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Simone de Beauvoir

Simone de Beauvoir hat den kategorischen Imperativ ihrer existentialistischen Moral konkret zu verwirklichen gesucht. Früh schon ist sie durchdrungen von der Gewissheit, Schriftstellerin zu werden, sich schreibend noch einmal selbst hervorzubringen als nicht-abgeleitete, sich durch sich selbst rechtfertigende Existenz. Sie macht einen geradezu totalitären Anspruch auf ihre Existenz geltend: Ihr Leben soll eine "exemplarische Erfahrung sein, in der sich die ganze Welt spiegeln würde".

Essay von Christa Bürger | 27.01.2008
    " Ich las: Am Meeresufer verschied eine Nixe; aus Liebe zu einem schönen Prinzen hatte sie auf ihre unsterbliche Seele verzichtet, sie verwandelte sich in Schaum. Diese Stimme, die ohne Unterlass in ihr gesprochen hatte: 'Ich bin da', war für immer verstummt: mir schien das ganze Universum im Schweigen versunken. Aber nein. Gott versprach mir die Ewigkeit: niemals würde ich aufhören zu sehen, zu hören, zu mir zu sprechen. Es würde kein Ende geben. "

    Dieses Erinnerungsfragment aus der Kindheit Beauvoirs enthüllt für einen kurzen, pathetischen Augenblick einen Willen zum Selbst, in dem Blindheit und Hellsicht zusammenfallen. Beauvoir ist eine Meisterin der Verdrängung, gepanzert mit einem soliden Vertrauen auf ihre Befähigung zum Glücklichsein. Sorgfältig vermeidet sie es, an Zonen zu rühren, die ihr nicht geheuer sind. Die junge Simone berauscht sich an ihrer "glorreichen Einzigartigkeit". Sie weiß, dass sie erwartet wird - von ihrem eigenen Entwurf: die junge Simone von Mademoiselle de Beauvoir, der erfolgreichen und gefeierten Schriftstellerin. Beauvoir hat den kategorischen Imperativ ihrer existentialistischen Moral konkret zu verwirklichen gesucht. Früh schon ist sie durchdrungen von der Gewissheit, Schriftstellerin zu werden, d.h. sich schreibend noch einmal selbst hervorzubringen als nicht-abgeleitete, sich durch sich selbst rechtfertigende Existenz.

    Sie macht einen geradezu totalitären Anspruch auf ihre Existenz geltend: Ihr Leben soll eine "exemplarische Erfahrung sein, in der sich die ganze Welt spiegeln würde". Sie steht am offenen Fenster im Haus ihrer Großeltern und nimmt die Geräusche und Düfte, die aus dem nächtlichen Park von Meyrignac aufsteigen, in sich auf, und es scheint ihr in solchen Augenblicken, als antworte die Erde einer Stimme in ihrem Innern, die "ohne Rast flüsterte: Ich bin da".

    Für dieses Lebensgefühl stellen die überfallartigen Anwandlungen einer als Ekstase erlebten Todesangst eine äußerste Bedrohung dar.

    " Ich durchlebte Wochen anhaltender Euphorie; und dann, für ein paar Stunden, verwüstete mich ein Wirbelsturm [...] ich wälzte mich in den Abgründen des Todes, des Unendlichen, des Nichts.

    Eines Nachts, als ich mich gerade in einem breiten Bauernbett zum Schlafen gelegt hatte, stürzte sich die Angst auf mich; es war schon vorgekommen, dass ich mich bis zu Tränen, bis zu Schreien vor dem Tod gefürchtet hatte; aber diesmal war es schlimmer: schon stand das Leben auf der Kippe zum Nichts; nichts existierte, außer hier, in diesem Augenblick, ein Schrecken. "

