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Simone Buchholz: "Mexikoring"
Feministischer Hamburg Noir

Krimi-Autorin Simone Buchholz schickt ihre starke Staatsanwältin Chastity Riley zum neunten Mal aus, um für eine eigene Art von Gerechtigkeit zu kämpfen. Ein Krimi zwischen Clan-Kriminalität und großer "Romeo und Julia"-Erzählung.

Von Katrin Schumacher |
    Die Schriftstellerin Simone Buchholz und Ihr Kriminalroman "Mexikoring"
    Seit zehn Jahren begeistert Chastity Riley, erdacht und auf Jagd geschickt von Simone Buchholz (Buchcover Suhrkamp Verlag / Autorenportrait ©Gerald von Foris/Suhrkamp Verlag)
    Der Mexikoring in Hamburg. Fassaden in den Himmel. Lego Minecraft häuserhoch. Geplant im vergangenen Jahrhundert als Entlastungszentrum, die Hamburger City Nord, heute ein einziger grauer Angriff.
    "Ein paar Architekten auf Speed, die gegeneinander Tetris spielen wollten, und dann ist alles aus dem Ruder gelaufen. Brutale Brocken aus Waschbeton und Stahl stehen in der Gegend herum, in den sechziger und siebziger Jahren waren sie mal weiß, es hat geglänzt, inzwischen blättert das Licht in großen Stücken ab. Überall sind Risse."
    Es sind die Risse, die Simone Buchholz interessieren, genau hier lässt sie ihre Geschichten wuchern. Und diesmal lässt sie es brennen zwischen den Rissen.
    Früh am Morgen wird ihre Staatsanwältin Chastity Riley an einen Tatort telefoniert.
    "Ob ich da eben hin könnte. Ein brennendes Auto. Schon wieder. Wir müssten das mit den brennenden Autos langsam mal in den Griff kriegen, hieß es. Die brennenden Autos interessieren mich nicht besonders. Du weißt genau, warum deine Autos brennen, Hamburg. Aber diesmal wurde nicht nur ein Auto angezündet, sondern auch ein Mensch."
    Kiegerische Stämme, 800 Jahre alt
    Nouri Saroukhan, ein junger Mann im dunklen Anzug. Elegantes Gesicht, kinnlange schwarze Locken und eine zu zarte Konstitution. Er wird sterben, nachdem er mit ein kleinwenig Leben noch im Körper aus dem brennenden Fiat befreit worden ist. Ein Suizidversuch? Fremdeinwirkung?
    Schnell steht fest: der Tote ist nicht irgendwer, sondern Spross des kriminellsten Clans Norddeutschlands. Eine schnell gebildete SOKO muss sich in die Bandenstrukturen der Saroukhans einarbeiten. Muss nach Bremen reisen, wo sie ihr Zentrum haben. Und muss lernen, dass es hier nicht um Araber geht, nicht um Libanesen, Türken, Kurden, sondern um Mhallamiye. Eine Volksgruppe, kriegerische Stämme, die ursprünglich vor etwa 800 Jahren von den Türken angesiedelt wurde, als Schutzwall-Söldner gegen die christlichen Juden. In den 1930er Jahren sind die Mhallamiye als vermeintlich kurdische Flüchtlinge im Libanon gelandet. In den 1970 und 90er Jahren dann als vermeintliche libanesische Flüchtlinge nach Deutschland gekommen. Die Stammesstrukturen liefen untergründig immer mit, wie Chastity Riley von den Bremer Ermittlern aufgeklärt wird.
    "Wir kennen zum Beispiel jede Menge Familien mit insgesamt fünf verschiedenen türkischen Nachnamen, die alle einfach den arabischen Namen Saroukhan genutzt haben, um bei uns in Bremen Asyl zu beantragen.
    Und dann haben sie unter diesem Namen hier Fuß gefasst.
    Die Familienstrukturen sind extrem undurchsichtig, und das macht sie zu perfekten kriminellen Strukturen.
    Außerdem bekommt jede Frau im Schnitt zehn Kinder.
    Es gibt also keinen Anlass, Mitglieder von außerhalb zu rekrutieren, was ja für Clans immer eine gewisse Sicherheit darstellt."
    Simone Buchholz: "Mich interessieren immer geschlossene Systeme. Und wie Menschen versuchen, dem zu entkommen."
