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Simple Verfolgungsjagden und kulturhistorische Anekdoten

Atemlos aneinandergestrickt lässt Dan Brown in "Inferno" seinen Helden Robert Langdon den Weltuntergang verhindern. Der Roman ist allerdings an hohler Aufgeblasenheit kaum zu überbieten.

Von Hartmut Kasper |
    Professor Robert Langdon, der Verkaufsschlager von Dan Brown, darf wieder einmal umfangreich durch die Weltgeschichte abenteuern. 685 Seiten zählt das Buch in der deutschen Version, großzügig mit Buchstaben bedruckt und versehen mit dem einen oder anderen lehrreichen Schaubild beispielsweise über den "Anstieg der Weltbevölkerung im Lauf der Geschichte".

    Davon angeregt sei auch hier eine kleine Statistik bemüht: Von den besagten 685 Seiten stehen 676 für den Romantext zur Verfügung. Allerdings sind 54 dieser Seiten schlicht blank – vielleicht, weil der Verlag Raum für Notizen lassen wollte. Dazu kommen etliche nur mit fünf oder noch weniger Zeilen bedruckte Seiten. Will sagen: Etwa zehn Prozent des Konvoluts sind leeres Papier. Aber dafür muss man wohl nicht den Autor verantwortlich machen, sondern den blählustigen Verlag.

    Dabei stehen die leer gelassenen Seiten den mit Text gefüllten gar nicht allzu sehr nach. Der Fall, in den der Serienheld, Symbolforscher und Zeichendeuter Professor Langdon diesmal verstrickt wird, ist an hohler Aufgeblasenheit kaum zu überbieten.

    Es geht um Folgendes: Bertrand Zobrist, ein Schweizer Milliardär, genialer Wissenschaftler, Fachmann für Keimbahnmanipulation, sexy und charismatisch wie kein Zweiter, dieser Zobrist also fürchtet um den Fortbestand der Menschheit. Die Menschheit werde – so weissagen ihm die populationsprognostischen Modelle – demnächst an sich selbst zugrunde gehen, an der katastrophalen Überbevölkerung, an der bloßen Masse Mensch.

    Da muss man doch etwas tun, findet das Genie, und erfindet ein Mittel gegen die Überbevölkerung. An diesem Mittel hat er jahrelang in der Verborgenheit geforscht. Jetzt ist es einsatzbereit, soll demnächst freigesetzt, unter die Leute gebracht werden und zur nachhaltigen Dezimierung der Menschheit beitragen. Die gesundgeschrumpfte Menschheit werde – von viel erdrückender Biomasse entlastet – prächtige Blüten treiben und sich selbst übertreffen. Zobrist ist nämlich auch noch ein sogenannter Transhumanist.

    Hören wir zu diesem Stichwort Dr. Elizabeth Sinskey, die in diesem Roman Direktorin der Weltgesundheitsorganisation WHO ist:

    "Der Transhumanismus", erklärte Sinskey, "ist eine intellektuelle Bewegung, eine Art Philosophie. Im Kern geht es darum, dass die Menschen mithilfe von Technologien alle Schwächen überwinden sollen, die unsere Körper von Natur aus mit sich bringen. Mit anderen Worten: Die nächste Stufe der menschlichen Evolution sollen wir selbst durch Biotechnologie bestimmen.

    "Das klingt mehr danach, als wolle hier jemand Gott spielen", erwiderte Langdon. "Dem stimme ich von ganzem Herzen zu", sagte Sinskey.


    Zobrist ist nicht nur Transhumanist, sondern auch ein großer Fan von Dante Alighieri, dem Dichter der später sogenannten "Göttlichen Komödie". Besonders deren erster Teil hat es ihm angetan, des Dichters Höllenfahrt nämlich, das "Inferno". Deswegen kleidet er seine Mitteilungen an die Welt vorzugsweise in Zitate aus diesem Werk. Zobrist sagt:

    "Dante ist nicht Fiktion – sein Werk ist Prophezeiung.
    Erbärmliches Elend. Quälendes Leid. Das ist die Welt von morgen.
    Ist die Menschheit unkontrolliert, gleicht sie einer Seuche, einem Krebsgeschwür. Unsere Zahl wächst mit jeder folgenden Generation. Und wenn diese Zukunft Gestalt annimmt, stehen wir wankend über dem ersten Kreis der Hölle."