    Den Gedanken, dass die existenzialistische Moral nur ein rationalistischer Irrtum sein könnte, lässt sie nicht an sich herankommen, aber er ist da in dem durch nichts zu beschwichtigenden Bild, das die frühe Lektüre von Andersens Märchen in ihr zurückgelassen hat: der im Meeresschaum sich auflösende Körper der schönen Nixe, den die Wellen wegspülen werden mitsamt ihrer unerlösten Sehnsucht. Sie liest: Die kleine Seejungfrau opfert ihre wunderbare Stimme der Hexe und bekommt dafür die bezauberndste Menschengestalt; aber sie bezahlt ihren schwebenden Gang mit folternden Schmerzen und erringt weder die Liebe ihres Prinzen noch die Unsterblichkeit ihrer Seele. Die junge Simone aber wird ihr Leben leben.

    " Ohne jemals müde zu werden, konnte ich immer wieder staunen über die Dinge und meine Anwesenheit, dabei verwandelte die Strenge meiner Planungen diese Kontingenz in Notwendigkeit. Ohne Zweifel war das auch - unausgesprochen - der Sinn meiner Beglücktheit: Meine triumphierende Freiheit entlief der Willkür wie den Hindernissen, denn der Widerstand der Welt diente meinen Projekten als Stütze und Stoff statt mich zu verprellen. "

    Sie wird die zufälligen Augenblicke ihres Lebens in "schöne Geschichten", in notwendiges Dasein verwandeln. Die Karriere Beauvoirs als Schriftstellerin beginnt daher erst eigentlich in dem Moment, wo sie sich entschließt, ihr eigenes Leben als Stoff ihrer Bücher zu "benutzen".

    " Ich habe alle Materialien, die ich aus meinem Gedächtnis geschöpft habe, zerstoßen, verformt, mit dem Hammer bearbeitet, auseinander gezogen, kombiniert, versetzt, verzogen, manchmal sogar verkehrt, und immer neu erschaffen. "

    In dieser Kaskade gewalttätiger Eingriffe in gelebtes Leben drückt sich ein geradezu zwanghafter Drang zur Ver-Formung aus. Das Verlangen der Schriftstellerin Beauvoir, die Herrschaft über ihr Leben als Stoff zu behaupten, verrät aber zugleich ihren Anspruch auf das Werk. Die Grenze zwischen Fiktion und Realität offen haltend, betreibt sie die Verwandlung ihres Lebens in Literatur, oder, ihrem eigenen Geständnis zufolge, ihre Erlösung.

    Aber in der Literatur kehren die verdrängten Ängste und Wünsche wieder. Und es wird, in den nicht seltenen Momenten, wo die Autorin mit einer ihrer Figuren verschmilzt, für uns die geheime Antriebskraft ihres Schreibens erkennbar, die Faszination durch den Tod. Françoise in "Sie kam und blieb", der Beauvoir wohl nicht zufällig den Namen ihrer Mutter gegeben hat, reagiert auf den anderen wie auf einen unaufhebbaren Skandal, "von derselben Ordnung wie der Tod und genauso inakzeptabel", und wehrt sich dagegen durch einen Mord. In ihrem kurz nach Kriegsende veröffentlichten Buch "Alle Menschen sind sterblich" lässt Beauvoir die gefeierte Schauspielerin Regine im Blick der zu ewigem Leben verdammten Ahasver-Gestalt des Romans die trostlose Gleichgültigkeit des menschlichen Daseins ablesen und darüber wahnsinnig werden.

    Beauvoir, die sich den Blick in ihr Inneres stets strikt untersagt hat, delegiert die dunklen Anteile ihres Selbst an ihre Figuren. In nahezu allen ihren Büchern führen diese das spukhafte Dasein von Stellvertreterinnen.

