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Simulation des großen Crash

Am vergangenen Freitag wackelte in Istanbul für eineinhalb Sekunden lang die Erde - allerdings nicht in Wirklichkeit, sondern rein virtuell im Computer. Zwei Jahre lang entwickelten Wissenschaftler des staatlichen seismologischen Datenzentrums und der Technischen Universität Istanbul ihr Simulationssystem, mit dem die Auswirkungen starker Beben erforscht werden sollen.

    Um 08:20 Uhr Ortszeit suchte am Karfreitag ein Erdbeben der Stärke 5 Istanbul heim. Die erheblichen Schäden entstanden indes nur in den Schaltkreisen der Computer am staatlichen seismologischen Datenzentrum. Denn zum ersten mal untersuchten die Geologen und Informatiker mittels einer neuen Simulation, welche konkreten Folgen Erdstöße aus der nahen geologischen Spannungszone auf die türkische Metropole am Bosporus hätten. Die Ergebnisse sind offenbar Besorgnis erregend: die Bausubstanz vieler Gebäude scheint demnach kaum robust genug, um solchen Erdschlägen lange widerstehen zu können. Davon direkt bedroht sind rund zwölf Millionen Menschen, die in sieben Millionen Häusern in Istanbul leben und arbeiten. Um diese komplexen Bedingungen in ihren Berechnungen abzubilden, verwendeten die Wissenschaftler ein auf genauen Hausbeschreibungen basierendes Modell der Großstadt. Entsprechend aufwändig gestaltete sich die Beschaffung und Verarbeitung der Datengrundlage der Simulation. Zwar ist das Flächenkataster Istanbuls teils digital organisiert, doch viele Informationen lagen noch immer nur in Papierform vor und mussten mühsam per Scanner erfasst werden.

    Ein anderer Zweig des Projektes sammelte weitere Angaben im Rahmen eines Feldversuchs. Seit 1998 erfassten Statiker, Geologen und Messingenieure vor Ort Gebäude der Stadt in ihren Laptops. Erschwert wurde diese Sisyphusaufgabe durch insgesamt 29 unterschiedliche Datenformate, die dabei zur Verwendung kamen und im Lauf der Studie immer wieder erweitert und abgewandelt wurden. Schließlich flossen die Daten in ein so genanntes Business Intelligence System, also die virtuelle Repräsentation Istanbuls in der Simulation. Um diese enorme Datenflut überhaupt rasch im Ablauf der künstlichen Erschütterungen bewältigen zu können, nutzten die Informatiker einen Trick: dabei berechnet das Expertensystem die Wahrscheinlichkeit, mit der Informationen zu einem bestimmten Teil der Stadt zu welchem Zeitpunkt benötigt werden. Das Ergebnis ist eine Reihenfolge, mit der die Reaktion von Häusern und Straßenzügen auf die Erdstöße berechnet werden. Dadurch befinden sich in der eigentlich aktiven Berechnung des Computermodells nur vergleichsweise wenige Terabyte Daten. Die jeweils aktuellen Ergebnisse wandern dabei auf einen besonderen Rechner, der die Informationen gesondert auswertet und präsentiert. Nachteil dieser effizienten Methode ist indes, dass die Simulation von 1,5 Sekunden Erdbeben auf zwischen ein bis drei Stunden Rechenzeit gestreckt werden.

    Die eigentliche Rechenarbeit erledigt ein durchaus heterogenes Netzwerk ganz unterschiedlicher Komponenten. Die Datenhaltung besorgt dabei eine IBM AS/400 sowie verschiedene ältere Einheiten. Kernstück der Infrastruktur bildet ein Vektorrechner, auf dem zentrale Berechnungen ablaufen. Ein Grid aus mehreren Dutzend PCs bereitet schließlich die Daten für die Verwendung in der Simulation auf. Organisiert wird der gesamte Verbund durch ein schlankes Linuxsystem, bei dem beispielsweise der Datenbankrechner schlicht als Eingabeeinheit identifiziert wird. Neben dem gesamten Stadtabbild können von dem Simulator auch die Auswirkungen auf einzelne Stadtbereiche gesondert durchgespielt werden. Besonderen Aufschluss versprechen sich die Initiatoren etwa für mehr oder weniger unkontrolliert im Lauf der Zeit entstandene Siedlungen am Rande Istanbuls. Hier gilt die Bausubstanz allerdings als so fragwürdig, dass Experten hier sehr schwere Schäden befürchten. Doch bevor die Wissenschaftler zu harten Ergebnissen und möglichen Schlussfolgerungen Stellung nehmen wollen, sollen erst genügend viele Durchläufe und Szenarien in der Simulation untersucht werden. Dennoch soll etwa der durch die Technische Universität Istanbul erstellte Notfall- und Evakuierungsplan schon bald von dem Projekt profitieren und entsprechend verbessert werden. Auch sollen anhand der Resultate die Bauvorschriften verschärft werden.

    [Quelle: Peter Welchering]