Nach den Leichenfunden in der Stadt Isjum, im Osten der Ukraine, werden die Stimmen lauter, die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen. Die ukrainische Regierung wirft der russischen Armee Kriegsverbrechen vor. 440 Gräber hat die ukrainische Armee in Isjum gefunden, nachdem sie das Gebiet zurückerobert hatte, außerdem wurden Fotos von Folterkammern veröffentlicht. Russland hat die Vorwürfe zurückgewiesen, Kremlsprecher Peskow sprach von einer Lüge.
Doch die Vorwürfe wiegen schwer. Und die Stimmen derjenigen, die der russischen Armee einen Genozid – also einen Völkermord an Ukrainerinnen und Ukrainern vorwerfen, diese Stimmen waren schon früh in diesem Krieg zu hören - aus der Politik, aber auch von Juristen, Historikern und anderen Wissenschaftlern.
Aus juristischer Sicht ist ein Genozid jedoch sehr schwer nachzuweisen, erklärte Kateryna Busol, ukrainische Anwältin für humanitäres Völkerrecht und Strafrecht aus Kiew, im Deutschlandfunk. Entscheidend sei, dass es eine gezielte Absicht zum Genozid gibt. Um das nachweisen zu können plädiert Busol dafür, jetzt eine gute Strategie für die Beweissammlung zu entwickeln.
Das Interview in voller Länge:
Herzing: Frau Busol, welche Art von Verbrechen durch die russische Armee sehen wir in der Ukraine?
Busol: Russlands Aggression hat ja nicht im Februar dieses Jahres begonnen, sondern schon 2014 mit der Besetzung der Krim und der Unterstützung des Stellvertreterkriegs in der Ostukraine. Seitdem haben wir eine Reihe mutmaßlicher Kriegsverbrechen gesehen: illegales Verschwindenlassen von Personen, Pseudoprozesse, Folter, Vergewaltigung und andere Formen sexueller Gewalt.
Was wir seit Februar 2022 beobachten, ist die Ausweitung dieser Verbrechen, geographisch, in der Schwere, und auch was die Arten von Verbrechen angeht, also: Seit Februar 2022 sprechen wir auch über Verbrechen gegen die Menschlichkeit und möglichen Genozid, genozidale Absichten oder den Aufruf zum Genozid. Vor Februar gab es außerdem nicht in diesem Ausmaß ungerichteten Beschuss oder gezielten Beschuss ziviler Objekte und Zivilisten. Wir sehen also neue Muster, aber es gab eben schon zuvor ausreichend Hinweise auf bestimmte Kriegsverbrechen seit 2014.
Herzing: Die UN-Konvention von 1948 betrachtet Genozid ja als Handlung in der Absicht eine, ich zitiere jetzt, „nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe ganz oder teilweise zu zerstören“. Trifft das auf die russische Kriegsführung in der Ukraine zu?
Busol: Das Thema Genozid hat mindestens zwei Dimensionen: eine politische und eine juristische. Auf der politischen Ebene haben sowohl das ukrainische Parlament als auch eine ganze Reihe von Parlamenten anderer Staaten weltweit Russlands Handeln in der Ukraine als Taten mit genozidalen Absichten anerkannt.
Das heißt also Taten, die darauf abzielen eine der vier relevanten Gruppen ganz oder in Teilen zu zerstören, im Fall der Ukraine die nationale Gruppe. Juristisch ist Genozid eines der Verbrechen, die am schwersten nachzuweisen sind. Denn es muss bewiesen werden, dass es eine gezielte Absicht zum Genozid gibt, dass die Gewalt also nicht verübt wurde, weil die obersten Befehlshaber gleichgültig waren, sondern sie müssen aktiv diesen Befehl gegeben haben, die betreffende Gruppe ganz oder teilweise auszulöschen.
Leider wird dieses „Auslöschen“ in der aktuellen Rechtspraxis und Rechtsprechung in erster Linie als „physische Auslöschung“ verstanden, also nicht mit Blick auf die Zerstörung des kulturellen Erbes.
„Klar Aspekte genozidalen Verhaltens in Russlands Kriegsführung“
Herzing: In der UN-Konvention steht ja auch, dass nicht nur das gezielte Töten von Mitgliedern einer bestimmten Gruppe als Genozid gewertet werden kann, sondern auch andere Handlungen, die verhindern, dass die Gruppe fortbestehen kann. Was lässt sich dazu mit Blick auf die Ukraine sagen?