    Auch Beauvoirs Hauptwerk, "Das andere Geschlecht", ist eine autobiografische Erzählung in der Form einer wissenschaftlichen Abhandlung. Theorie und Erzählung, die einander widerstreitenden Impulse ihres Schreibens, sind darin zur Übereinstimmung gebracht, einer der Gründe wohl für den Erfolg dieses großen feministischen Essays. Beauvoir entwickelt darin so ungefähr alle Grundbegriffe zur Beschreibung der Geschlechterdifferenz, die bis in die Gegenwart die feministische Theorie bestimmen, die Unterscheidung von biologischem und sozialem Geschlecht, die Frage nach einer weiblichen Subjektivität oder der Bedeutung des Körpers ... Der Sog des Buches aber, von dem vor allem die erste Generation von Leserinnen erfasst wurde, ging aus von dem Versprechen, das die junge Simone an der Schwelle zur Universität sich selbst gegeben und das sie viele Jahre später wiederholt hat.

    " Vier oder fünf Studienjahre und dann ein ganzes Dasein, das ich mit meinen Händen formen würde. Mein Leben würde eine schöne Geschichte werden, die sich verwirklichen würde, während ich sie mir erzählte. "

    Beauvoir schreibt gegen die Geschichte der kleinen Seejungfrau an; sie erzählt nicht vom Ende her, sondern von einer Zukunft, die sie selber formen wird. Für ihren Essay hat Beauvoir eine durch eine lange Tradition beglaubigte Form gewählt, den Entwicklungsroman. Doch erzählt wird nicht die Geschichte eines einzelnen Individuums, dessen besonderes Dasein sich bereits in seinem Namen ankündigt, sondern die "des Geschlechts", das keinen Namen und keine eigene Geschichte hat. "Man kommt nicht als Frau zur Welt: man wird es." Seit dem Erscheinen des Buches vor mehr als 50 Jahren ist dieser lapidare Satz wohl der am häufigsten zitierte der feministischen Theorie. Wenn "Frau werden" kein biologisches Schicksal ist, sondern Ergebnis historisch-gesellschaftlicher Bedingungen, so gibt es dazu eine Alternative: die Überschreitung der Situation der "Frau".

    " Die Perspektive, die wir einnehmen, ist die der existenzialistischen Moral. Jedes Subjekt setzt sich konkret durch Entwürfe als Transzendenz; es erfüllt seine Freiheit nur durch ein unaufhörliches Überschreiten auf andere Freiheiten; es gibt keine andere Rechtfertigung der gegenwärtigen Existenz als ihre Ausdehnung in eine unendlich geöffnete Zukunft. Jedes Mal wenn die Transzendenz zurückfällt in Immanenz, handelt es sich um eine Herabstufung der Existenz zum Ansichsein, der Freiheit in Faktizität; dieser Fall ist ein moralisches Vergehen, wenn das Subjekt in ihn einwilligt. "

    Anders als die Selbstverwirklichung des Helden im Entwicklungsroman bedarf die weibliche Emanzipation der Beglaubigung. Und so hat die Autorin in den langen mühseligen Weg des anderen Geschlechts, von der demütigen Gebärde der Schicksalsergebenheit der Frauen im verschütteten Pompeji zur intellektuellen und sexuellen Freiheit der berufstätigen Frau in der Mitte des 20. Jahrhunderts, die eigene "schöne Geschichte" eingezeichnet.

    Das erste "Faktum", das die Unterwerfung der Frau begründet, ist ihre "absurde Gebärfähigkeit". Für Beauvoir sind Schwangerschaft, Gebären, Nähren und Aufziehen von Kindern natürliche Funktionen, denen kein Entwurf vorausgeht. Während der Beitrag des Mannes zum Überdauern der Gattung in planvollen Handlungen besteht, in denen er sich verwirklicht als Zwecke setzendes, Welt gestaltendes Subjekt, verharrt die Frau in der Passivität. Beauvoirs Denken bewegt sich innerhalb eines normativ überformten Geschichtsmodells, worin sich Transzendenz, Entwurf, und Immanenz, "bloßes" Leben, gegenüberstehen.

