Im Herbst 1797 gerät er zum ersten Mal ins Visier der Zivilisation. Ein Kind, vielleicht acht oder neun Jahre alt, wühlt wie ein Hund in der Erde und fletscht die Zähne, wenn man sich ihm näherte. Dann flüchtet es in die Wälder von Aveyron im Süden Frankreichs. So ging es ein paar Mal, bis es gelang, ihn zu fangen. Doch der kleine wilde Junge – war es überhaupt ein Mensch? - entkam. Irgendwann trieb ihn ein langer Winter in die Nähe menschlicher Behausungen. So ging er in die Falle. Und eine Mischung aus Humanismus, Aufklärung und Pädagogik bemächtigte seiner.
"Mit fünf Jahren war er, das kleine, unterernährte, störrische 13. Kind einer störrischen Bauernfamilie, geistig ungeübt und der Sprache eigentlich nicht mächtig, von einer Frau, die er kaum kannte oder anerkannte, der zweiten Frau seines Vaters, in den Wald von La Bassine geführt worden, doch dort hatte sie nicht die Kraft gehabt, zu tun, was sie tun musste, sondern die Augen zusammengekniffen, als sie ihn am Haar packte und seinen Kopf so verdreht hatte, dass seine Kehle entblößt war, und so hatte das Küchenmesser sein Ziel verfehlt."
Doch an all das hatte er keine Erinnerung, als er in die Hände der Menschen fiel, zumindest hatte er keine Erinnerung, die er artikulieren konnte. Er sprach nicht und er reagierte nicht auf Sprache. Er hatte sich von allem ernährt, was er finden konnte in den Wäldern und auf den Feldern: Eicheln, Nüsse, rohe Kartoffeln oder er verschlang lebende Kröten und Mäuse. Seine Reaktionen waren im Wesentlichen auf Nahrung konzentriert. Zunächst glaubte man, er sei taubstumm, doch dann zeigte sich, dass er das Knacken einer Nuss über große Entfernung vernahm, während ein Pistolenschuss aus nächster Nähe keinerlei Reaktion bei ihm hervorrief.
Die Wissenschaft seiner Zeit hatte erst kürzlich einen Namen für seinesgleichen erfunden: Homo ferus - der wilde Mensch; kein Primitiver, sondern ein Wesen jenseits aller zivilisatorischen Kommunikation. Er war nicht Natur und nicht Kultur. Mit anderen Worten: Er verstand vom Leben weniger als eine Ratte.
Und bald drang die Kunde jenes Exemplars ohne Spezies bis nach Paris. Höheren Ortes interessierte man sich für den Fall. So geriet das wilde Kind in die Hände eines Pariser Arztes, der sich bereits eine große Reputation bei der Therapie von taubstummen Kindern erworben hatte. Jener Doktor Itard gab dem Jungen den Namen Victor, weil er auf den Vokal O irgendwie zu reagieren schien, und er weigerte sich, in seinem Patienten ein bloß schwachsinniges Wesen zu sehen. Victor war ein Geschenk für die Wissenschaft. Er versprach Antwort auf die Frage: Was ist die Natur des Menschen? Und inwieweit wird er von der Zivilisation geprägt? Doch Victor gab keine Antwort.
"Itard wollte ihm das Sprechen durch Nachahmung beibringen, denn auch kleine Kinder erwarben ja ihren Wortschatz dadurch, dass sie nachsprachen, was ihre Eltern sagten. Er zerlegte die Sprache in einfache Vokale und Konsonanten und wiederholte diese immer wieder, in der Hoffnung, der Junge werde den entsprechenden Laut nachahmen, und stets hielt er Objekte hoch – ein Glas Milch, einen Schuh, einen Löffel, eine Kartoffel – und benannte sie. Der Blick des Jungen wich dem seinen aus."
Victor von Aveyron gibt sein Geheimnis nicht preis. Er wird berühmt als ungeklärter Fall, als Niederlage der noch jungen Aufklärung. Fünf Jahre lang arbeitet Doktor Itard mit ihm: zäh, intensiv, leidenschaftlich verbissen und verzeichnet doch nur winzige Fortschritte. Victor gelingt es zwar, Gegenstände auf Abbildungen zu erkennen, doch er kann kaum ein Dutzend Worte sprechen. Nach langen Jahren unter dem Joch pädagogischer Zwangsarbeit gibt Itard auf. Victor verbleibt in der Obhut eines Hausmeisterehepaares und stirbt 1828 im Alter von vierzig Jahren.
