Marcel Anders: Herr Kerr, Anfang Februar veröffentlicht Ihre Band ein neues Album namens "Walk Between Worlds". Da stellt sich die Frage: Wie sehen sie die heutige Welt – wie sehr hat sie sich in den letzten 40 Jahren verändert?
Jim Kerr: Ich schätze die Welt – und das lässt sich allein an den Schlagzeilen der Medien ablesen – ist wieder sehr polarisiert. Was ich nie für möglich gehalten hätte. Denn meine Generation hat erlebt, wie die Berliner Mauer gefallen und alles näher zusammengerückt ist. Es schien, als hätten die Menschen endlich einen besseren Draht zueinander gefunden. Eben durchs Internet und alles andere. Aber wenn man sich die Gegenwart anschaut - die politische und soziale Landschaft - sieht das wieder ziemlich gespalten aus.
Anders: Demnach hat das Internet einen negativen Effekt auf die Menschheit – als Plattform für Gerüchte, für Meinungsmache, für Wut und Hass?
Kerr: Das stimmt! Es ermöglicht uns, miteinander in Kontakt zu treten, um zu streiten. Man muss sich nur die Kommentare anschauen, die am Ende irgendwelcher Online-Artikel auftauchen – da kämpfen die Leute regelrecht gegeneinander. Egal, worum es geht. Ich meine, man kann das als "gegensätzliche Meinungen" auslegen, aber das Maß an Wut und an Beleidigungen, das man da sieht, ist extrem.
"Wir sind immer noch wir"
Anders: Denken Sie, das hat mit einem Mangel an Bildung und Weitsicht zu tun? Müssten die Leute mehr reisen, um ihren Horizont zu erweitern – so, wie Sie es seit fünf Dekaden tun? Schließlich sind Sie so etwas, wie ein professioneller Handlungsreisender.
Kerr: Das könnte man so sagen. Und was das betrifft, schätzen Charlie Burchill und ich uns extrem glücklich. Hätten sie uns vor 40 Jahren, als wir angefangen haben, gefragt: "Was ist euer Ziel? Was wollt ihr mit der Band erreichen?", hätten wir bestimmt nicht von "Ruhm, Reichtum und Wohlstand" geredet. Einfach, weil wir gar nicht daran gedacht haben. Wahrscheinlich hätten wir geantwortet: "Was wir gerne tun würden, wäre Songs zu schreiben, sie aufzunehmen, mit ihnen um die Welt zu reisen und eine großartige Live-Band zu werden."
40 Jahre später haben wir das nicht nur erreicht - wir praktizieren es noch immer. Und wir führen ein umwerfendes Leben. Das hat uns geprägt und geformt. Aber: Wir sind immer noch wir, und folgen weiter den Werten, mit denen wir aufgewachsen sind. Gleichzeitig haben wir durch das Reisen mehr Weltsicht erlangt, als es den meisten Menschen vergönnt ist.
Anders: Das sind ziemlich tiefgründige Gedanken für eine Band, die sich Simple Minds – also schlichte Gemüter – nennt.
Kerr: Das Lustige daran, ist, dass ich den Namen lange nicht mochte. Im Sinne von: "Warum haben wir den bloß gewählt?" Denn es ist doch so: Jemand mit einem einfachen Geist ist ein Idiot oder ein Schwachkopf. Nimmt man dagegen die östlichen Philosophien, ist das höchste Level von Intelligenz die Simplizität.
Deshalb ist das für viele Leute das neue Nirvana in dieser komplizierten Welt. Sie suchen nach Simplizität in allem, was sie tun – oder nach Erleuchtung. Von daher hat sogar unser Name etwas von zwei Welten – ironischerweise.
"Unsere Karriere war nicht immer toll"
Anders: Im Stück "Magic", zugleich die erste Single des Albums, geht es um den Ehrgeiz und den mentalen Hunger der Jugend und wie man sich den bewahrt. Verraten Sie uns, was Ihr Geheimnis ist - was treibt Sie nach all den Jahren an, Musik zu machen?
Kerr: Na ja, jeder ist anders. Aber als ich jung war, hatte ich eine Menge Ehrgeiz. Und ich war auch in der Situation, dass ich ihn wiederfinden musste. Denn unsere Karriere war nicht immer nur toll. Es war ein Auf und Ab. Es gab Zeiten, in denen wir voller Ideen waren. Und andere, in denen wir dachten: "Das war's. Es ist vorbei." Dann sucht man nach Inspiration und hofft, dass die alte Magie zurückkehrt. Selbst, wenn man nicht weiß, worin sie besteht oder wie man sie findet.
Anders: Wie denken Sie heute über Ihren Erfolg Ende der 80er, Anfang der 90er? Über die Zeit, in der Simple Minds regelrechte Superstars waren? Vermissen Sie die?
Kerr: Wenn ich an die Stadion-Rock-Jahre denke, dann vor allem an Live Aid, das Mandela-Konzert im Wembley und an MTV. An diese monströsen 80er Jahre-Sache – und wie glücklich wir uns schätzen dürfen, sie erlebt zu haben. Nur: Damals habe ich das anders gesehen. Ich weiß es erst jetzt zu würdigen. Denn zu der Zeit herrschte eine Menge Druck und wir waren ein bisschen wie Gefangene unseres Erfolgs. Aber egal: Wahrscheinlich denkt jetzt jeder: "Worüber beschwert sich der Kerl?"
