So Werner Michael Schwarz, der Wiener Historiker, der gemeinsam mit Siegfried Mattl und Klaus Müller-Richter Felix Saltens Buch über den „Wurstelprater“ neu herausgegeben hat:
Den Prater gibt es seit Mitte des 18. Jahrhunderts in einer ähnlichen Form wie es ihn jetzt gibt. Der Wurstelprater im speziellen ist ein Volksprater, also im eigentlichen Sinn ein Vergnügungspark.
Durch den hohen Viadukt, über den die Lokomotiven Pfeifen, geht man die breite, sonnige Straße hinunter zu den Buden. Unaufhörlich wimmelt es von Menschen unter den Säulen des Viaduktes, als sei hier eine Schleuse der großen Stadt geöffnet und wolle alles, was an Faulheit und Fröhlichkeit, an singendem Stumpfsinn und bummelnden Elend drinnen in dem geschäftigen Leben zwischen den hohen Häusern keinen Platz findet, ausströmen in ein riesiges Reservoir.
So führt uns der 1869 geborene Felix Salten, begleitet durch den Fotografen Emil Mayer, in den Prater mit seinem Wahrzeichen, dem Riesenrad, hinein, auf dieses Gelände, in dem die besseren Kreise dem Pferdesport nachgehen und das Volk sich auf einer Art ständigem Jahrmarkt vergnügt. Hier das moderne Großstadt-Wien zu Beginn des letzten Jahrhunderts, die Großstadt, die durch die rasant sich ändernden technischen, ökonomischen und damit auch sozialen Bedingungen die Menschen entwurzelt, durcheinanderwirbelt, die die Frage nach der Identität und Zugehörigkeiten ganz neu stellt, da das angekapselte Vergnügungsviertel am Ufer der Donau, in Mitten der Stadt. Schon die ersten Zeilen dieser 1911 erstmals erschienenen Sammlung von Miniaturen, Momentaufnahmen, konstituieren den Prater als geographisch und sozial abgetrennten Raum. Als Schlüsseltext zur Wiener Moderne diskutieren die Herausgeber des Neudrucks deshalb diese Text-Foto-Kollage, die vom Spannungsverhältnis zwischen den Räumen lebt, obwohl sie nur den einen zeigt
Man kann den Prater gerade im Wiener Kontext als eine Art Gegenort bezeichnen, aber nicht nur als Gegenort im Sinn von sozialen Unterschichten oder von spezifischen Vergnügungskulturen, sondern auch für andere Gruppen der Gesellschaft. Also im Prater hat die Weltausstellung stattgefunden, also in diesem großen Areal. Das ist ein vielfältig vernetzter, sozial vernetzter Ort, und der Wurstelprater ist mehr oder weniger das Herzstück dieser Anlage, wo es sehr viele Buden gegeben hat, sehr viele Schaustellungen, es kommen im späten 19. Jahrhundert dann diese ganzen motorisierten Bewegungsattraktionen hinzu, das Riesenrad, das heute noch das Wahrzeichen ist des Praters.
Hier weilt die Muse, die Bewunderung dir entringt! Bitte einzutreten, meine Herrschaften, soeben ist Beginn der Vorstellung. Sie sehen hier die Königin der Nacht ...
„Der Ausrufer“ ist der erste Text überschrieben, bebildert mit gleich drei unterschiedlichen Exemplaren dieser besonderen Spezies. Felix Salten, „einer der produktivsten, vielseitigsten und klarsichtigsten Schriftsteller der Wiener Moderne“, so die Herausgeber, zeigt den Prater zwar als exterritorialen Raum, als Raum ohne Zeit, ohne Vergangenheit und Zukunft, aber als Raum mit einer enormen Sogwirkung.
Meine Harrschaften, Kassa! Kassa! Soeben ist Anfang und Beginn!“ Der Taucher im braunen Gummianzug mit der schimmernden Kupferhaube verschwindet in das Dunkel der Bude.