    Nun ist das Dantesche Inferno in Wirklichkeit eigentlich keine bevölkerungstheoretische Denkschrift. Aber einem transhumanistischen Genie wie Zobrist sei dieser Spleen gegönnt. Und was hätte Professor Langdon in diesem Roman zu entschlüsseln, wenn Zobrist nicht ein so leidenschaftlicher Verschlüsseler seiner eigenen Botschaften wäre? Zobrist ist textkundig, genial, hat Sinn für den Effekt und großes Kino und ist, was nicht vergessen werden soll, ein Schweizer. Das klingt, als hätte er ein brillanter Gegenspieler für den Professor sein können.

    Allerdings hat sich dieser Gegenspieler schon im Prolog des Romans zu seinen Ahnen versammelt und in den Tod gestürzt. Ersatzweise hat er, wie das so ist in Browns symboltrunkenen Texten, also Zeichen hinterlassen, kryptische Texte und chiffrierte Botschaften, die auf seinen Plan hindeuten.

    Auf den Plan und auf den Ort, von dem aus die Menschheitsverminderung ihren Ausgang nehmen soll. Auf den Plan, auf den Ort und auf den Zeitpunkt: Morgen nämlich.

    Und fast der gesamte Roman spielt heute, also an einem einzigen Tag. An einem Montag, den 18. März, übrigens. Langdon und einige andere Helden, darunter die Direktorin der WHO, haben Anlass, für Dienstag den Weltuntergang zu befürchten. Und wenn man den noch aufhalten will, muss man ich sputen.

    Allerdings werden die Ereignisse nicht chronologisch erzählt. Der Roman eröffnet mit einer Vision von Professor Langdon:

    Die Erinnerungen kehrten nur langsam zurück, wie Blasen, die aus der Tiefe eines bodenlosen Brunnens stiegen. Eine verschleierte Frau. Robert Langdon starrte sie über einen Fluss hinweg an, dessen schäumende Fluten rot waren von Blut. Die Frau stand am anderen Ufer, ihm zugewandt, reglos und ernst, das Gesicht von einem Schleier verhüllt. "Suche", flüsterte die Frau. "Suche, und du wirst finden."
    Langdon hörte die Worte, als hätte die Frau in seinem Kopf gesprochen. "Wer sind Sie?", wollte er rufen, doch seine Kehle blieb stumm.
    "Die Zeit drängt", flüsterte die Frau. "Suche und finde."


    Diese Vision muss sein, weil sich der Professor in einem Krankenhaus befindet. Irgendwo in Florenz. Was er hier will, was er hier soll – er weiß es nicht. Sein Gedächtnis hat gelitten, am Kopf ertastet er eine Schusswunde. Seine Kleidung ist fort, ja, sogar die durch die Vorgängerromane berühmte Mickey-Mouse-Uhr, die Autor Dan Brown seiner Figur anstelle eines lebensechten Charakters mit auf den Weg gegeben hat, hat ihn verlassen.
    Das ist nicht weiter schlimm. Denn Langdon weiß auch so, was seine Leser wissen, sobald sie ein Brown-Buch aufschlagen: Die Zeit drängt. Und nicht nur die Zeit. Auch die Dame aus seiner Vision hat ihm ja bereits den Tipp gegeben, als Robert Langdon das zu tun, was ein Robert Langdon eben tun muss:

    "Suche und finde."

    Langdon macht sich also auf die Suche. Die Krankenhausärztin Dr. Sienna Brooks schließt sich ihm an. Killer scheinen ihnen bald auf den Fersen, dubiose paramilitärische Mächte setzen ihnen nach. Aber nie – oder selten – ist Langdon um einen Ausweg noch aus der lichtlosesten Sackgasse verlegen. Schließlich gilt bei Browns: Wo ein Langdon ist, ist auch ein Weg.

    "Langdon hatte keine Zeit für Erklärungen. Stattdessen packte er mit beiden Händen den massiven Holzrahmen der Karte und zog kräftig daran. Die gesamte Karte schwenkte in den Raum – und mit ihr ein Teil der Wand und Vertäfelung. Dahinter kam ein geheimer Gang zum Vorschein."

    Überhaupt wimmelt es an den Spielorten des Romans derart von geheimen Türen und verborgenen Tunneln, Gängen und Verliesen, als hätte der Autor Meister Edgar Wallace selbst als Bühnenbildner engagiert.

    Die Suche geht ihren Gang. Nach und nach enthüllt sich: Langdon ist schon seit einigen Tagen auf der Suche, wurde aber außer Gefecht gesetzt, sein Gedächtnis gezielt gestört. Die Feinde Langdons sind gar nicht seine Feinde. Die hübsche Ärztin seines Vertrauens dagegen ist so vertrauenswürdig nicht. Selbst auf die Schusswunde am eigenen Kopf ist kein Verlass – alles nur Machwerk, aufgeschminkt, um ihn zu manipulieren. Kurz: Der Roman hat so viele doppelte Böden, dass ihm jedes Fundament abhandenzukommen droht.