    Der geschichtliche Fortschritt ist für sie gleichbedeutend mit dem Sieg des männlichen Prinzips, des Geistes über das Leben. Beauvoir lässt die Annahme durchaus zu, dass es in der Frühgeschichte der Menschheit Phasen eines Matriarchats gegeben hat. Aber sie deutet den Kult der Großen Göttin als bloßen Ausdruck der Angst vor einer übermächtigen Natur; sie verbindet damit Begriffe wie Kontingenz, Zufall, Mysterium und setzt dagegen das triumphierende Prinzip des Lichts, der Kreativität, der Ordnung. Daher ist der Sieg des Patriarchats kein zufälliges Ereignis, aber auch nicht das Ergebnis einer gewaltsamen Revolution, sondern das logische Ende eines langen Emanzipationsprozesses, aus dem nur der männliche Mensch als Subjekt hervorgeht, der weibliche aber als das "Andere", als Nicht-Subjekt.

    Am Bild der Frau haftet noch die Erinnerung an den Schrecken einer ungezähmten Natur. Ihre bloße Existenz, notwendig für die Erhaltung des Lebens, ist zugleich eine ständige Bedrohung, welche die Gesetzgeber des Patriarchats in eine die Unterdrückung der Frau besiegelnde Rechtsform gebannt haben. Und so geistert der Mythos der Weiblichkeit als verführerisches Bild durch die Geschichte.

    Es ist die eigene Mutter, an der sich die Rebellion der jungen Simone gegen die condition féminine entzündet, denn sie steht für alles das, was Beauvoir in dem philosophischen Begriff der Immanenz zusammenfasst: die Bejahung der eigenen Abhängigkeit und das daraus entstandene Bedürfnis, die Tochter nach der eigenen Weiblichkeitsvorstellung zu modeln, d. h. sie "zur Frau zu machen". Als Heranwachsende, während sie der Mutter beim Geschirrspülen hilft, hat Simone einen Tagtraum, worin sinnliche Erfahrung und die Vision einer vorweggenommenen Zukunft als Frau zusammenschießen.

    " In meinem Kopf entstand ein Bild mit einer so trostlosen Deutlichkeit, dass ich mich noch jetzt daran erinnere: eine Reihe von grauen Fliesen erstreckte sich bis zum Horizont, schmaler werdend gemäß den Gesetzen der Perspektive, aber alle gleich; das waren die Tage und die Monate und die Jahre. Ich aber, ich hatte mich doch, seit meiner Geburt, jeden Abend ein wenig reicher als am Tag zuvor schlafen gelegt; ich ging aufwärts, von Stufe zu Stufe; wenn ich nun oben nur auf eine eintönige Fläche kam, ohne Ziel, auf das ich zugehen könnte, wozu dann überhaupt gehen? "

    " Nein, sagte ich mir, während ich einen Stapel mit Tellern im Küchenschrank verstaute, mein Leben wird irgendwohin führen. "

    Simones Nein gilt der geheimen Komplizenschaft der Frauen mit dem Patriarchat, die ihr von Françoise de Beauvoir vorgelebt wird.

    " Tatsächlich gibt es neben dem rein ethischen Anspruch jedes Individuums, sich selbst als Subjekt zu behaupten, auch die Versuchung, vor der Freiheit zu fliehen und sich als Ding zu bestimmen: es ist ein verhängnisvoller Weg, denn er bedeutet Passivität, Entfremdung, Verlorenheit, Unterwerfung unter fremden Willen, Trennung von der eigenen Transzendenz, Verzicht auf jeden Wert. Aber es ist ein bequemer Weg, man vermeidet die Angst und die Anstrengung einer authentisch gelebten Existenz. Der Mann, der die Frau als das Andere bestimmt, wird daher in ihr einer verborgenen Komplizenschaft begegnen. "

    Das Motiv der weiblichen Komplizenschaft führt in die Geschichte der Frau eine moralische Dimension ein. Die junge Simone ist gegen die verführerische Wirkung des Mythos der Weiblichkeit durchaus nicht gefeit gewesen, lange Zeit hat sie sich nicht gewehrt gegen die Bilder, mit denen ihre Kindheit umstellt war.

