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Sinfonische Musik von Bruckner und Wagner
Leidenschaft und emotionale Wärme in den Vordergrund gerückt

Aufnahmen von großen Orchesterwerken sind selten geworden. Doch die Deutsche Grammophon präsentiert jetzt den Start zu einem neuen Zyklus der Bruckner-Sinfonien. Einspielen soll sie der lettische Dirigent Andris Nelsons mit dem Leipziger Gewandhausorchester.

Von Marcus Stäbler |
    Andris Nelsons dirigiert während einer Probe das Gewandhausorchester in Leipzig (Sachsen). Der 36-jährige Lette tritt ab der Saison 2017/2018 das Amt des Gewandhauskapellmeisters an.
    Andris Nelsons dirigiert das Gewandhausorchester. (dpa / Jan Woitas)
    Mit der kommenden Saison wird Andris Nelsons neuer Chefdirigent des Gewandhausorchesters in Leipzig. Kurz vor dem Start hat er seine erste CD mit dem Klangkörper veröffentlicht. Sie verbindet die dritte Sinfonie von Bruckner mit Wagners "Tannhäuser"-Ouvertüre.
    Musik: Wagner, Tannhäuser-Ouvertüre
    Die Begegnung mit Wagners "Tannhäuser" war für Andris Nelsons ein Erweckungserlebnis. Daran erinnerte sich der lettische Dirigent vor vier Jahren in einem Interview mit der "Zeit":
    "Ich war fünf Jahre alt und ging mit meinen Eltern in Riga in den 'Tannhäuser'. Anschließend bin ich regelrecht zusammengebrochen. Ich bekam hohes Fieber, weinte drei Tage lang und konnte nicht schlafen. Das war wie eine Initiation, und danach wollte ich um jeden Preis Dirigent werden."
    Musik: Wagner, Aufblende
    Richard Wagners "Tannhäuser"-Musik kann eine fast narkotische Wirkung entfalten. Das ist in der neuen Konzertaufnahme der Ouvertüre unter Leitung von Andris Nelsons deutlich zu spüren. Nelsons zelebriert die kantable Schönheit des berühmten Anfangs, er genießt jeden Ton und formt mit dem Gewandhausorchester Leipzig einen warmen Klang, geführt vom weichen Timbre der Hörner. Vor dem ersten Höhepunkt nimmt er sich Zeit für einen kurzen Tempostau, um alle Kräfte zu bündeln und dann die ganze Pracht des Themas zu entfalten.
    Musik: Wagner, Aufblende
    Wagners "Tannhäuser"-Ouvertüre erklingt hier auf einem Album, das den Beginn einer neuen Ära einläutet. Denn die Konzertaufnahme aus Leipzig ist die erste Einspielung des Gewandhausorchesters mit dem künftigen Chefdirigenten Andris Nelsons. Er wird sein Amt als Gewandhaus-Kapellmeister und Nachfolger von Riccardo Chailly Mitte der nächsten Saison antreten. Außerdem markiert die CD den Start eines neuen Zyklus. Für die Deutsche Grammophon soll Andris Nelsons in den kommenden Jahren mit dem Gewandhausorchester die Sinfonien von Anton Bruckner aufnehmen, jeweils gekoppelt mit ausgewählten Höhepunkten aus dem Schaffen von Richard Wagner, den Bruckner abgöttisch verehrte.
    Musik: Wagner, kurze Aufblende
    Zum Auftakt der neuen Edition verbindet Andris Nelsons die "Tannhäuser"-Ouvertüre mit der Wagner gewidmeten dritten Sinfonie von Anton Bruckner als Hauptwerk. Der erste Satz beginnt mit einem pianissimo inszenierten Klangnebel aus Liegetönen der Holzbläser und einem geheimnisvollen Wispern der Streicher, aus dem nach vier Takten ein Trompetenmotiv heraus wächst.
    Ein fragiles Gewebe, das jedes Detail hörbar macht. Das ist in einer Konzertaufnahme besonders heikel, weil keine nachträglichen Korrekturen möglich sind. Hier offenbart das Gewandhausorchester einige Probleme in der Feinabstimmung, sowohl beim Zusammenspiel als auch in der Intonation. Bläser und Streicher sind immer mal eine Schwebung auseinander.
    Musik: Bruckner, 3. Sinfonie, 1. Satz
    Der Beginn der dritten Sinfonie von Anton Bruckner wirkt hier insgesamt einen Tick zu schwerfällig, die Unisoni sind teilweise unscharf modelliert. Als hätten Andris Nelsons und das Gewandhausorchester Leipzig im Konzert im Juni 2016 eine Weile gebraucht, um auf Betriebstemperatur zu kommen. Erst im weiteren Verlauf des Satzes finden sie besser zusammen und verdichten die Intensität und Präzision.
