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Sinfonik von Johannes Brahms
Zwei Dirigenten, zwei Perspektiven

Die Staatskapelle Berlin und Daniel Barenboim stehen für die Tradition des dunklen, opulenten Klangs. Paavo Järvi und die Deutsche Kammerphilharmonie Bremen sind dagegen für ihre schlanken Interpretationen bekannt. Dieser spannende Kontrast offenbart sich auch in den neuen Brahms-Einspielungen

Am Mikrofon: Marcus Stäbler |
    Der deutsche Komponist Johannes Brahms auf einem Foto aufgenommen um 1889.
    Johannes Brahms (picture alliance / dpa)
    Musik: Johannes Brahms, 1. Sinfonie, 1. Satz, Staatskapelle Berlin
    Wuchtig und voluminös beginnt die langsame Einleitung aus der ersten Brahms-Sinfonie in der Aufnahme mit der Staatskapelle Berlin unter Daniel Barenboim. Paavo Järvi und die Deutsche Kammerphilharmonie Bremen schlagen einen ganz anderen Ton an. Der Klang ist heller, das Tempo rascher und das Pochen der Pauke stärker abgesetzt.
    Musik: Brahms, 1. Sinfonie, 1. Satz, Dt. Kammerphilharmonie Bremen
    Zwei verschiedene, teilweise gegensätzliche Sichtweisen auf Brahms, präsentiert von zwei Top-Orchestern mit einer ganz unterschiedlichen Geschichte und Philosophie. Diese beiden Aufnahmen möchte ich Ihnen heute vorstellen und miteinander vergleichen – und damit am Tag der Deutschen Einheit auch einen Blick auf die Vielfalt der hiesigen Orchesterlandschaft werfen.
    Die Staatskapelle Berlin blickt auf eine beinahe 450 Jahre währende Geschichte zurück und gehört damit zu den ältesten Orchestern der Welt. Sie verkörpert die deutsche Tradition wie kaum ein anderer Klangkörper. Diese Tradition beschwört der Chefdirigent Daniel Barenboim auch mit der aktuellen Gesamtaufnahme aller vier Brahms-Sinfonien, die bei der Deutschen Grammophon erschienen ist.
    Gewichtiger Brahms bei Barenboim
    Barenboim setzt generell auf einen dunklen und wuchtigen Klang, sein Brahms hat Gewicht. Auch in den schnellen Passagen der ersten Sinfonie.
    Musik: Johannes Brahms, 1. Sinfonie, 1. Satz, Staatskapelle Berlin
    Daniel Barenboim und die Staatskappelle Berlin musizieren den Beginn der ersten Brahms-Sinfonie mit romantischer Schwere. Jeder Schritt scheint Kraft zu kosten, als hätte Brahms nicht nur den übergroßen Schatten des Vorbilds Beethovens gespürt, sondern den Titanen bei der Komposition auf den eigenen Schultern mitgeschleppt.
    Paavo Järvi und die Deutsche Kammerphilharmonie zeichnen in ihrer Aufnahme beim Label RCA ein anderes Bild vom ersten Satz. Bei ihnen steht das Vorandrängen im Vordergrund, die Musik bekommt eine jugendliche Energie und Frische.
    Musik: Johannes Brahms, 1. Sinfonie, 1. Satz, Dt. Kammerphilharmonie Bremen
    Paavo Järvi bremst hier etwas ab, um den bodenständigen, beinahe volksmusikantischen Charme der Passage hervorzuheben. Eines von vielen Beispielen für die Flexibilität der Aufnahme und des Klangkörpers. Järvi und seine hellwache Kammerphilharmonie überraschen mehr als einmal mit bisher unerhörten Details, ihre Interpretation weicht stark vom Brahms-Bild des späten 20. Jahrhunderts ab, das noch von Dirigenten wie Herbert von Karajan geprägt war. Deshalb wirkt Järvis Ansatz paradoxerweise moderner als der von Barenboim, obwohl er deutlich näher am historischen Originalklang bleibt.
