum Gegner erklärt werden, ist bekannt. Somit könnte auch eine mangelnde Unterscheidung aus Unkenntnis bei einigen dazu führen, dass sie Rettungskräfte und Feuerwehrleute mit ihnen in einen Topf werfen. Und die Gruppen, aus denen heraus die Gewalt gegen Einsatzkräfte entsteht, entstammen laut Kriminologe Baier eben aus Milieus, "in denen staatliche Autorität nicht viel gilt."
Rettungskräfte und Feuerwehrleute als "Störenfriede"
Diese Gruppen haben nicht nur Ressentiments, sondern Feindbilder gegenüber Polizei und Rettungsdiensten, fügte sein Bielefelder Konfliktforscher Andreas Zick im ZDF hinzu, und sie würden von ihnen "als Störenfriede wahrgenommen" - als Personen, die ihre Silvesterpläne für eine "ausgelassene Party" durchkreuzen und daher attackiert werden müssen.
Vielleicht geht es gar nicht konkret um Rettungskräfte und Feuerwehren?
Manche Äußerungen von Experten und Betroffenen lassen vermuten, dass es gar nicht explizit um ein Feindbild Rettungskräfte geht, sondern dass sie Opfer einer Gruppendynamik werden. Für Bewohner von Berlin Neukölln etwa kamen die Ausschreitungen an Silvester keineswegs überraschend. "Wie andere Kaffee trinken, beschießt man einander hier an Silvester", erzählte der Restaurantmitarbeiter Firas Al Dusodi der Berliner Zeitung: "Was sich stundenlang im ganzen Bezirk Neukölln abgespielt hat, war vielmehr eine Feuerwerksschlacht."
Nachdem was man bisher über die Silvesternacht wisse, scheint es aus Sicht von Menno Baumann, Professor für Intensivpädagogik von der Fliedner Fachhochschule Düsseldorf, ein Prozess gewesen zu sein, "der sich als kollektives Gruppenphänomen beschreiben lässt." Er würde von einer "spontanen Synchronisation" sprechen, erklärte er innerhalb einer längeren Abhandlung auf Twitter: "Das heißt: Ein Impuls zu gewaltförmigen Handlungsmustern pflanzt sich in einer Gruppendynamik fort, und plötzlich handeln oft viele Individuen als ein Korpus. Diese Phänomene sind bestens und aus allen Zeiten bekannt."
"Likes, Followerzahlen und ähnliches als Währung eines unreflektierten digitalen Narzissmus"
Hinzu kommt bei Einzelnen vielleicht auch der Wunsch nach Öffentlichkeit und medialer Aufmerksamkeit. Das deutete der Cyberkriminologe von der Hochschule der Polizei des Landes Brandenburg, Thomas-Gabriel Rüdiger, an. "Meiner Erfahrung nach werden mittlerweile Grenzüberschreitungen gerade von jungen Menschen auch begangen, um 'fame' in Sozialen Medien zu erhalten", führte er ebenfalls auf Twitter aus. Zum Beleg verwies Rüdiger auf das filmische Festhalten der Taten. Likes, Followerzahlen und ähnliches seien die "Währung eines unreflektierten digitalen Narzissmus."
Angesichts des hier skizzierten "Event-Charakters" könnte es sich bei einigen Täterinnen und Tätern auch um eine ähnliche Motivation handeln, wie bei Jugendlichen, die früher Böller in Briefkästen geworfen haben. "An Silvester sind Gruppen junger Menschen beieinander, man trinkt viel Alkohol", erklärte der Sozialpsychologe Ulrich Wagner von der Universität Marburg im RBB: "Es ist eine Stimmung zwischen heiter und aggressiv - und dann tauchen Rettungskräfte auf, Polizei oder Feuerwehr."