    Doch wenn es in dieser Geschichte auch an allen Ecken schwankt und wackelt – Robert Langdon, tapfer und unaufhaltsam, wie es sich für einen Weltstar gehört, Langdon schlägt sich durch: Zunächst durch Florenz, später geht es nach Venedig, schließlich ab nach Istanbul. Robert Langdon kennt sich einfach überall aus. Wofür ist man schließlich Professor? Er geizt nicht mit Wissenswertem, das er, buchstäblich im Vorübergehen, vor dem geduldigen Leser wie in einer Vorlesung ausbreitet:

    "Vor ihnen erhob sich der Campanile, das zweite von insgesamt drei Bauwerken des Ensembles. Gemeinhin als "Giottos Glockenturm" bekannt, bestand kein Zweifel daran, dass der Campanile zur Kathedrale gehörte. Errichtet aus dem gleichen rosafarbenen, grünen und weißen Marmor, ragte der quadratische Turm schwindelerregende 85 Meter in den Himmel."

    Zeit zum Nachmessen bleibt nicht, muss aber auch nicht sein. Denn wer wollte es bezweifeln? Schließlich nennt Robert Langdon, selbst wenn er unter einer kleinen Amnesie leidet, ein eidetisches Gedächtnis sein eigen – und das läuft offenbar in Zentren des Pauschaltourismus zu Höchstleistungen auf. Wenn Sie dem Herrn Professor also bitte weiter folgen wollen:

    "Der Palazzo Vecchio ähnelt einer gigantischen Schachfigur. Mit seiner rustikalen, kantigen Fassade und dem zinnenverzierten Bossenwerk steht das turmähnliche Gebäude in der südöstlichen Ecke der Piazza della Signoria. Der ungewöhnliche Turm des Palazzo, der sich auf der Westseite aus dem festungsartigen Bauwerk erhebt, ist im Lauf der Jahrhunderte zu einem unverwechselbaren Wahrzeichen von Florenz geworden. Kein Trip zur Piazza war perfekt ohne einen Espresso im Café Rivoire, gefolgt von einer Besichtigung der Medici-Löwen in der Loggia dei Lanzi – der Freiluftgalerie der Piazza."

    Das hätte ein Baedeker kaum schöner formulieren können. Langdon weiß aber nicht nur, was er sieht. Auch die Geschichte ist für ihn ein offenes Buch, in dem er blättert wie im großen Plötz:

    "Langdon kannte Berichte darüber, wie das Leben zur Zeit der Pest in Venedig gewesen war. Da es in der Stadt so gut wie keine Möglichkeit gab, die Toten in festem Erdreich zu bestatten, trieben die aufgequollenen Leichen in den Kanälen. Als den Mächtigen der Stadt schließlich klar wurde, dass Ratten die Krankheit verbreiteten, war es zu spät. Trotzdem erließ Venedig ein Dekret, demzufolge alle einlaufenden Schiffe 40 Tage lang weit vor der Stadt ankern mussten, bevor sie ihre Ladung löschen durften.
    Bis zum heutigen Tag erinnert die Zahl 40 – quaranta auf Italienisch – an diese düstere Zeit, denn auf sie geht der Begriff Quarantäne zurück."


    Hätten Sie es gewusst? Gleich darauf legt sich das Boot, in dem Robert Langdon in diesem Augenblick durch Venedig schießt, in die Kurve, und schon richtet der Professor

    seine Aufmerksamkeit auf das elegante dreiteilige Gebäude zu seiner Linken. Casino di Venezia, der spektakuläre Renaissancepalast, gehörte seit dem 16. Jahrhundert zum Stadtbild von Venedig. Einst ein Privathaus, war es nun eine elegante Spielhalle, die berühmt wurde, als Richard Wagner hier 1883 kurz nach der Uraufführung des "Parsifal" seinen tödlichen Herzschlag erlitten hatte.