T.C. Boyle erzählt im Großen und Ganzen die Geschichte, wie sie seit 200 Jahren bekannt ist und betankt sie mit Kolorit: Wir spüren die Feuchtigkeit in den Wäldern, in denen sich Victor verbirgt. Und wir spüren die Ambivalenzen des szientistischen Humanismus der Jahre in Paris nach der Revolution. Die Geschichte des Victor von Aveyron ist so eigenartig und rätselhaft, dass man sie gerne noch mal liest.
Doch Boyle erzählt die Geschichte bloß nach, er erzählt sie nicht neu. Auch der Romancier dringt nicht bis in Victors Seele vor, er weiß nicht einmal, ob er eine hat. Doch warum tut er dann so, als wüsste er, dass Victor sich beim Trinken reinen Wassers an sein Leben in den Wäldern erinnert?
Auf der anderen Seite beleuchtet die Erzählung auch die Agenten der Zivilisation nicht neu. Doktor Itard verkörpert gleichermaßen die Gewalt der Aufklärung, wie die Empfindsamkeit eines praktischen Humanismus. Das alles kennen wir spätestens seit Francois Truffauts Film über den "Wolfsjungen". Und es gibt Regalmeter an Literatur, die den Fall unter allen möglichen Aspekten analysiert haben.
Erstaunlich, aber nicht nachvollziehbar, wird es, wenn der Erzähler von den belegten historischen Fakten abweicht. In seiner Darstellung nimmt die erwachende Sexualität Victors einen breiten Raum ein. Doch es gehört zu den Sonderbarkeiten dieses Wesens, dass es eben keinen Sexualtrieb entwickelte, dass Victor – wenn man so will – auch tierisch schwach ausgebildet war. Es scheint, als rebelliere der Romancier gegen die Reglosigkeit, gegen die Undurchdringlichkeit seines Helden aus eher dramaturgischen Gründen.
Vielleicht liegt des Rätsels Lösung ja in ganz trivialen Umständen. In einem Interview hat Boyle verraten, dass die Geschichte von Victor eigentlich Teil seines Romans Talk, Talk hätte werden sollen. In diesem großartigen Roman geht es um modernen Identitätsdiebstahl im Zeichen von Kreditkarten und elektronischer Datenspeicherung. Man ahnt, warum Boyle dann die Idee verworfen hat: Das wilde Kind taugt nur sehr bedingt als Beispiel für Identität oder gar Identitätsdiebstahl. Boyle mag von der Geschichte fasziniert geblieben sein, aber er hat sie bestenfalls nacherzählt. In den USA ist die Erzählung als Teil eines Sammelbands erschienen. In Deutschland wollte man daraus einen kleinen funkelnden Roman machen, einen neuen Boyle eben. Doch es ist keiner.
T.C. Boyle: Das wilde Kind
Erzählung. Aus dem Amerikanischen von Dirk van Gunsteren
Hanser Verlag. München 2010
108 Seiten, 12,90 Euro
"Mit fünf Jahren war er, das kleine, unterernährte, störrische 13. Kind einer störrischen Bauernfamilie, geistig ungeübt und der Sprache eigentlich nicht mächtig, von einer Frau, die er kaum kannte oder anerkannte, der zweiten Frau seines Vaters, in den Wald von La Bassine geführt worden, doch dort hatte sie nicht die Kraft gehabt, zu tun, was sie tun musste, sondern die Augen zusammengekniffen, als sie ihn am Haar packte und seinen Kopf so verdreht hatte, dass seine Kehle entblößt war, und so hatte das Küchenmesser sein Ziel verfehlt."
Doch an all das hatte er keine Erinnerung, als er in die Hände der Menschen fiel, zumindest hatte er keine Erinnerung, die er artikulieren konnte. Er sprach nicht und er reagierte nicht auf Sprache. Er hatte sich von allem ernährt, was er finden konnte in den Wäldern und auf den Feldern: Eicheln, Nüsse, rohe Kartoffeln oder er verschlang lebende Kröten und Mäuse. Seine Reaktionen waren im Wesentlichen auf Nahrung konzentriert. Zunächst glaubte man, er sei taubstumm, doch dann zeigte sich, dass er das Knacken einer Nuss über große Entfernung vernahm, während ein Pistolenschuss aus nächster Nähe keinerlei Reaktion bei ihm hervorrief.
Die Wissenschaft seiner Zeit hatte erst kürzlich einen Namen für seinesgleichen erfunden: Homo ferus - der wilde Mensch; kein Primitiver, sondern ein Wesen jenseits aller zivilisatorischen Kommunikation. Er war nicht Natur und nicht Kultur. Mit anderen Worten: Er verstand vom Leben weniger als eine Ratte.
