Simon Strauß ist sich bewusst, mit wem er sich hier misst. Gleich im ersten Satz von "Römische Tage" erinnert er an den großen Romdichter, der die ewige Stadt 231 Jahre und acht Monate vor ihm in die deutsche Literaturgeschichte einschrieb. Goethe natürlich, wer sonst.
Da trifft es sich gut, dass Simon Strauß sein römisches Quartier in Sichtweite des Casa di Goethe nimmt, in der berühmten Via del Corso. Den Meister im Blick, die "Italienische Reise" griffbereit, streift der Autor acht lange Sommerwochen durch Rom und beschreibt, was er tut, sieht und denkt.
Wobei ihm nicht viel liegt an sommerlicher Leichtigkeit, denn die Themen, die Simon Strauß verhandelt, sind groß. Ein schwacher Herzmuskel lässt ihn über die Endlichkeit des Lebens sinnieren, dabei ist er gerade 31. Auch der frühe Tod eines engen französischen Freundes treibt ihn um. Rom sehen und sterben - für Simon Strauß ist dieses geflügelte Wort keine pure Floskel.
"Rom und der Tod, ist das nicht das eigentliche Liebespaar? Südlich, in der Sonne sterben, nicht kalt verzweifelt wie im Norden. In Rom scheint man großzügiger, hier bleibt auch danach irgendwie alles beisammen. Eine Stadt, in der die Vorstellung, ums Leben zu kommen, nichts Bedrohliches hat. Wo immer eine Kirche in der Nähe ist, an deren Schwelle man den Kopf noch einmal zur Sonne wenden kann."
Die Sehnsucht junger Leute
Doch glücklicherweise bleibt es nicht bei diesen melancholischen Gedanken - und folgen wir Simon Strauß durch die Straßen und auf die Plätze Roms, deren Treiben er fotografisch genau beschreibt: die Kellner und Händler der Stadt, die jungen Männer auf ihren Vespas, die um Frauen werben.
Er sucht Orte auf, an denen vor ihm Schriftsteller gelebt haben, Elsa Morante etwa oder Ingeborg Bachmann. Er trifft ältere Herrschaften, die ihm ihre Variante von Rom erzählen, spricht mit jungen Leuten über ihre Sehnsucht, das marode Italien zu verlassen und sucht die auf, die gerade in diesem Land ihr Heil suchen. Einmal besucht er ein Flüchtlingslager, weil er wissen will, wo all die illegalen Straßenhändler wohnen, von denen es in Rom so viele gibt.
"An einer Regentonne lasse ich mir von einem blinden Mann seine Verletzungen zeigen, er führt meine Hand an seinen Bauch, lässt mich drei lange Messerschnitte fühlen in schuppigem Fleisch. Ein kleines Mädchen läuft in alte Arme, auf dem schlammigen Boden liegen leere SIM-Kartenhalterungen, Efeu wächst an der Rückwand einer verfallenen Kaserne."
Und dagegen Deutschland?
In diesen beschreibenden Passagen ist der Text am stärksten. Schwächer wird er, wenn das Beschreibende ins Pamphletische fällt, wenn Simon Strauß sich gedanklich von Rom entfernt und die eigene Heimat zu fassen versucht.
"Und dagegen Deutschland? Atmet durch zwei unterschiedliche Masken. Herzrhythmusstörungen auch hier. Ost und West sind nach wie vor wegweisende Kategorien, die Steuer schreibt die Geschichte. Vor der Nation zucken die Verwalter zusammen, reden lieber von Menschen als von Bürgern und halten bei Auschwitz den Atem nicht mehr an. Strategien machen die Ordnung, Beratung ersetzt das Gespräch, behauptete Eigenart übertrifft kritische Empfindung."
Es ist nur ein Absatz, der zu viel will und die Leserin ratlos zurücklässt. Möglicherweise ist er als Antwort Simon Strauß' gemeint auf die merkwürdige Diskussion, sein Romandebüt "Sieben Nächte" spiele neurechten Bewegungen in die Hände. Doch es wäre ungerecht, "Römische Tage" auf ratlos machende Sätze zu reduzieren, denn sie sind Teil der Geschichte. Der Geschichte eines Mannes, der in sich hineinhört, sich prüft, der, wie er schreibt, die Gegenwart abschütteln will und sich fragt, in welche Zeit er eigentlich gehört.
"Oft fühle ich mich wie ein Befallener, zerfressen von vergangenen Idealen, getrieben von unbefriedigtem Ehrgeiz. Wer zu spät auf die Welt gekommen ist, wird seine Zeit nie finden, sagt man. Wonach also soll ich meine Uhr stellen?"
Junger Mann mit alter Seele
Simon Strauß schreckt vor Pathos nicht zurück und ob der in unsere vermeintlich aufgeklärten Zeiten passt, genau daran scheiden sich die Geister. Doch scheiden sie sich wohl vor allem an seiner moralischen und politischen Aufladung. Lässt man diese vage Aura jedoch weg, bleibt vom Pathos ein Ergriffensein, ein leidenschaftlich-bewegter Gefühlsausdruck. Davon ist "Römische Tage" durchdrungen. Simon Strauß formuliert mit Inbrunst Sätze, mit denen er sich leicht lächerlich machen könnte, aber das scheint ihm egal zu sein. Es ist eine Haltung, die Mut erfordert, wenn ringsum die Coolness und die Nüchternheit das Maß der Dinge ist. So wie 231 Jahre und acht Monate zuvor ist Rom bis heute offensichtlich ein inspirierender Ort für hochsensible Menschen mit literarischen Ambitionen.
"Morgens wenn ich über die Stadt schaue, wie sie sich streckt, ihre Kuppeln gen Himmel richtet und stolz ihren Marmor zeigt, dann denke ich, dass es nichts Stärkeres geben kann als diesen Blick. Dieses Gefühl, Teil der Jahrtausende zu sein. Hier sein, hier sein, nur Hier sein. Hier bin ich glücklich, hier habe ich alles. Bin Jedermann und doch außerordentlich."
Irritierend und rührend zugleich
Doch nach acht Wochen enden die "Römischen Tage" für den verliebten, zum Pathos neigenden jungen Schriftsteller. Simon Strauß geht alle Wege ein letztes Mal und fragt sich, was es mit ihm gemacht hat, ob er ein anderer geworden ist.
"Heute durch die Porta del Popolo gelaufen und nicht daran gedacht. Einfach durch sie hindurch geschlendert und nichts gefühlt. Kein Hoheitsempfinden, keine Ganzheitssehnsucht. Das alte Leben greift wieder nach mir. Wiederholung, Wiederholung. Alles nur Wiederholung."
"Römische Tage" von Simon Strauß - hier schreibt ein junger Mann mit einer alten Seele. Das ist irritierend und rührend zugleich. Lesenswert ist es in jedem Fall.
Simon Strauß: "Römische Tage", Tropen Verlag, Stuttgart, 142 Seiten, 18 Euro