Anonym sprechen die Ausrufer, sprechen die Attraktionen die Besucher an, anonym stehen und gaffen diese in der Menge, werden sie herausgehoben und allein im Fokus des Augenblicks gezeigt. Niemanden interessiert, was der „Strizzi“, der an der Kraftmaschine nicht zahlen will, sonst im Leben macht. Oder der einsame Mann, der sich im Gartenlokal betrinkt und den Emil Mayer schließlich zeigt: die Stirn auf der Tischplatte, der Hut etwas weggerollt, das letzte Bier halbleer. Geradezu altmodisch zeigen Mayers Fotos die Besucher des Praters als Gestrandete, Flaneure oder Zuschauer – oft auch von hinten, ohne dass man sieht, was sie da eigentlich schauen. Das Panoptikum? Den Meerestaucher, der in eine Wassertonne steigt? Die Dame ohne Unterleib oder eine Damenkapelle? Man lässt sich treiben und man kann sich treiben lassen! Das großes Thema, das die Moderne beschäftigt, die brüchig gewordene Identität, die Frage von Zuschreibungen und Verortungen, spielen im Prater, so wie Emils Salten ihn zeichnet, keine Rolle.
Emil Mayer und Felix Salten zeigen dieses Problem ebenso auf, aber sie lösen es anders als man es herkömmlicher Weise in der Wiener Moderne kennt – sie lösen es durch das völlige negieren dieses Problems. Die Praterbesucher, die uns Felix Salten und Emil Meyer zeigen, kennen alle diese Frage nach der Identität nicht. Sie gehören keinen Nationen an, sie gehören keinen Parteien an, sie gehören keinen Berufsgruppen an, sie gehören keinen „Rassen“ an, sie sind einfach da. Sie leben in der Gegenwart, es gibt keine Zukunft, der Prater ist so ein letztes Refugium, wo man außerhalb der Formierungen der Moderne leben kann. Das ist mehr oder weniger ein utopistischer Blick auf den Wiener Prater, der wahrscheinlich relativ wenig mit dem zu tun hat, was die Leute da wirklich gemacht haben. Entsprechend zeigen Meyer und Salten den Prater in seinen alten Attraktionen, in diesem Schau-Attraktionen und nicht in diesen neuen, zu diesem Zeitpunkt eigentlich wesentlich attraktiveren wie den Hochchoppern oder dem Riesenrad.
Saltens Beobachtungen, durch die Fotos teils illustriert, teils konterkariert, entführen den Leser in eine andere Welt, erinnern daran, wie man als Kind auf der Kirmes gestaunt und den gruseligen Zauber der Illusion genossen hat. Sie rühren ihn an und heben ihn aus der Zeit. Das macht die Lektüre des gut 120seitigen, fast vergessenen Textes auch heute noch zu einem Erlebnis. Der ebenso umfangreiche Anhang hat es dagegen schwer, doch ist er nicht minder interessant. Hier werden Texte und Bilder eingeordnet in den großen Zusammenhang der Zeit und einzelne Aspekte diskutiert: die Rolle der Phantasmagorien beispielsweise oder der Anomalien wie der Zwergen und Riesen für das Volksvergnügen. Und immer geht es dabei auch darum, die herausragende Leistung von Autor und Fotograf – beide sind heute fast vergessen – dem kollektiven Gedächtnis zu bewahren:
Sie versuchen hier eine Insel zu konstruieren, wo die zentralen Fragen der Moderne einfach nicht existieren. Wo man leben kann, da ist, trinkt, tanzt, sich mehr oder weniger hingibt in die Situation, in den Augenblick, wo unmittelbare Kommunikation noch stattfindet, wo der Witz im Spott besteht, der Witz besteht auch im Spott auf die Moderne, auf die modernen Attraktionen und ich glaube, das hängt auch stark mit einer Perspektive zusammen, die jüdische Intellektuelle um 1900 haben, wo sie zunehmen von politischen und rassistischen Formierungen in immer prekärere Formationen gelangen und Salten und Mayer antworten auf diese Probleme, indem sie einen utopischen Raum konstruieren und ich denke, dass das für viele ihrer Leser von dem her ein sehr attraktiver Text gewesen ist.