    Der zweite Teil von Beauvoirs Autobiografie beginnt mit einer triumphalen Beglaubigung der "Memoiren einer Tochter aus gutem Hause": Nichts wird der Schreibenden das Gefühl der Freiheit rauben können, das alle ihre Entscheidungen, ihr Denken, ihre Unternehmungen bis in die banalsten alltäglichen Verrichtungen hinfort begleitet. Wovon sie als kleines Mädchen geträumt, wonach sie als Studentin gestrebt hat, für die Gefährtin Sartres ist es unveräußerliches Eigentum. Und vom schon erreichten Ziel her kann sie nun die "schöne Geschichte" ihres Lebens erzählen in einem Buch, in dessen Gewebe Autobiografie, Literatur und Theorie unauflösbar ineinander über gehen.

    Wie in den Memoiren erzählt Beauvoir auch in ihrem Essay über "Das andere Geschlecht", in den Kapiteln über gelebte Erfahrungen, die Entwicklungsgeschichte des weiblichen Kindes als allmählichen und unmerklichen Verlust des Eigensinns. Der Versuch erst, ihre eigene Kindheit zu beschreiben, wird ihr zum Anlass, über den Grund der anfallartigen Zornesausbrüche und Schreikrämpfe des kleinen Mädchens, das sie war, nachzudenken, und sie erkennt darin den Ausdruck einer Revolte gegen die Wörter, die Willkür der Gebote und Verbote.

    Mit den Wörtern dringen die gesellschaftlichen Normen in das Kind ein, das um sich schlägt, ohne zu treffen, denn die Wörter setzen ihm nicht die Festigkeit von Körpern entgegen, sondern die unsichtbare Gewalt der Konventionen. Gegen das Urteil der Mutter, etwas gehöre sich nicht, gibt es keinen Einspruch. Es hilft auch nichts, durchschaut zu haben, dass bestimmte Verbote ausschließlich auf das weibliche Geschlecht zielen. Die junge Simone beginnt früh zu ahnen, dass sich hinter solchen Sätzen ein Geheimnis verbirgt, gegen das sie sich zur Wehr setzen müsste; aber sie besitzt keine Waffen. Und in ihrem Kampf gegen die Wörter hat sie keine weiblichen Verbündeten. Das Wissen ist männlich.

    So wird aus der kindlichen Rebellin zunächst ein artiges kleines Mädchen, dann ein wohlerzogenes junges Mädchen, das alle Stadien der Entwicklung zur "Weiblichkeit" exemplarisch durchläuft. Um die Reste des kindlichen Eigensinns zu retten, beginnt sie ein Tagebuch. Schreibend vermag sie den Traum des Kindes wiederzubeleben: ihre "glorreiche Einzigartigkeit". Im Alltag jedoch folgt ihr die quälende Empfindung, mehr zu sein, als sie verwirklichen kann. Sie verliert sich in der Stimmung einer vagen Erwartung, worin die Reste des Widerstands gegen die noch undurchschaute Ordnung der Geschlechter sich aufzulösen drohen. Das junge Mädchen identifiziert sich mit den verführerischen Bildern ihrer Lektüren, deren Figuren in seiner Gefühlswelt ein gespenstisches Dasein führen, Verlockungen ins Dämmer der Ambivalenzen, wo Schönheit und Tod, Entsagung und Triumph dicht nebeneinander liegen.

    " Erschöpft, das Gesicht zwischen den Händen verborgen, erlebt sie das Wunder der Entsagung ?...? Sie lernt, dass sie, um glücklich zu sein, geliebt werden muss; um geliebt zu werden, muss sie auf die Liebe warten ?...? In den Chansons, in den Märchen sieht man, wie der junge Mann auf Abenteuer auszieht auf der Suche nach der Frau; er durchbohrt Drachen, er bekämpft Riesen; sie ist eingeschlossen in einen Turm, einen Palast, einen Garten, eine Höhle, an einen Felsen gekettet, gefangen, eingeschlafen: sie wartet ?...? eine ganze Kohorte zarter Heldinnen, zerschlagen, passiv, verwundet, auf den Knien liegend, gedemütigt, sie alle lehren ihre junge Schwester den faszinierenden Zauber der gemarterten Schönheit, verlassen, ergeben. "