    Die Kammerphilharmonie spielt in einer Besetzung von 35 Streichern, so wie es Brahms von den Orchestern seiner Zeit im Ohr hatte, die Aufnahme der ersten Sinfonie ist im Kurhaus Wiesbaden entstanden, wo der Komponist selbst einmal seine Dritte dirigiert hatte. Gut möglich also, dass die zeitgenössischen Hörer der ersten Sinfonie eine so schlanke Interpretation des Andante sostenuto erlebt haben wie sie Paavo Järvi mit seinem Orchester formt.
    Musik: Johannes Brahms, 1. Sinfonie, 2. Satz, Dt. Kammerphilharmonie Bremen
    Järvi rückt Brahms in neues Licht
    Aus der idyllischen Stimmung des Andante sostenuto sticht hier und da eine Flamme hervor, die ein untergründiges Feuer erahnen lässt. Das ist die Grundhaltung, mit der Paavo Järvi und die Kammerphilharmonie Bremen einen Großteil der ersten Brahms-Sinfonie musizieren. Ihre Lesart rückt den Komponisten in ein neues Licht. Mit der klassischen Formstrenge der Partitur scheint er ein Temperament zu disziplinieren, das sich auf vielfältige Weise Bahn bricht. Im dritten Satz etwa bündelt sich die Energie zu einer mitreißenden Steigerung. Sie strebt in mehreren Anläufen auf ihren Höhepunkt zu.
    Musik: Johannes Brahms, 1. Sinfonie, 3. Satz, Dt. Kammerphilharmonie Bremen
    Dieses hitzige Moment ist bei Järvi auch im Finale der ersten Brahms-Sinfonie präsent, wenn die Musik stellenweise fast schon atemlos voran stürmt.
    Musik: Johannes Brahms, 1. Sinfonie, 4. Satz, Dt. Kammerphilharmonie Bremen
    Ganz so außer sich wie hier gerät die Musik in der Konkurrenzaufnahme der Staatskapelle Berlin unter Daniel Barenboim nicht, sie schlägt ein maßvolleres Grundtempo an und bleibt in den Steigerungen stärker gezügelt.
    Musik: Johannes Brahms, 1. Sinfonie, 4. Satz, Staatskapelle Berlin
    Daniel Barenboim wahrt auch in feurigen Passagen ein Mindestmaß an Contenance, der Klang bleibt immer rund und geschlossen. Dennoch ist die Einspielung aus Berlin alles andere als behäbig, sie verströmt bloß eine größere Ruhe. Und auch aus der erwächst eine gewaltige Sogkraft. Weil Barenboim und sein Orchester jede Phrase auf ihr Ziel hinführen und mit einem reich nuancierten und satten Klang füllen – die Staatskapelle spielt mit fünfzig Streichern, ist also in dieser Gruppe um etwa ein Drittel größer besetzt als die Kammerphilharmonie.
    Trotz des ziemlich massigen Aufgebots und einem mitunter spürbaren Hang zum Monumentalen, schafft Barenboim mit seinen Musikern durchaus auch wunderbar intime Momente. Etwa im Andante, in dem sich Daniel Barenboim viel Zeit nimmt, um die Piano-Schattierungen auszukosten. Die Musik wirkt hier zu Beginn ganz in intim und zärtlich, als würden die Bögen die Saiten liebkosen.
    Musik: Johannes Brahms, 1. Sinfonie, 2. Satz, Staatskapelle Berlin
    Zwei Orchester auf Spitzenniveau
    Wie die Kammerphilharmonie Bremen ist auch die Staatskapelle Berlin mit exzellenten Musikern besetzt. Die Solopartien der Bläser sind ausnahmslos hinreißend gespielt, sei es in den Posaunen, Flöten, Oboen oder Klarinetten.
