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Simon Stones "Medea" in Wien
Vor dem Kindsmord einen Gutenachtkuss

Sie ist die berühmteste Kindesmörderin der Weltliteratur: Medea, die Königstochter aus Kolchis, die aus Rache an ihrem untreuen Gatten ihre Kinder umbringt. Der australisch-schweizerische Regisseur Simon Stone hat sich die Medea nun im Wiener Burgtheater vorgenommen.

Von Günter Kaindlstorfer |
    Medea mit ihren Kindern in der Inszenierung von Simon Stone am Burgtheater. | Georg Soulek / Burgtheater
    "Theater für die Netflix-Generation": Caroline Peters in Simons Stones Medea am Burgtheater (Georg Soulek/Burgtheater)
    "Überschreiben" nennt Simon Stone das, was er mit Klassikertexten tut - und das trifft es ganz gut. Mit Euripides' "Medea" hat, was sich da auf der Bühne des Burgtheaters vollzieht, nur mehr den - Stone würde wohl sagen: Plot gemein. Der Australier mit Schweizer Wurzeln hat den Medea-Mythos neu formatiert und kompromisslos ins Heute versetzt.
    Anna heißt seine zentrale Protagonistin - eine gefühlsstarke Pharmazeutin mit unkontrollierbaren Eifersuchtsanwandlungen. Vor einiger Zeit hat Anna versucht, ihren Mann Lucas zu vergiften. Nach einem Aufenthalt in der Nervenklinik kehrt sie nun auf Besuch zum Ex zurück:
    LUCAS: "Du siehst gut aus."
    ANNA: "Ich hab zugenommen."
    LUCAS: "Steht dir."
    ANNA: "Gefällt’s dir?"
    LUCAS: "Ja."
    ANNA: "Wir mussten jeden Tag malen."
    LUCAS: "Ah, das ist..."
    ANNA: "Der Rahmen ist auch von mir."
    LUCAS: "Sehr schön ist der."
    ANNA: "Ist ein Schiff im Sturm."
    LUCAS: "Wirklich?"
    ANNA: "Die Arche Noah."
    LUCAS: "Ah, ja, jetzt seh ich..."
    ANNA: "Die Tiere ertrinken alle, eins nach dem anderen."
    LUCAS: "Die, die’s nicht mehr auf die Arche geschafft haben."
    ANNA: "Nein, die Noah gerettet hat."
    LUCAS: "Ah, die ertrinken auch?"
    ANNA: "Ja, die haben sich in Sicherheit gewogen, und dann ist aber ein zweiter Sturm aufgekommen, und dann ist die Arche gekentert, und dann sind die eben auch alle ertrunken. Siehst du die tote Taube da, ganz oben auf der Woge? Den Ölzweig noch im Schnabel."
    LUCAS: "Ich find’s toll, dass du das alles so ausdrücken kannst. Sie sagen, dass das sehr wichtig ist."
    ANNA: "Ja, stimmt, stimmt. Das sagen die."
    In der Wahl des therapeutischen Bildmotivs kündigt sich kommendes Unheil schon an. Caroline Peters als Medea, pardon, Anna, spielt die zentrale Protagonistin des Stücks als hochintelligente Gefühls-Extremistin, die vergebens hofft, den Gatten und die beiden Kinder zurückgewinnen zu können. Allerdings muss sie feststellen, dass Lucas schon eine neue Liebe gefunden hat – eine Jüngere, versteht sich.
    ANNA: "War’s schön mit ihr?"
    LUCAS: "Das ist kein gutes Gespräch."
    ANNA: "Nee, ist nicht das beste. Aber ist auch nicht das schlechteste. Und, äh, ist es was Ernstes mit ihr, oder lenkst du dich nur mit ihr ab."
    LUCAS: "Ich weiß es nicht, Anna."
    ANNA: "Ich wüsste halt nur gern, mit wem ich es zu tun habe."
    LUCAS: "Mit wem du es zu tun hast?"
    ANNA: "Ja, gegen wen ich dich zurück erkämpfe."
    LUCAS: "Ohohoho."
    ANNA: "Ja. Wirst du schon sehen. Werd´ ich schon schaffen."
    LUCAS: "Das glaub ich nicht."
    ANNA: "Das brauchst du nicht glauben, das werd ich schon schaffen."
    LUCAS: "Anna, fang gar nicht erst an."
    ANNA: "Doch, heute."
    Szenen einer Ehe 2018: Sie spielen sich auf einer aseptischen Bühne von makellosem Weiß ab - wie in einem Labor. Was das Publikum erlebt: eine Dreierbeziehungs- und Ehetrennungsschlacht, in der die beteiligten Kinder als machttechnisch vielseitig einsetzbare Waffen verwendet werden. Etwa, wenn Anna und ihre von Mavie Hörbiger gespielte Nebenbuhlerin aufeinandertreffen. CLARA: "Ich bin Clara."
    ANNA: "Ich weiß, wer Sie sind. Nehmen Sie's nicht persönlich, aber ich muss Ihnen sagen, in meiner Funktion als Mutter - und das werden Sie sicher eines Tages verstehen - aber in meiner Funktion als Mutter hab ich jetzt kein gutes Gefühl dabei, Ihnen meine Kinder mitzugeben."
    Simon Stones Version des Medea-Stoffs beruht auf einer wahren Geschichte: 1995 setzte die US-amerikanische Ärztin Deborah Green nach einer Scheidung das eheliche Heim in Brand und tötete dabei ihre drei Kinder, um sich an ihrem Mann zu rächen.
    Simon Stones Medea-Überschreibung ist nicht mehr ganz taufrisch. Es handelt sich um die Weiterentwicklung einer Produktion, die bereits 2014 in Amsterdam ihre Uraufführung erlebte - die Überschreibung einer Überschreibung also. Gleichwohl: Der Abend funktioniert. Das liegt nicht zuletzt an der fulminanten Besetzung: Christoph Luser, Irina Sulaver, Falk Rockstroh und Steven Scharf als Lucas machen das Bühnengeschehen auf eindringliche Weise plausibel. Caroline Peters in der Rolle der Anna-Medea spielt überhaupt eine der Rollen ihres Lebens. Am Ende rieselt schwarze Asche vom Schnürboden auf die Bühne herab, Anna bedeckt damit ihre Kinder, bevor sie zum Tötungsakt schreitet:
    ANNA: "Die Kinder schlafen jetzt. Die haben Panik geschoben, aber ich hab ihnen Diazepam verabreicht, und dann haben wir Late-Night-Fernsehen gekuckt, bis sie weggeschlafen sind. Die werden von all dem überhaupt nichts merken. Und das Letzte, was sie gesehen haben, ist ihre Mutter, wie sie ihnen einen Gute-Nacht-Kuss gibt, und wie das Licht langsam ausgeht, während sie 'Schlaf gut' flüstert."
    Man sagt, Simon Stone mache Theater für die Netflix-Generation. Dagegen ist nicht das Geringste einzuwenden, schon gar nicht, wenn ein Theaterabend so unter die Haut geht wie diese "Medea" am Burgtheater. Verdienter Applaus für alle Beteiligten.