    Das verbockte Schweigen der jungen Simone, ihre nächtlichen Tränen, ihre Verzweiflungsausbrüche und ihr zwischen Aufsässigkeit und Passivität schwankendes Verhalten sind die äußeren Anzeichen eines inneren Dramas mit ungewissem Ausgang. Sie ist gleichwohl dem Zauber jener Bilder nicht endgültig verfallen. So erzählen die Memoiren wirklich eine schöne Parallelgeschichte zum Essay, nämlich die Befreiung einer jungen Frau aus dem Bann des Entsagungszaubers.

    Nun verwebt Beauvoir diese Geschichte mit den anders verlaufenden zweier Jugendgefährten, ihres Cousins Jacques und ihrer Freundin Elisabeth Le Coin, genannt Zaza. Die junge Simone erfährt sich als Abwesende in einer Welt, die ihr ein Bild ihrer selbst vorspiegelt, in dem sie sich nicht erkennen kann. Und sie sucht nach dieser Abwesenden, die sie sich erst noch erschaffen muss, in der Freundschaft und in der Liebe. Die Geschichten von Zaza und Jacques stehen im Zeichen der Initiation.

    Lange ist sich die junge Simone über die Natur ihres Verhältnisses zu dem aus einer wohlhabenden Industriellenfamilie stammenden Cousin nicht im Klaren. Sie bewundert seine ästhetische Bildung, genießt den Luxus seiner Bibliothek und die nächtlichen Streifzüge durch die Pariser Cafés. Die Aura des ennui, mit der Jacques sich umgibt, wird zum Stoff ihrer Tagträume. Aber Jacques erklärt sich nicht, und Simone findet nicht den Mut, der Unentschiedenheit der Beziehung ein Ende zu setzen.

    Statt dessen träumt sie sich in ihre Lieblingsheldinnen hinein: Sie ist Yvonne de Galais aus Alain-Fourniers Kultbuch "Der große Kamerad", die in der Hochzeitsnacht auf das Glück eines gemeinsamen Lebens verzichtet und wie die Damen der Ritterromane den Geliebten in die Welt der Abenteuer entlässt. Sie ist Alissa, die "schöne Seele" aus Gides Roman "Die enge Pforte", die wie die Heiligen mittelalterlicher Legendenmärchen auf ihre Schönheit und ihre Liebe verzichtet oder Claudels jungfräuliche Violaine, der das Seelenheil des Geliebten notwendiger ist als das eigene.

    Aus der Verstrickung in den Mythos des ewig Weiblichen vermag Simone sich aus eigener Kraft nicht zu befreien. Wie der Protagonist Alain-Fourniers lebt Jacques in zwei Welten, der "hohen Liebe" und der Erotik, die sich ihm in zwei Frauen verkörpern: der jeune fille Simone und der fille, der Kokotte. Er heiratet schließlich ein junges Mädchen mit Vermögen. Für Jacques nimmt die Geschichte von da an eine fatale Wendung: er versagt im Studium, ruiniert das Familienunternehmen und stirbt, verarmt und herabgekommen. Für Simone bedeutet Jacques' Heirat das Ende einer Lebenslüge, in der sie sich einzurichten im Begriff war.

    Und so erfährt sie, was für andere junge Mädchen eine Katastrophe gewesen wäre, als Wiederholung im Sinne der Philosophie Kierkegaards: Das moralische Exempel in Kierkegaards Essay ist seiner eigenen Lebensgeschichte nachgebildet, seiner Beziehung zu Regine Olsen.