Nun wandern alle durch die dunklen Alleen zurück zur Stadt, innig verbunden, die der Wein, die Liebe und die laue Frühlingsnacht zueinander gesellte. (...) Aus den fernen Gründen der Auen schleichen die Strizzi herauf und die Strotter durch die Nacht und lockern das Messer im Gürtel; auf entlegenen Posten streifen dort in den Büschen die Polizeimänner, die Hand am Revolver und spähen kampfbereit in das Dunkel. Tiefe Stille auf allen Wegen und in den Wipfeln der Bäume. – Der große Wurstel ist zur Ruhe gegangen.
Siegfried Mattl / Klaus Müller-Richter / Werner Michael Schwarz (Hg):
Felix Salten: Wurstelprater. Ein Schlüsseltext zur Wiener Moderne
Promedia, 256 S., EUR 19,90
Den Prater gibt es seit Mitte des 18. Jahrhunderts in einer ähnlichen Form wie es ihn jetzt gibt. Der Wurstelprater im speziellen ist ein Volksprater, also im eigentlichen Sinn ein Vergnügungspark.
Durch den hohen Viadukt, über den die Lokomotiven Pfeifen, geht man die breite, sonnige Straße hinunter zu den Buden. Unaufhörlich wimmelt es von Menschen unter den Säulen des Viaduktes, als sei hier eine Schleuse der großen Stadt geöffnet und wolle alles, was an Faulheit und Fröhlichkeit, an singendem Stumpfsinn und bummelnden Elend drinnen in dem geschäftigen Leben zwischen den hohen Häusern keinen Platz findet, ausströmen in ein riesiges Reservoir.
So führt uns der 1869 geborene Felix Salten, begleitet durch den Fotografen Emil Mayer, in den Prater mit seinem Wahrzeichen, dem Riesenrad, hinein, auf dieses Gelände, in dem die besseren Kreise dem Pferdesport nachgehen und das Volk sich auf einer Art ständigem Jahrmarkt vergnügt. Hier das moderne Großstadt-Wien zu Beginn des letzten Jahrhunderts, die Großstadt, die durch die rasant sich ändernden technischen, ökonomischen und damit auch sozialen Bedingungen die Menschen entwurzelt, durcheinanderwirbelt, die die Frage nach der Identität und Zugehörigkeiten ganz neu stellt, da das angekapselte Vergnügungsviertel am Ufer der Donau, in Mitten der Stadt. Schon die ersten Zeilen dieser 1911 erstmals erschienenen Sammlung von Miniaturen, Momentaufnahmen, konstituieren den Prater als geographisch und sozial abgetrennten Raum. Als Schlüsseltext zur Wiener Moderne diskutieren die Herausgeber des Neudrucks deshalb diese Text-Foto-Kollage, die vom Spannungsverhältnis zwischen den Räumen lebt, obwohl sie nur den einen zeigt
Man kann den Prater gerade im Wiener Kontext als eine Art Gegenort bezeichnen, aber nicht nur als Gegenort im Sinn von sozialen Unterschichten oder von spezifischen Vergnügungskulturen, sondern auch für andere Gruppen der Gesellschaft. Also im Prater hat die Weltausstellung stattgefunden, also in diesem großen Areal. Das ist ein vielfältig vernetzter, sozial vernetzter Ort, und der Wurstelprater ist mehr oder weniger das Herzstück dieser Anlage, wo es sehr viele Buden gegeben hat, sehr viele Schaustellungen, es kommen im späten 19. Jahrhundert dann diese ganzen motorisierten Bewegungsattraktionen hinzu, das Riesenrad, das heute noch das Wahrzeichen ist des Praters.
Hier weilt die Muse, die Bewunderung dir entringt! Bitte einzutreten, meine Herrschaften, soeben ist Beginn der Vorstellung. Sie sehen hier die Königin der Nacht ...
„Der Ausrufer“ ist der erste Text überschrieben, bebildert mit gleich drei unterschiedlichen Exemplaren dieser besonderen Spezies. Felix Salten, „einer der produktivsten, vielseitigsten und klarsichtigsten Schriftsteller der Wiener Moderne“, so die Herausgeber, zeigt den Prater zwar als exterritorialen Raum, als Raum ohne Zeit, ohne Vergangenheit und Zukunft, aber als Raum mit einer enormen Sogwirkung.