Busol: Wir können ganz klar Aspekte genozidalen Verhaltens in Russlands Kriegsführung seit Februar dieses Jahres erkennen, verglichen mit dem Zeitraum 2014-2021. Ich sage nicht, dass wir schon ein allumfassendes genozidales Handeln haben, aber es gibt einige augenfällige Elemente, also zum Beispiel die Verbringung ukrainischer Kinder nach Russland, und Russland hat ja auch öffentlich gemacht, dass es eine Vereinfachung des Adoptionsrechts im Fall ukrainischer Kinder gibt. Und man geht davon aus, dass diese Kinder dann entsprechend russischer Narrative aufgezogen, in russischer Sprache unterrichtet, also im Wesentlichen umerzogen werden sollen. Dieses Verhalten könnte die Kriterien als genozidal erfüllen.
Ein anderes Beispiel für mutmaßlich genozidale Absichten könnte sein, dass die russischen Verbrechen von einer entsprechenden Rhetorik begleitet werden. Auch der erste Vergewaltigungsfall, der von ukrainischen Behörden offiziell registriert wurde und über den weltweit berichtet wurde: Das war eine Frau die mehrfach von zwei russischen Soldaten vergewaltigt wurde, ihren Mann hatten die Soldaten kurz zuvor getötet. Nach Angaben der Frau haben die Soldaten ihr gesagt, dass sie ihn töteten, weil er ein Nazi gewesen sei und kein Recht auf Leben habe.
Herzing: Wenn wir über Rhetorik reden - gibt es noch andere Hinweise, die den Genozid-Vorwurf stützen?
Busol: Ein besonderer Aspekt des Genozids ist die Anstiftung zum Genozid, also der öffentliche Aufruf zum Genozid. Nach internationalem Recht einschließlich des Römischen Statuts des Internationalen Strafgerichtshofs ist der Aufruf zum Genozid ein ganz eigenes Verbrechen.
Es wurde noch nicht so deutlich, weil wir beispielsweise sowohl beim Holocaust, als auch in den Jugoslawienkriegen immer beides hatten: Also den Aufruf zum Genozid und auch den Genozid selbst. Aber es kann ja den Aufruf zum Genozid geben ohne dass dieser dann auch erfolgt. Die Kriminalisierung dieses Verhaltens ist sehr wichtig, denn die Weltgemeinschaft sollte wachsam bleiben für die Phrasen, die zu dieser extremen Form der Gewalt des Genozids aufrufen.
Und natürlich, wenn wir uns bestimmte russische Medienleute anschauen, die dem russischen Regime sehr nahe stehen, wie Herr Solovjov oder Simonjan, die Leute von Russia Today, dann hört man da nicht nur die Anstachelung, sondern auch abfällige Bemerkungen über Ukrainer. Kürzlich äußerten sich auch führende russische Staatsbedienstete im Sinne von „Keine Gnade für Ukrainer“.
Solche Aussagen könnten also den Tatbestand „Aufruf zum Genozid“ erfüllen. Und ich hoffe sehr auf die internationalen Anwälte und Politiker, denn wenn wir schon an diesem Punkt reagieren, könnten hoffentlich weitere Gewalt, schlimmere Handlungen im Sinne eines Genozids verhindert werden.
Herzing: Wie schätzen Sie die Erfolgsaussichten für diese Art von Strafverfahren ein?
Busol: Das lässt sich im Moment schwer beurteilen. Was wir jetzt tun sollten, ist: Wir müssen gute Strategien für die Beweissammlung entwickeln. Wir sollten jetzt nicht bestimmte Anklagen um ihrer selbst willen forcieren.
Viele Staaten, da ist die Ukraine keine Ausnahme, denken: Genozid ist das Verbrechen aller Verbrechen. Aber es gibt da keine Hierarchie: Kriegsverbrechen sind nicht weniger schwer als Genozid, dasselbe gilt für Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Es geht also darum, dass die Ukraine, aber auch die Rechtsexperten des Internationalen Strafgerichtshofs daran arbeiten, die Wahrheit herauszufinden, die Fälle also auf glaubwürdigen Aussagen aufzubauen und alles zweifelsfrei nachzuweisen.
Denn das Hauptziel dieser Prozesse, abgesehen von der unmittelbaren Gerechtigkeit für die Opfer, ist es historisch Zeugnis abzulegen, nicht nur für die ukrainische Gesellschaft, sondern auch die russische und belarusische. Damit sie zurückblicken können und sagen können: Das war wirklich ein faires Gerichtsverfahren und es gibt keinen Weg die verurteilte Person und ihre Handlungen irgendwie zu rechtfertigen.