    Das ist ja interessant, wenn man es denn wissen will. Aber auch, wer das alles schon weiß oder überhaupt nicht wissen möchte und stattdessen mehr vom Inferno hören will, das der Titel verheißt, muss die endlosen Langdonschen Schloss- und Stadtbesichtigungen durchstehen. Wo soviel von Kunst – oder von soviel Kunst – die Rede ist, verwundert es nicht, dass Langdon sich schließlich sogar zu kunstphilosophischen Betrachtungen aufschwingt:

    "Robert Langdon war wie versteinert. Die Rosse von San Marco! Die vier Kupferpferde waren im vierten Jahrhundert von einem unbekannten Künstler auf der Insel Chios gegossen worden. Der Anblick dieser perfekt erhaltenen Hengste erinnerte Langdon stets daran, wie wichtig es war, große Kunstwerke zu bewahren."

    Ob man kleine Kunstwerke stattdessen wegwerfen, entsorgen oder vergammeln lassen soll? Für mindere Kunstwerke und das Nachdenken darüber fehlt Kunstkenner Langdon leider die Zeit. Denn es geht atemlos zu in diesem Roman, schließlich ist man in einem Thriller, das Ende der Welt naht und es bleibt Langdon, wie mir scheint, nicht einmal Zeit für

    "einen Espresso im Café Rivoire"

    Denn wenn Langdon einmal keine Rosse aus Kupfer bewundert, Inschriften freilegt, Symbole deutet oder Chiffren entziffert, hat er es eilig, ist entweder auf der Flucht oder auf der Jagd:

    "Sienna", rief er. Doch sie stürzte sich in das Meer der Leiber und verschwand aus seinem Blickfeld. Langdon eilte ihr nach. Er stieß und drückte Leute aus dem Weg und reckte den Hals, bis er Sienna schließlich wieder entdeckte. Sie bog soeben in die Westhalle des Basars ein.
    Langdon bahnte sich weiter seinen Weg in den Basar hinein. Wenige Meter vor ihm kämpfte Sienna sich durch die Massen. Offenbar wollte sie die wilde Hatz fortsetzen. Langdon drehte sich im Kreis. Langdon rannte zum Ausgang und kam auf einen riesigen Platz, der genauso voll mit Menschen war wie der Basar. Sienna rannte die Straße entlang, mit einem Vorsprung von hundert Metern. Sie huschte durch den Verkehr. Langdon sprintete über den Platz zur Schnellstraße. Er sprang über die Leitplanke und wich den ihm entgegenrasenden Fahrzeugen aus. Immer wieder blieb er stehen, hechtete vor, verharrte und wich erneut aus, bis er schließlich über die Leitplanke sprang. Langdon sprintete weiter.


    Soweit die Essenz von drei Seiten Handlung. Browns hyperaktiver Stil ist ein Gemisch aus simplen Verfolgungsjagden und kunsthistorischen Anekdoten. Und sonst? Browns Sprache strebt vielleicht nicht nach Brillanz, eine gewisse Penetranz aber wird man ihr nicht absprechen können.

    C a t r o v a c e r. Diese zehn Buchstaben, so hatte Langdon erkannt, standen im Mittelpunkt eines der größten Mysterien der Kunstgeschichte, eines jahrhundertealten Rätsels, das nie gelöst worden war. Trotz zahlreicher Theorien bleibt die verborgene Aussage dieser Nachricht bis zum heutigen Tag ein Rätsel.
    Langdon empfand bei solchen Rätseln immer ein Gefühl der Vertrautheit. Schließlich waren Kunstgeschichte, antike Symbole und Rätsel Langdons ureigenes Fachgebiet.


    Spätestens jetzt dürfte auch der unaufmerksamste Leser bemerkt haben, worum es im Roman geht – um

    "Rätsel"

    Rätsel, die es, am Rande sei es bemerkt, gar nicht hätte geben müssen, wäre Bertrand Zobrist nur bereit gewesen, Klartext zu sprechen, hätte der dantekundige Schweizer Milliardär seine Sache einfach mitgeteilt – vielleicht in einem hinterlegten Testament, das ein Notar kurze Zeit nach Ingangsetzung des Infernos der interessierten Öffentlichkeit hätte verlesen können. Aber dann wären im Roman wohl über 600 Seiten leer gestanden wie ein Parkhaus am Rande der Wüste.

    Nehmen wir es also, wie es ist: Zobrist zieht einen Abgang mit Denksportaufgaben vor, das ist sein gutes Recht. Schließlich hat der Mann Humor, wenn auch einen reichlich schwarzen, wie sich zeigen wird: Auf die Menschheit losgelassen werden soll seine biologische Lösung des Problems nämlich in Istanbul.