    Es geht um einen Dichter, der seine Verlobung mit einem jungen Mädchen auflöst, darüber in Verzweiflung gerät, sich schuldig fühlt und fast bereit ist, sich zum Ehemann umschaffen zu lassen. Aber das junge Mädchen heiratet, und er ist dadurch "zu sich selbst geboren": eine Ausnahme, die sich selbst als Geist rechtfertigt. Das Dasein hat ihn "in dem Augenblick absolviert, da er sich gleichsam selbst vernichten wollte". Der Prozess der Schuldverstrickung, Verzweiflung und Selbsttötungsphantasien ist einer der Wiederholung; er ist wieder der Dichter, an niemanden gebunden und an nichts als sein zukünftiges Werk. Auch Beauvoir nimmt ihren Weg nach vorn wieder auf, auf dem ihr alsbald Sartre begegnen wird.

    Während ihrer Liebe zu Jacques war die junge Simone dem Mythos des éternel féminin verfallen. Die Enttäuschung über den kläglichen Ausgang dieser Beziehung und die Scham über ihre eigene Unfähigkeit, eine Wahl zu treffen, spaltet Beauvoir von sich ab. Sie lässt sich von einer ihrer Figuren vertreten: Paule, die große Liebende in den Mandarins, ist vielleicht auch deshalb eine ihrer unheimlichsten Gestalten.

    Beauvoir hat diesen Fall mehrfach verwendet, er liegt der Analyse der Liebenden in dem Kapitel "Rechtfertigungen" des Essays zugrunde und wird als reale Erfahrung erzählt in der Autobiografie. Als Gymnasiallehrerin in Rouen hat Beauvoir die Entstehung einer Psychose bei einer Kollegin miterlebt. Im Wahnsinn dieser Frau, die verleugnet, dass ihr Geliebter sie verlassen hat, entziffert Beauvoir das Selbstvernichtungsbegehren einer in der Inauthentizität festgehaltenen Liebe. Für das "andere Geschlecht" hat auch die Liebe eine andere Bedeutung. Ein auf die Immanenz eingestimmtes Dasein vermag sich nicht als handelndes zu verwirklichen. Und so wird für die Liebende auch die Liebe zur Falle: sich an den Geliebten zu verlieren. Ihre "Rechtfertigung" besteht dann einzig darin, dass sie den Selbstverlust bejaht.

    Die wirklich gelebte Situation bedeutet daher für Beauvoirs existenzialistische Ethik einen immerwährenden Skandal. Dieser Skandal bestimmt die Dramatik der Konstellation, in die sie ihre eigene Lebensgeschichte mit der ihrer Freundin Zaza treten lässt. Mit der Tragödie Zazas betritt Beauvoir eine Region, die sie sich durch ihren Rationalismus verschlossen hatte, die des Mythos, jetzt aber im Wortsinn der alten Griechen, wonach die Dinge "zugrunde gehen nach der Notwendigkeit", weil sie verstrickt sind in den Schuldzusammenhang des Lebendigen. Auf den Namen Zazas enden alle Kapitel der Memoiren.

    Auf dem Weg ins Freie verkörpert sie am Anfang die Hoffnung, am Ende die Schuld. Die Geschichte Zazas, die die "klassische" Entwicklung der "Frau" von der Wildheit des weiblichen Kindes, die romantische Sehnsucht des jungen Mädchens zur Ergebung der Frau durchläuft, ist kontrapunktisch zu der der Erzählerin durchgeführt. Zaza ist "Muttertochter", Simone "Vatertochter"; aber die Allianz von Mutter und Tochter, die Zazas freie Kindheit ermöglicht hatte, zerbricht, als diese sie am nötigsten brauchte. Von der erwachsenen Tochter erwartet die Mutter unbedingte Unterwerfung unter die vorgezeichnete Frauenrolle, während Françoise de Beauvoir die strenge Überwachung lockert, als sie einsehen muss, dass die Tochter sich ihrem Einfluss entzieht.