    Musik: Johannes Brahms, 1. Sinfonie, 3. Satz, Staatskapelle Berlin
    Eine Sonderrolle hat Brahms dem Solohorn eingeräumt, das in vielen Passagen in den Vordergrund tritt. Auch im Finale der ersten Sinfonie, in dem das Horn eine von Alphornrufen inspirierte Melodie anstimmt. In beiden Aufnahmen ein Moment von berückender Schönheit. Bei der Staatskapelle Berlin klingt dieser Hornruf rund und voll.
    Musik: Johannes Brahms, 1. Sinfonie, 4. Satz, Staatskapelle Berlin
    Die Solohornistin der Deutschen Kammerphilharmonie Bremen spielt diese Passage etwas weicher und schwebender, passend zum Bild eines Alphorns auf dem entfernten Hügel einer Berglandschaft.
    Musik: Johannes Brahms, 1. Sinfonie, 4. Satz, Dt. Kammerphilharmonie Bremen
    Es gibt hier natürlich kein richtig oder falsch, sondern zwei unterschiedliche Auffassungen, die beide ihre Berechtigung haben und auf orchestralem Spitzenniveau realisiert sind. Beim direkten Vergleich hängt der Eindruck auch stark davon ab, in welcher Reihenfolge man die Aufnahmen anhört. Wer sich von einer neuen Einspielung auch neue Impulse erhofft, ist sicher bei Järvi besser aufgehoben, wer bei Brahms das sämige Legato und einen üppigen Klang schätzt, wird von Barenboim reich beschenkt.
    Musik: Johannes Brahms, 2. Sinfonie, 2. Satz, Staatskapelle Berlin
    Die beiden Produktionen unterschieden sich auch in der Repertoireauswahl. Paavo Järvis CD ist die zweite Folge eines auf drei Jahre angelegten Brahms-Zyklus, sie kombiniert die erste Sinfonie mit den Haydn-Variationen.
    Daniel Barenboim hat mit der Staatskapelle Berlin das Gesamtpaket auf einen Schlag veröffentlicht. Die Sinfonien zwei bis vier setzen den Weg fort, den er mit der ersten einschlägt. Mit der Reife und Gelassenheit eines 75-jährigen Dirigenten gibt er der Musik Raum, um ihren ganzen Reichtum zu entfalten: Die herrlichen Themen, die dichte Polyfonie, die in der Akustik des neuen Pierre-Boulez-Saals in Berlin transparent abgebildet ist, aber auch den harmonischen Farbreichtum, den er genüsslich auskostet. Das wohl extremste Beispiel ist das Andante moderato aus der vierten Sinfonie, in der die Zeit beinahe stehen zu bleiben scheint. Man kann das als viel zu langsam empfinden und Barenboim vorwerfen, dass die Musik auf der Stelle tritt. Man kann das Tempo aber auch als Möglichkeit des Innehaltens wahr nehmen und sich in eine andere Sphäre tragen lassen. Dann wirkt dieser Satz wunderbar zeitlos und entrückt, wie der Ausblick in eine himmlische Farbwelt.
    Musik: Johannes Brahms, 4. Sinfonie, 2. Satz, Staatskapelle Berlin
    Ein Ausschnitt aus der Gesamtaufnahme der Brahms-Sinfonien mit Daniel Barenboim und der Staatskapelle Berlin, die bei der Deutschen Grammophon erschienen ist. Die Einspielung der Deutschen Kammerphilharmonie Bremen unter Paavo Järvi ist eine Produktion von RCA Red Seal.
    Johannes Brahms
    Sinfonien Nr. 1-4
    Staatskapelle Berlin
    Ltg.: Daniel Barenboim.
    Deutsche Grammophon 4835251 (4 CDs)
    Johannes Brahms
    Sinfonie Nr. 1 c-Moll, Haydn-Variationen
    Deutsche Kammerphilharmonie Bremen
    Ltg. Paavo Järvi
    RCA Red Seal 19075869552