    Sagt Simone Buchholz, die sich in ihren Krimis auffällig oft mit organisierter Kriminalität beschäftigt. Die Clanstrukturen waren Neuland.
    Clan-Kriminalität an Weser und Elbe
    Simone Buchholz: "Es ist ja manchmal so ein Näschen, und ich wär ja auch ein ganz guter Bulle geworden – ich hatte das Gefühl, das ist irgendwie aktuell, da tut sich eventuell mal was, und es tut sich ja grade auch viel. In Berlin macht die Polizei riesen Aktionen gegen die Clanfamilien, die aber eben auch in Bremen und Niedersachsen sind, was ich aber auch vorher nicht wusste."
    Ihr Rechercheweg begann in Hamburg: Dort sind die Clans nicht besonders aktiv, denn die Hells Angels dominieren die Szene. In Bremen allerdings sieht es anders aus. Ermittler vom LKA erzählen der Krimiautorin von massiven Problemen, einem Klima der Angst, mit dem die Clans nach außen und innen agieren. Simone Buchholz erzählt ihren eigenen Rechercheweg anhand ihrer Hauptfigur. Sukzessive taucht die ruppige Staatsanwältin Chastity Riley in ihrem neunten Fall in die Clan-Kriminalität an Weser und Elbe – und kommt an ihre Grenzen. Doch wo ihre Soko-Ermittlungen und ihr Instinkt nicht ausreichen, installiert Simone Buchholz eine Binnensicht:
    "Sie rollten die große, alte Weltkarte aus, die der Hausmeister nach der Digitalisierung der Geografie-Materialien vor dem Mülleimer gerettet hatte. Sie legten sich auf die Weltkarte und schliefen miteinander, einmal auf Asien, und einmal auf Südamerika, sie probierten einfach mal aus, was sich besser anfühlte, und wieder wurde ihnen klar, dass es Südamerika sein würde, wo sie eines Tages leben wollten."
    Brutal perfektionierte Ausbeutung
    Nouri und Aliza sind ein heimliches Paar seit der Grundschule. Er verlässt seine Familie, um Jura zu studieren und in Hamburg bei einer Versicherung zu arbeiten. Sie ist längst dort, im Untergrund, geflohen vor einer Zwangsverheiratung und den mörderischen Brüdern. Zusammen wollen sie weg, nach Südamerika, wenn Aliza bloß einen Pass hätte, und wenn ihr nicht die Brüder auf den Fersen wären. Die parallele Geschichte von Nouri und Aliza führt in den Kern der Mhallamiye-Sippe, und zunächst sieht Nouris Tod aus wie ein Ehrenmord. Doch so einfach ist es nicht – auch das Versicherungsgeschäft ist gnadenlos, brutal, perfektionierte Ausbeutung. Auch diese Maschine triggert das Böse.
    Simone Buchholz: "Was mich daran interessiert, Stichwort geschlossene Systeme, ist, dass ich immer versuche eine Parallele herzustellen zu dem anderen geschlossenen System, über das ich mich oft so ärgere, nämlich Kapitalismus. Also Systeme, in denen wenige sehr viel Geld auf dem Rücken von anderen verdienen. Und ich finde, man kann das durchaus vergleichen: organisierte Kriminalität und Kapitalismus, ich finde es sind zwei Seiten einer Münze."
    Menschen, die in solchen Systemen gefangen sind, interessieren Simone Buchholz schon seit ihrem ersten Chastity-Riley-Fall. "Revolverherz" kam 2009 raus, und bisher haben es die Staatsanwältin und ihre Kollegen mit fast allen Momenten der strukturellen Gewalt zu tun bekommen, die sich denken lassen, Drogen, Mafia, Missbrauch. Immer ist Hamburg Dreh- und Angel- und Schauplatz, aber das globale Geschehen, Kapitalismuskritik, religiöser Fanatismus, spiegeln sich hier wie in einer Discokugel. Simone Buchholz’ Krimis sind große Gesellschaftsromane. Kaum ein Genre, so zeigt sie, ist so prädestiniert dafür, soziale Schieflagen anzuzeigen wie der Krimi.