    " Gemeinsam hatten wir gekämpft gegen das morastige Schicksal, das uns erwartete, und ich habe lange gedacht, dass ich meine Freiheit mit ihrem Tod bezahlt hätte. "

    Dieses Bekenntnis beschließt die Mémoiren einer Tochter aus gutem Hause. Es spricht daraus nicht nur die anhaltende Trauer um den Verlust der geliebten Freundin, sondern etwas wie eine Zauberformel, als müsse die Überlebende die Schuld abwehren, die das mythische Schema des gründenden Opfers vom lebendigen Dasein einfordert. Der Rückfall in mythisches Denken bei einer so ganz auf Rationalismus eingeschworenen Schriftstellerin wie Beauvoir hat etwas überaus Schockierendes.

    In der Zaza-Erzählung der Memoiren erhält das Leben Elizabeth Le Coins seine besondere Intensität durch die latente Todesdrohung, die es von Anfang an begleitet.

    Sie ist schwer gezeichnet durch einen furchtbaren Brandunfall in früher Kindheit; aber die Verletzung, die sie sich selbst zufügt, um sich ihre Selbständigkeit zu beweisen, gehört auf die Seite der Wahl und macht Zaza zur Schwester der eigensinnigen, zwischen Lethargie und Exzess oszillierenden Mädchenfiguren Beauvoirs, die dieses schwankende Selbstgefühl aus eigener Erfahrung kennt. In dem Bild, das so entsteht, vermischen sich literarische Reminiszenzen und Wirklichkeitsfragmente bis zur Unkenntlichkeit.

    Mit beunruhigender Präzision taucht das Motiv weiblicher Selbstverstümmelung im Werk Beauvoirs immer wieder auf, um sofort wieder zu verschwinden. Die Schreibende kann den Blick auf die reale Wiederkehr archaischer Reste nicht aushalten. Die Qualen der stummen Seejungfrau sind da, reale Präsenz, die den Geist der Analyse zum Rückzug zwingt, zur Flucht in den Mythos, der keiner Erklärung bedürftig ist. Vor einer jungen Frau, die sich, "mit manischer Geduld" und ekstatischem Lächeln eine brennende Zigarette an den Handballen hält, bricht das Interpretationssystem der Schreibenden, der Grund ihrer Weltsicherheit, ein. Sie hat es zu tun mit einer "Gezeichneten", einem Dasein jenseits der Dichotomie von Transzendenz und Immanenz.

    Die Geschichte von Zazas frühem Tod wird mit einer unheimlichen Logik konstruiert. Es ist die Geschichte eines Opfers, in der sich zwei Erzählordnungen überschneiden, und zwei Zeiten, Vorgeschichte und Zukunft. Zaza ist das letzte Opfer des Patriarchats, und sie ist das Opfer, das Simone für ihre eigene Emanzipation bringen muss: während sich für Simone der Weg ins Freie öffnet, stirbt die Freundin im Kampf mit einer Mutter, die das Gesetz des Patriarchats vertritt, erbarmungslos wie die Hexe im Märchen von der kleinen Seejungfrau. Die Geste der verlassenen Yvonne de Galais wiederholend, verwandelt Zaza ihre Entsagung in die Ekstase der Mystikerin und macht die Freundin zu ihrer Sprecherin. Vielleicht hat Beauvoir diesen Auftrag, für eine Verstummte zu sprechen, als Rechtfertigung ihres Schreibens angenommen.

    Denn dieses Schreiben, angetrieben von einem rastlosen Bedürfnis nach Erklärung, Analyse, Kommentar, ist zugleich besessen von einer untergründigen Sehnsucht nach Erlösung, die den manifesten Rationalismus der Autorin immer wieder umkehrt in den Mythos.

    Aus: Juliette Greco: Les feuilles mortes

    Literaturhinweis:

    Mein Weg durch die Literaturwissenschaft
    von Christa Bürger (Autor)
    Taschenbuch: 289 Seiten
    Verlag: Suhrkamp
    April 2003
    ISBN-10: 3518123122
    ISBN-13: 978-3518123126