"Scherz" - "Riesengaudi" - "Kriegsspiel"
Der Kampf gegen sie ist für Wagner dann eine Mischung aus "Attacke und Scherz". Dirk Baier spricht von einem "Machtspiel": Man könne zeigen, dass man es schaffe, selbst die Feuerwehr mit einer kollektiven Aktion aufzuhalten, führte im BR-Hörfunk aus. Auch der Neuropsychologe Thomas Elbert argumentiert im Gespräch mit dem Redaktionsnetzwerk Deutschland in diese Richtung: „Alkohol und andere Drogen senken bekanntermaßen die Hemmschwelle. Es ist dann eine 'Riesengaudi', gegen die Ordnungskräfte Feuerwerkskörper einzusetzen und 'Krieg' zu spielen.“ Die Vorfälle unterscheiden sich nach Elberts Einschätzung nicht sonderlich von anderen Ereignissen zu anderen Jahreszeiten, "nur dass nicht Bierflaschen und Steine fliegen, sondern Feuerwerkskörper."
"Junge, frustrierte Menschen, die beruflich, persönlich und sexuell versagen"
Wenn aus "Spaß" Ernst wird, kann sich die Situation nach Einschätzung von Forschenden und Experten, mit negativen Erfahrungen aus der Vergangenheit aufladen - wie sozioökonomische und persönliche Probleme, Diskriminierungen in Deutschland oder Erlebnisse aus Kriegen und Konflikten, die den Beschuss mit Feuerwerkskörpern als Bagatelle erscheinen lassen. Die Enthemmung nehme ihren Lauf, wenn zu bestimmten Ereignissen wie Silvester oder einem Fußballspiel Menschen mit einer Reihe bestimmter Probleme zusammen kämen und auf staatliche Akteure träfen, schreibt "Die Zeit" unter Berufung auf Dirk Baier: Ein Mix aus jung, männlich, weniger gut ausgebildet und Migrationshintergrund seien die begünstigenden Faktoren, die Menschen aus Gruppen heraus gewalttätig werden lassen.
Das bestätigte dem Blatt auch der Essener Erziehungswissenschaftler Christian Lüdke. Eine Gewaltneigung entwickeln demnach insbesondere junge, frustrierte Menschen, die "beruflich, persönlich und sexuell versagen, die keine Ausbildung haben", die sich unbewusst ohnmächtig fühlten: "Diese Ohnmacht wird für eine kurze Zeit in Allmacht verwandelt." Womöglich spielen bei einzelnen auch Phänomene wie racial profiling bei der Polizei in ihre Motivation mit hinein, oder rechtsradikale Umtriebe bei Rettungsdiensten, oder mangelnde Einbindung von Menschen mit Migrationshintergrund bei der Feuerwehr.
Es geht auch um "Männlichkeit"
Der Polizeisoziologe Rafael Behr von der Hamburger Polizeiakademie ist der Meinung, dass Gewalt Teil der Demonstration einer bestimmten Form von Männlichkeit ist: "Es hat sicher damit zu tun, wie einige junge Männer in der Öffentlichkeit gesehen werden wollen, bei der es oft um eine Demonstration von Stärke geht." Zugleich betont er, diese Tatsache werde "von den Medien oft dramatisiert".
Grundsätzlich verweist Gewaltanwendung oft auf Familienprobleme in der Vergangenheit. Der Neuropsychologe Thomas Elbert erklärt: "Was wir aus vielen Untersuchungen sehr gut wissen, in die Millionen Menschen einbezogen waren: Gewalt entsteht immer nur aus Gewalt. Es zielt nur derjenige wirklich darauf ab, andere zu verletzen, der selbst Gewalt in Kindheit und Jugend erfahren hat. Wenn Leute aus Kulturkreisen kommen, wo Kinder noch mit massiven Bestrafungen erzogen werden – ich rede von echter Körperverletzung – dann haben Sie vermehrtes Gewaltpotenzial. Die Überlegung, sich durch Straffälligkeit die Zukunft zu verbauen, wird nicht von dem aufgestellt, der glaubt, sowieso keine Zukunft zu haben, gesellschaftlich nicht Fuß fassen zu können. Dem wird eine Bestrafung egal sein."