Für die französische Philosophin Simone Weil verläuft das Leben zwischen zwei Polen – einerseits der Schwerkraft und andererseits der Gnade. Im persönlichen Leben changiert sie selbst zwischen Tollpatsch und rigoroser Moralistin.
Im Februar 1909 in Paris als Tochter eines jüdischen Arztes und dessen jüdischer Frau geboren, studiert Simone Weil Philosophie und wird danach Lehrerin. Hätten wir uns in ihrem Umkreis befunden, wären wir möglicherweise genervt gewesen vonWeils vehementer Suche nach dem Absoluten, einer Suche, die sie von der Gewerkschafterin zur Mystikerin führte. Doch da die Philosophin früh starb und nur 34 Jahre alt wurde, hat die literarische Welt sie heiliggesprochen.
"Schwerkraft und Gnade" lautet der Titel ihres ersten, 1947 erschienenen Buchs, einer Textsammlung. Der Berliner Verlag Matthes & Seitz hat es soeben auf Deutsch wiederveröffentlicht, in seiner trefflichen Übersetzung von Friedhelm Kemp aus dem Jahr 1953.
Schwerkraft und Gnade" ist eine Art Physik des Daseins, das bedeutet: eine Metaphysik der Physik, die deren zentrale Begriffe wie Kraft, Energie, Mechanik, Gleichgewicht, Gegensatz, Widerspruch, Schwerkraft in einen ungewöhnlichen moralischen Zusammenhang stellt."Alle natürlichen Bewegungen der Seele sind Gesetzen unterworfen, die denen der stofflichen Schwerkraft entsprechen. Ausnahmen macht allein die Gnade."
Bevor Simone Weil - vor der Gestapo nach Marseille geflüchtet - die Stadt am 7. Juni 1942 mit dem Ziel Casablanca verlässt, übergibt sie ihrem Freund, dem christlichen Philosophen Gustave Thibon, am Bahnhof ein Paket, in dem sich elf Hefte mit Notizen befinden. Thibon bekommt das Konvolut zur freien Verfügung für den Fall, dass die Verfasserin der Tod ereilen sollte. Zu dieser Zeit verschlechtert sich deren Gesundheitszustand – und ihr sozialer Aktivismus schlägt endgültig um in eine spirituelle Wahrnehmung der Welt. Nach Weils Tod im August 1943 trifft Thibon aus den ihm überlassenen, später so genannten Cahiers, eine Auswahl. "La pesanteur et la grâce" erscheint 1947 auf Französisch, unter dem Titel Schwerkraft und Gnade 1952 auf Deutsch.
"Menschliche Mechanik. Wer leidet, sucht sein Leiden anderen mitzuteilen – sei es durch Misshandlungen, sei es dadurch, dass er ihr Mitleid hervorruft -, um es so zu vermindern, und derart vermindert er es in der Tat. Wer ganz unten ist, wen niemand bedauert, wer über niemanden Gewalt hat, den er misshandeln könnte (wenn er weder ein Kind hat noch irgendein Wesen, das ihn liebt), bei dem bleibt das Leiden in ihm und vergiftet ihn. Das ist unentrinnbar wie die Schwerkraft, Wie kann man sich davon freimachen? Wie befreit man sich von dem, was wie die Schwerkraft ist?"
Die "rote Jungfrau"
Simone Weils Sammlung an Meditationen und mystischen Betrachtungen entwickelt sich im Lauf der Jahre zu einer der einflussreichsten Quellen der französischen Philosophie. Im deutschen akademischen Betrieb wird Simone Weil bis auf den heutigen Tag dagegen kaum wahrgenommen – was vielleicht damit zu tun hat, dass für Simone Weil die Wissenschaft nicht befähigt ist, zur Wahrheit durchzudringen:
"Ist es nicht überdies eine anerkannte Tatsache, dass die Astronomie aus der Astrologie, die Chemie aus der Alchimie hervorgegangen ist? Aber man deutet diese Nachfolge als einen Fortschritt, während es sich um einen Verfall der Aufmerksamkeit handelt."
Der Widerpart zur Material World, zur Welt der Atome und Neuronen, ist nicht der Geist, denn der Geist kann die Gesetze der Schwerkraft zwar erkennen, er kann sie aber nicht aufheben. Im Sinne Weils können die Gesetze der materiellen Welt allein durch Gott aufgehoben werden.
In der Konfrontation mit dem Materiellen erfährt der Mensch, was es bedeutet, unterworfen zu werden – etwa unter die Gesetze der Schwerkraft. Eine moderne Form dieser Unterwerfung ist die Fabrik. Nur die Anerkennung der eigenen Geschöpflichkeit kann den durch die Maschine versklavten Menschen mit seinen Schicksalsgenossen solidarisieren – und macht es dann möglich, Arbeit neu und menschlicher zu gestalten.
Folglich engagiert sich die Philosophin seit dem Studium stark in der Gewerkschaft und in den von dieser organisierten Studiengemeinschaften – und wird als "rote Jungfrau" der Öffentlichkeit bekannt. Im Winter 1934 beschließt sie sogar, selbst in einer Fabrik zu arbeiten, um endlich in "Kontakt mit der Wirklichkeit" treten zu können. Doch die geplanten sechs Monate schrumpfen zu 24 Wochen – ihre Ungeschicklichkeit lässt Simone Weil an sich verzweifeln und an den vorgegebenen Mindeststückzahlen scheitern. Wirklich ist das, was zur Theorie im Widerspruch steht - das wird fortan zu Weils Credo.