    Kaum hat Langdon das herausgefunden, sitzt er auch schon im Flugzeug:

    An diesem Abend setzte eine Transportmaschine vom Typ C-130 zur Landung auf dem Atatürk-Flughafen an, dicht gefolgt von einer Sturmfront. Angeschnallt auf einem Sitz zwischen Pilot und Copilot, blickte Robert Langdon durch die Cockpitscheibe. Jetzt sah Langdon rechts von sich die Lichter der Stadt. Das war die europäische Seite, die von ihrer asiatischen Schwester durch ein schmales, dunkles Band getrennt wurde. Der Bosporus.
    Auf den ersten Blick sah der Bosporus wie eine breite Kluft aus, der Istanbul in zwei Teile teilte.


    Der Bosporus also, dieses schmale Band beziehungsweise diese breite Kluft oder was auch immer, wird überflogen. Und schon eilt Langdon durch die Stadt – und macht sich dabei so seine Gedanken:

    Überall auf den verregneten Straßen gingen ahnungslose Seelen ihren abendlichen Geschäften nach. Eine hübsche Türkin rief ihre Kinder zum Abendessen hinein; zwei alte Männer teilten sich ein Getränk in einem Straßencafé; ein gut gekleidetes Paar schlenderte Hand in Hand den Bürgersteig entlang.
    Langdon blickte in die Gesichter um sich herum und versuchte sich vorzustellen, was für ein Leben jeder dieser Menschen führte.
    Die Massen bestehen aus Individuen.


    Das ist durchaus fein beobachtet. Doch dieser soziologische Gedankengang kann nicht vertieft werden, denn die Zeit drängt. Zobrist, das ist die diabolische Pointe, hat einen unterirdischen, feuchtwarmen Raum gebucht, eine den Touristen offenstehende Zisterne, in der es nun von Menschen wimmelt. Denn der tote Mann lädt ein – nicht zur Verbreitung seines Mittels, nein, sondern zu einem kostenlosen Wunschkonzert:

    An diesem Abend spielte das Staatliche Symphonieorchester von Istanbul tief unter der Erde eines von Franz Liszts berühmtesten Werken: die Dante-Symphonie, eine Komposition, die von Dantes Reise in die Hölle inspiriert worden war.

    Endlich, endlich ist auch Professor Robert Langdon vor Ort und erfährt – obwohl noch ohne Mickey-Mouse-Uhr – was die Uhr geschlagen hat: Er kommt zu spät.

    Und das ist immerhin eine gelungene Überraschung. Denn der Plan von Zobrist entpuppt sich als noch ein bisschen ausgetüftelter, als selbst Langdon und die WHO befürchtet hatten. Am Ende ist Langdon wiederhergestellt, hat seine Maßanzüge zurück und auch die Mickey-Mouse-Uhr. Und man fragt sich: Wozu das ganze kunst- und kulturwissenschaftliche Brimborium, das ja doch zu keinem Zeitpunkt kaschieren konnte, wie wenig Brown zu sagen und wie wenig er zu erzählen hat?

    Mechanisch wird Episode an Episode gehäkelt. Man ist zu Lande, zu Wasser und in der Luft unterwegs und reißt den Leser doch nicht mit. Natürlich endet jedes, aber auch jedes der über 100 kurzatmigen Kapitel mit einem Cliffhanger, sodass man als Leser hier und da die Übersicht verliert, wer eigentlich gerade an welcher Klippe hängt. Aber selbst, wenn die eine oder andere Figur stürzen würde, es wäre ohne Belang: Die Kampanile, Cafés und kupfernen Pferde haben mehr Charakter als die Charaktere. Und einige von ihnen erzählen sogar eine spannendere Geschichte als Browns ganzes "Inferno".

    Keine Frage: Wer an den "drei ???" seinen Spaß hatte, an Schnitzeljagden und turbulenten Reiseführern, kann auch an diesem Buch Gefallen finden, das einen bewegten Montag im Leben eines Professors erzählt. Er darf sich nur nicht an den sprachlichen Unebenheiten stören, an reichlich erzählerischem Leerlauf und immer wieder aussetzender Logik.

    Wenn man ein Auto erworben hat, das einen nicht ganz glücklich macht, weil es schon als Neuwagen an kleineren oder größeren Mängeln leidet, weil der Motor stottert, die Bremse hakt und nichts wirklich rund läuft, dann nennt man dieses Auto einen Montagswagen.

    So gesehen ist es eine hübsche und von Deutemeister Langdon gar nicht bemerkte Chiffre, dass Dan Brown mit "Inferno" einen echten Montagsroman vorgelegt hat.

    Buchinfos:
    Dan Brown: "Inferno" , Aus dem amerikanischen Englisch von Axel Merz und Rainer Schumacher, Bastei Lübbe Verlag, Preis: 26,00 Euro