Und bald drang die Kunde jenes Exemplars ohne Spezies bis nach Paris. Höheren Ortes interessierte man sich für den Fall. So geriet das wilde Kind in die Hände eines Pariser Arztes, der sich bereits eine große Reputation bei der Therapie von taubstummen Kindern erworben hatte. Jener Doktor Itard gab dem Jungen den Namen Victor, weil er auf den Vokal O irgendwie zu reagieren schien, und er weigerte sich, in seinem Patienten ein bloß schwachsinniges Wesen zu sehen. Victor war ein Geschenk für die Wissenschaft. Er versprach Antwort auf die Frage: Was ist die Natur des Menschen? Und inwieweit wird er von der Zivilisation geprägt? Doch Victor gab keine Antwort.
"Itard wollte ihm das Sprechen durch Nachahmung beibringen, denn auch kleine Kinder erwarben ja ihren Wortschatz dadurch, dass sie nachsprachen, was ihre Eltern sagten. Er zerlegte die Sprache in einfache Vokale und Konsonanten und wiederholte diese immer wieder, in der Hoffnung, der Junge werde den entsprechenden Laut nachahmen, und stets hielt er Objekte hoch – ein Glas Milch, einen Schuh, einen Löffel, eine Kartoffel – und benannte sie. Der Blick des Jungen wich dem seinen aus."
Victor von Aveyron gibt sein Geheimnis nicht preis. Er wird berühmt als ungeklärter Fall, als Niederlage der noch jungen Aufklärung. Fünf Jahre lang arbeitet Doktor Itard mit ihm: zäh, intensiv, leidenschaftlich verbissen und verzeichnet doch nur winzige Fortschritte. Victor gelingt es zwar, Gegenstände auf Abbildungen zu erkennen, doch er kann kaum ein Dutzend Worte sprechen. Nach langen Jahren unter dem Joch pädagogischer Zwangsarbeit gibt Itard auf. Victor verbleibt in der Obhut eines Hausmeisterehepaares und stirbt 1828 im Alter von vierzig Jahren.
T.C. Boyle erzählt im Großen und Ganzen die Geschichte, wie sie seit 200 Jahren bekannt ist und betankt sie mit Kolorit: Wir spüren die Feuchtigkeit in den Wäldern, in denen sich Victor verbirgt. Und wir spüren die Ambivalenzen des szientistischen Humanismus der Jahre in Paris nach der Revolution. Die Geschichte des Victor von Aveyron ist so eigenartig und rätselhaft, dass man sie gerne noch mal liest.
Doch Boyle erzählt die Geschichte bloß nach, er erzählt sie nicht neu. Auch der Romancier dringt nicht bis in Victors Seele vor, er weiß nicht einmal, ob er eine hat. Doch warum tut er dann so, als wüsste er, dass Victor sich beim Trinken reinen Wassers an sein Leben in den Wäldern erinnert?
Auf der anderen Seite beleuchtet die Erzählung auch die Agenten der Zivilisation nicht neu. Doktor Itard verkörpert gleichermaßen die Gewalt der Aufklärung, wie die Empfindsamkeit eines praktischen Humanismus. Das alles kennen wir spätestens seit Francois Truffauts Film über den "Wolfsjungen". Und es gibt Regalmeter an Literatur, die den Fall unter allen möglichen Aspekten analysiert haben.
Erstaunlich, aber nicht nachvollziehbar, wird es, wenn der Erzähler von den belegten historischen Fakten abweicht. In seiner Darstellung nimmt die erwachende Sexualität Victors einen breiten Raum ein. Doch es gehört zu den Sonderbarkeiten dieses Wesens, dass es eben keinen Sexualtrieb entwickelte, dass Victor – wenn man so will – auch tierisch schwach ausgebildet war. Es scheint, als rebelliere der Romancier gegen die Reglosigkeit, gegen die Undurchdringlichkeit seines Helden aus eher dramaturgischen Gründen.
Vielleicht liegt des Rätsels Lösung ja in ganz trivialen Umständen. In einem Interview hat Boyle verraten, dass die Geschichte von Victor eigentlich Teil seines Romans Talk, Talk hätte werden sollen. In diesem großartigen Roman geht es um modernen Identitätsdiebstahl im Zeichen von Kreditkarten und elektronischer Datenspeicherung. Man ahnt, warum Boyle dann die Idee verworfen hat: Das wilde Kind taugt nur sehr bedingt als Beispiel für Identität oder gar Identitätsdiebstahl. Boyle mag von der Geschichte fasziniert geblieben sein, aber er hat sie bestenfalls nacherzählt. In den USA ist die Erzählung als Teil eines Sammelbands erschienen. In Deutschland wollte man daraus einen kleinen funkelnden Roman machen, einen neuen Boyle eben. Doch es ist keiner.
T.C. Boyle: Das wilde Kind
Erzählung. Aus dem Amerikanischen von Dirk van Gunsteren
Hanser Verlag. München 2010
108 Seiten, 12,90 Euro