"Die Arbeiter haben ein noch größeres Bedürfnis nach Poesie als nach Brot. Das Bedürfnis, dass ihr Leben Poesie sei. Das Bedürfnis nach einem Licht der Ewigkeit. Diese Poesie kann einzig der Religion entspringen. Nicht die Religion, die Revolution ist Opium für das Volk. Dass sie diese Poesie entbehren müssen, erklärt alle Formen des sittlichen Verfalls."
Spirituelle Erfahrungen
Bei aller marxistischen Schulung folgt Weil einem christlichen Liebesverständnis - insofern nämlich, als in der geschundenen Kreatur und im schuldlos Erniedrigten der jeweils Nächste erkannt werden muss. Ihn gilt es unbedingt zu lieben wie sich selbst. So teilt die Philosophielehrerin Simone Weil die Hälfte ihres Gehalts mit den Arbeitslosen.
"Das Gewissen erliegt der Täuschung durch das Soziale. Die überschüssige (imaginative) Energie ist größtenteils dem Sozialen verhaftet. Man muss sie davon ablösen. Das ist die schwierigste Ablösung. In dieser Hinsicht ist die Meditation über den sozialen Mechanismus eine Läuterung von höchster Wichtigkeit. Das Soziale zu betrachten, ist ein nicht minder guter Weg, sich zurückzuziehen. Darum war es nicht verkehrt, dass ich mich so lange mit Politik abgegeben habe."
Mit Hitlers Erfolgen macht sich in der politischen Aktivistin Simone Weil Resignation breit. Sie ist der ewigen unfruchtbaren politischen Diskussionen und Konferenzen leid. Dazu kommen ihre rasenden Kopfschmerzen, die die Philosophin seit langem plagen und deren Ursache zu ergründen den Ärzten nicht gelingt.
Zunehmend wendet sie sich spirituellen Erfahrungen zu. Auf einer der in den Sommern 1937 und bis 38 zahlreich unternommenen Italienreisen besucht sie bis zu dreimal täglich Messen und kirchliche Konzerte. Nach den eigenen Worten Weils erlösen diese Erlebnisse sie von ihren Kopfschmerzen - und ermöglichen es, dass die Passion Christi ein für alle Mal in ihr Aufnahme findet.
"Handarbeit. Die Zeit, die in den Körper eindringt. Durch die Arbeit verstofflicht sich der Mensch wie Christus in der Eucharistie. Die Arbeit ist gleichsam ein Tod."
Sehnsucht nach dem Absoluten
Zwar ist die Wirklichkeit für Simone Weil physikalisch - aber zugleich durchdrungen vom Geist Gottes, von dessen Gnade. Anders als der kartesische Körper-Geist-Dualismus zeigt sich in einer von divinatorischer Gnade durchtränkten Realität ein gewisser Widerspruch, welcher für Weil nun aber gerade die Wirklichkeit als Wirklichkeit verbürgt. Anders gesagt, ist die Gnade wirklicher als die Schwerkraft der Wirklichkeit.
"Einzig der Widerspruch beweist, dass wir nicht alles sind. Der Widerspruch ist unsere Schlechtigkeit und das Gefühl unserer Schlechtigkeit ist das Gefühl der Wirklichkeit. Denn unsere Schlechtigkeit ist nicht etwas, das wir erfinden. Sie ist wirklich."
Angesichts des eigenen Ungenügens verbindet sich Simone Weils asketischer Charakter immer stärker mit ihrer Sehnsucht nach dem Absoluten. Hat sie sich aus Sympathie mit den Menschen im von den Deutschen besetzten Frankreich, die nicht genug zu essen haben, ein Hunger-Regime auferlegt, werden Essen und Liebe für sie zu einem immer größeren Widerspruch, der sie nach und nach dazu treibt, ganz zu ihrem eigenen Verschwinden beizutragen – zur Decreation, wie die amerikanische Altphilologin und Lyrikerin Anne Carson in einem Text über Simone Weil schreibt. Bei Weil selbst heißt das: Rückschöpfung. Ohnehin sieht sie sich lebenslang als jemanden, der, wie sie in ihren Heften notiert...
" ... zwei Brautleute daran hindert, wahrhaft beieinander zu sein".
Der Widerspruch zwischen Schwerkraft und Gnade, dem Sein und dem Nichts - um auf ein Werk ihres Zeitgenossen Jean-Paul Sartre anzuspielen – wird unter Simone Weils Blickwinkel produktiv:
"Findet man die Fülle der Freude in dem Gedanken, dass Gott ist, so soll man die gleiche Fülle in der Erkenntnis finden, dass man selbst nicht ist, denn das ist ein- und derselbe Gedanke."
Die ewige Seligkeit
"Schwerkraft und Gnade" ist trotz der schwierigen und unzuverlässigen editorischen Voraussetzungen ein Buch, bei dessen Lektüre sich die Ethikkommissionen der Gegenwart am Kopf kratzen dürften. Weil gruppiert Erkenntnisse unter Überschriften wie Das Ich, Entschaffung, Leere und Ausgleichung. Ihr Rigorismus ist nicht nur rigoros – er ist vor allem hinreißend im wörtlichen Sinn – er reißt einen zu sich hin. Die Philosophin Simone Weil macht Schluss mit der unerträglichen protestantischen Lauheit, die sich längst unter den Verwaltern des Glaubens breitgemacht hat – Schluss mit jenem ranzigen Utilitarismus, der die ethische Haltung der Gegenwart zu den Fragen des Menschen infiziert hat.
Simone Weil "Schwerkraft und Gnade"
Aus dem Französischen von Friedhelm Kemp
Matthes & Seitz, Berlin. 249 Seiten, 24 Euro.
Aus dem Französischen von Friedhelm Kemp
Matthes & Seitz, Berlin. 249 Seiten, 24 Euro.