"Wir haben versucht, uns mit großen Dingen zu befassen"
Anders: Das klingt, als wäre Ihr Erfolg ein Betriebsunfall oder ein Missverständnis gewesen?
Kerr: Wir standen vor der Tür zur ersten Liga – um es mal so zu formulieren. Einfach, weil wir Alben hatten, die uns dahin geführt haben. Und weil wir in immer größeren Hallen gespielt haben. Von daher war es nur eine Frage der Zeit oder des nächsten Songs, um den ganz großen Durchbruch zu schaffen.
Und dann war da "Don't You", das wie aus dem Nichts kam und mit dem Film "Breakfast Club" einherging. Das sollte eigentlich nur eine Kleinigkeit nebenbei sein. Aber es hatte ein solches Momentum, dass es besagte Tür nicht nur geöffnet hat - es hat sie regelrecht eingetreten. Das war ebenfalls Ironie – also, dass wir es nicht einmal selbst geschrieben haben und uns nicht viel davon erhofft hatten. Aber als wir diese große Plattform erreichten, hat uns das ziemlich beeinträchtigt – auf gute oder schlechte Weise. Wir sind die Musik anders angegangen und haben versucht, uns mit großen Dingen zu befassen – mit Apartheid, mit Belfast und so weiter. Und wenn die Leute im Nachhinein sagen: "Dafür haben sie ihren Erfolg benutzt" – dann ist das gut!
Anders: Demnach besitzen Sie keine Einkaufszentren in Lettland oder parken Ihr Geld in Steueroasen, weil Sie nicht wissen, wohin damit?
Kerr: Oh Mann! Stimmt. Bono ist trotzdem ein toller Mensch. Und vielleicht haben wir einfach Glück gehabt, dass uns das erspart geblieben ist. Denn in den 90ern sind wir fast gestorben. Wir haben kaum noch Songs geschrieben und eine Zeit lang sah es wirklich so aus, als wäre es vorbei. Wir haben so viel Profil verloren, dass wir quasi noch mal von vorne anfangen mussten.
Aber jetzt sind wir wieder voller Energie und Tatendrang. Wir arbeiten sogar schon am nächsten Album. Und vielleicht ist es insofern ganz gut, dass wir einen Schritt zurück machen mussten und nicht all die anderen Richtungen eingeschlagen haben, wie unserer Kollegen.
"Wir wollen Melodien schreiben, die die Leute mitsingen können"
Anders: Also ist es hilfreich und wichtig, auch mal auf dem Allerwertesten zu landen?
Kerr: Darauf basieren die größten Geschichten der Menschheit. Eine davon ist Aschenputtel. Die andere diese Comeback-Nummer – wie der alte Boxer, der in den Seilen hängt und doch wieder auf die Beine kommt. Ich denke, das ist auch den Simple Minds gelungen.
Anders: Zeigt das neue Album, wer Sie wirklich sind – nämlich eine Band, die gerne mit elektronischen Klängen experimentiert und die Fahne des New Wave hochhält?
Kerr: Das Tolle an den Simple Minds ist, dass sie so viel sein können. Also dass die Leute die unterschiedlichsten Dinge in uns sehen. Etwa New Romantics, Post-Punk, Stadion-Rock, eine elektronische Band oder eine Pop-Formation. Aber für mich sind die Simple Minds im Grunde eine Art Rock-Band. Und es ist toll, wenn man das dem neuen Album anhört. Dabei sind die Regeln immer dieselben: Du kannst Art-Rock mit allen erdenklichen Sounds und viel Atmosphäre machen. Aber letztlich ist es Musik. Und wir wollen Melodien schreiben, die die Leute mitsingen können.
Anders: Sie gehen stramm auf die 60 zu. Ein beängstigender Gedanke?
Kerr: Nein, nicht angsteinflößend. Und ich denke viel darüber nach, weil die Band nach einem Drei- bis Vier-Jahresplan arbeitet. Als wir anfingen, gab es keine alten Leute in dieser Branche – mal abgesehen von den Blues-Jungs. Die haben das so lange gemacht, wie sie konnten. Und keiner wäre je auf den Gedanken gekommen, sie zu fragen: "Warum macht ihr das immer noch?" Man musste ihnen nur ins Gesicht schauen, schon war klar: "Sie machen das, weil das ihr Ding ist." Und weil sie die Welt so sehen.
Wenn ich die 60 erreiche und wir immer noch spielen und touren – was sehr wahrscheinlich ist, weil wir so weit im Voraus gebucht sind – würde ich sagen: "Gibt es etwas Schöneres, als sein Leben damit zu verbringen, Musik zu machen? Was für ein Glück, das wir das machen dürfen."
Anders: Also haben Sie nicht vor, sich irgendwann auf Ihr Hotel auf Sizilien zu konzentrieren – in bester Fawlty Towers-Manier?
Kerr: Nein! Der Ort wird von Profis geleitet. Zum Glück! Und ich fürchte, die würden mir da keinen Job geben – abgesehen davon, dass ich zu teuer wäre.
Außerdem ist es wirklich so: Wenn du mit zwölf Jahren angefangen hast, Songs zu schreiben, ziehst du dich nicht davon zurück. Es ist das, was du bist.
Außerdem ist es wirklich so: Wenn du mit zwölf Jahren angefangen hast, Songs zu schreiben, ziehst du dich nicht davon zurück. Es ist das, was du bist.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.