    Simone Buchholz: "Ich finde wenn ein Kriminalroman es schafft, anhand einer Geschichte, anhand von Figuren, die leiden, zu zeigen, was solche Dinge mit unserer Gesellschaft und mit einzelnen Menschen machen, dann hat man so ein bisschen den Auftrag erfüllt... ich seh‘ mich ja durchaus mit einem Auftrag durch meine Bücher laufen."
    Der Riss in der Welt
    Der Auftrag endet nicht in Kritik am Kapital. Chastity Riley, stark, schlau und eigenbrötlerisch, ist eine seltene Frauenfigur in der deutschen Krimiszene. Durch ihr eigenes Genre – nennen wir es "Hamburg Noir" – setzt sie markante Schritte.
    Simone Buchholz: "Ich werde älter und diese Figur wird mit mir älter, und ich kenn das von vielen Freundinnen und Kolleginnen, je älter man wird desto länger erlebt man, welche Deckel da so über einen gestülpt werden als Frau in welchem Beruf auch immer – und ich hab so seit vier, fünf Jahren die Schnauze gestrichen voll, und das hat Riley auch denke ich, und dadurch wird die immer widerborstiger und widerständiger, und wie Schreiben mein Aufstand ist, so ist Rileys Art durch ihr Leben und ihren Beruf zu gehen und mit kriminellen Männern umzugehen – wird auch immer aufständischer."
    Simone Buchholz hat mit anderen Autorinnen wie Doris Gercke oder Zoe Beck das Netzwerk "Herland" gegründet – ein Zusammenschluss, der Kriminalromane von Frauen sichtbar machen will und aufmerksames Korrektiv in der männlich dominierten Krimiszene ist.
    Simone Buchholz: "Ich merke, wenn ich mir andere Kriminalromane anschaue, und mir anschaue, was manche Kolleginnen oft unbewusst machen, dass es immer eine schrecklich zugerichtete junge Frau in einer Bahnhofstoilette gibt, der natürlich von einem Mann Gewalt angetan wurde und dann kommt ein Polizist, und der kann kaputt sein wie er will, aber einfach durch die Tatsache, dass er ein Mann ist, kann er den Riss in der Welt wieder kleben – und das nervt mich! Und es nervt mich am meisten, wenn Frauen das schreiben, denen ist vielleicht nicht bewusst, inwiefern sie damit die Verhältnisse zementieren."
    Die dünne Haut der Gesellschaft
    Die Verhältnisse in Frage stellen. Durch ihre Themen, durch ein feministisches Krimifrauennetzwerk und nicht zuletzt – durch ihre erstaunliche Sprache. Die spröde Chastity Riley hat eine eigene Schönheit der Beobachtung, während sie über das harte Pflaster von St. Pauli läuft, sich an den Kneipentresen mit ihren Kollegen die durch das Tagesgeschäft erodierte Seele wieder zusammentrinkt.
    "In der Kneipe liegen ein paar letzte Sonnenstrahlen herum. Auf der abgewetzten Holztheke stehen die Gläser von letzter Nacht, in manchen schimmern noch Zitronenschalen, in manchen stehen nur die Pfützen von was auch immer, Hauptsache, der Verstand ist dabei draufgegangen, zumindest für ein paar Stunden. Ich habe Kneiperauch im Auge, oder was für Rauch auch immer. Vielleicht kommt er gar nicht aus der Kneipe, vielleicht kommt er aus meinem Kopf, vielleicht kommt er aus meinem Herzen."
    Während der neue Fall zwischen Bandenkrimi und Romeo und Julia-Geschichte Fahrt aufnimmt, taucht Chastitys alte Liebe auf.
    "Sie laufen durch die Straßen und nehmen jede Kneipe mit, und da sitzen sie dann und trinken und sehen sich an, als hätten sie etwas nachzuholen, das aber nirgendwo mehr herzuholen ist. Mal hält er ihre Hand, mal sie seine. Die Leuchtreklamen glühen sich Stunde um Stunde bis zu ihren Herzen durch, ihre Gesichter sehen aus, als würden sie Scherben lutschen."
    Scherben machen Risse. In die dünne Haut, die unsere Gesellschaft zusammenhält. Darunter liegen Simone Buchholz’ Geschichten.
    Simone Buchholz: "Mexikoring", Suhrkamp Nova, Berlin, 247 Seiten, 14,95 Euro