    Dabei tritt Nelsons‘ Handschrift zu Tage. Das Schroffe und Blockhafte von Bruckners Klangsprache steht für ihn weniger im Vordergrund. Wahrscheinlich hat sich der Dirigent auch deshalb für die umstrittene dritte Fassung der Sinfonie entschieden, in der viele Brüche der Urfassung gekittet und geglättet sind. Andris Nelsons setzt eher auf einen runden als auf einen allzu rohen Klang, er musiziert mit Herz und Leidenschaft und interessiert sich mehr für den emotionalen Gehalt als für das formale Gerüst der Sinfonie. Gemeinsam mit dem Gewandhausorchester formt er große Bögen und packende Steigerungen.
    Musik, Bruckner, 3. Sinfonie, 1. Satz
    Andris Nelsons und das Gewandhausorchester Leipzig mit dem ersten Satz der dritten Sinfonie von Anton Bruckner, in einer neuen Konzertaufnahme der Deutschen Grammophon.
    Bruckner hat seine dritte Sinfonie Richard Wagner "in tiefster Ehrfurcht" gewidmet, wie es auf dem Titelblatt heißt, und sich auch musikalisch vor ihm verbeugt. Gerade der zweite Satz, ein Adagio, war ursprünglich mit zahlreichen Anspielungen durchsetzt, etwa auf Wagners Tristan und die Walküre. Doch in der von Nelsons gewählten dritten Fassung der Sinfonie sind diese Anspielungen getilgt und wie viele Kühnheiten der Originalversion eingedämmt. Mit der Überarbeitung hat Anton Bruckner seine Sinfonie zugänglicher gemacht. Diese Haltung kommt Andris Nelsons entgegen, der Bruckners Kontraste eher mildert, als dass er sie bestärkt, und der die Musik immer organisch atmen lässt – so wie zu Beginn des langsamen Satzes, in dem er den Phrasen Zeit gibt, sich zu entfalten, ihre Zielpunkte anzusteuern und auch wieder zur Ruhe zu kommen. Das Gewandhausorchester betört hier mit seinem weichen und feinkörnigen Streichersound. Diese Klangkultur erreichen die Bläser nicht immer.
    Musik, Bruckner, 3. Sinfonie, 2. Satz
    Ein zartes Pianissimo im Adagio aus Bruckners dritter Sinfonie, von den Streichern des Gewandhausorchester ganz fein in die Saiten gestreichelt. Die Suche nach einem edlen und weich gemischten Klang prägt die ganze Aufnahme der Sinfonie. Auch im anschließenden Scherzo, dem dritten Satz, meidet der Dirigent grelle Farben und spitze Akzente. Der markante Staccato-Rhythmus des Anfangs klingt in der Einspielung weniger scharf gestanzt als sonst, Nelsons lässt die Töne der Pauken und Trompeten nicht ganz so kurz spielen und gibt dem Thema dadurch einen etwas federnden Charakter.
    Musik, Bruckner, 3. Sinfonie, 3. Satz
    Andris Nelsons und das Gewandhausorchester interpretieren Bruckners dritte Sinfonie wuchtig, aber nicht brachial – darin unterscheidet sich die Konzertaufnahme aus dem Juni 2016 von anderen Einspielungen. Ob Nelsons mit seinem grundsätzlich eher milden Ansatz tatsächlich den Charakter der Musik trifft oder doch einen zu braven "Bruckner light" kreiert, das lässt sich mit Bestimmtheit erst nach ein paar weiteren Folgen der Aufnahme sagen – ebenso wie erst die Zukunft zeigen wird, ob Nelsons das Orchester weiter entwickeln kann und wie er mit den Schwächen umgeht. Seine Amtszeit als neuer Kapellmeister im Gewandhaus beginnt ja erst im Februar 2018.
    Das erste Album des Bruckner-Zyklus deutet an, wo noch Arbeit auf Andris Nelson wartet, demonstriert aber auch die Stärken des Orchesters und seiner persönlichen Handschrift. Sie vereint Leidenschaft und emotionale Wärme mit einem feinen Klangsinn. Dadurch bleibt die Aufnahme der dritten Sinfonie über weite Strecken auch an groß besetzten Tutti-Stellen vergleichsweise transparent und macht die Komplexität hörbar, wenn Bruckner verschiedene Themen und deren Varianten übereinander schichtet – wie etwa im gewaltigen Finale der Sinfonie.
    Musik: Bruckner, 3. Sinfonie, 4. Satz
    Das war das Finale der dritten Sinfonie von Anton Bruckner, mit dem Gewandhausorchester Leipzig unter Leitung von Marcus Stäbler. Die Live-Aufnahme ist der erste Teil eines neuen Bruckner-Zyklus bei der Deutschen Grammophon. Am Mikrofon verabschiedet sich Marcus Stäbler.
    Anton Bruckner: Sinfonie Nr. 3 d-moll, Richard Wagner: Tannhäuser-Ouvertüre.
    Gewandhausorchester Leipzig, Andris Nelsons
    Deutsche Grammophon 4797208