Meine Harrschaften, Kassa! Kassa! Soeben ist Anfang und Beginn!“ Der Taucher im braunen Gummianzug mit der schimmernden Kupferhaube verschwindet in das Dunkel der Bude.
Anonym sprechen die Ausrufer, sprechen die Attraktionen die Besucher an, anonym stehen und gaffen diese in der Menge, werden sie herausgehoben und allein im Fokus des Augenblicks gezeigt. Niemanden interessiert, was der „Strizzi“, der an der Kraftmaschine nicht zahlen will, sonst im Leben macht. Oder der einsame Mann, der sich im Gartenlokal betrinkt und den Emil Mayer schließlich zeigt: die Stirn auf der Tischplatte, der Hut etwas weggerollt, das letzte Bier halbleer. Geradezu altmodisch zeigen Mayers Fotos die Besucher des Praters als Gestrandete, Flaneure oder Zuschauer – oft auch von hinten, ohne dass man sieht, was sie da eigentlich schauen. Das Panoptikum? Den Meerestaucher, der in eine Wassertonne steigt? Die Dame ohne Unterleib oder eine Damenkapelle? Man lässt sich treiben und man kann sich treiben lassen! Das großes Thema, das die Moderne beschäftigt, die brüchig gewordene Identität, die Frage von Zuschreibungen und Verortungen, spielen im Prater, so wie Emils Salten ihn zeichnet, keine Rolle.
Emil Mayer und Felix Salten zeigen dieses Problem ebenso auf, aber sie lösen es anders als man es herkömmlicher Weise in der Wiener Moderne kennt – sie lösen es durch das völlige negieren dieses Problems. Die Praterbesucher, die uns Felix Salten und Emil Meyer zeigen, kennen alle diese Frage nach der Identität nicht. Sie gehören keinen Nationen an, sie gehören keinen Parteien an, sie gehören keinen Berufsgruppen an, sie gehören keinen „Rassen“ an, sie sind einfach da. Sie leben in der Gegenwart, es gibt keine Zukunft, der Prater ist so ein letztes Refugium, wo man außerhalb der Formierungen der Moderne leben kann. Das ist mehr oder weniger ein utopistischer Blick auf den Wiener Prater, der wahrscheinlich relativ wenig mit dem zu tun hat, was die Leute da wirklich gemacht haben. Entsprechend zeigen Meyer und Salten den Prater in seinen alten Attraktionen, in diesem Schau-Attraktionen und nicht in diesen neuen, zu diesem Zeitpunkt eigentlich wesentlich attraktiveren wie den Hochchoppern oder dem Riesenrad.
Saltens Beobachtungen, durch die Fotos teils illustriert, teils konterkariert, entführen den Leser in eine andere Welt, erinnern daran, wie man als Kind auf der Kirmes gestaunt und den gruseligen Zauber der Illusion genossen hat. Sie rühren ihn an und heben ihn aus der Zeit. Das macht die Lektüre des gut 120seitigen, fast vergessenen Textes auch heute noch zu einem Erlebnis. Der ebenso umfangreiche Anhang hat es dagegen schwer, doch ist er nicht minder interessant. Hier werden Texte und Bilder eingeordnet in den großen Zusammenhang der Zeit und einzelne Aspekte diskutiert: die Rolle der Phantasmagorien beispielsweise oder der Anomalien wie der Zwergen und Riesen für das Volksvergnügen. Und immer geht es dabei auch darum, die herausragende Leistung von Autor und Fotograf – beide sind heute fast vergessen – dem kollektiven Gedächtnis zu bewahren:
Sie versuchen hier eine Insel zu konstruieren, wo die zentralen Fragen der Moderne einfach nicht existieren. Wo man leben kann, da ist, trinkt, tanzt, sich mehr oder weniger hingibt in die Situation, in den Augenblick, wo unmittelbare Kommunikation noch stattfindet, wo der Witz im Spott besteht, der Witz besteht auch im Spott auf die Moderne, auf die modernen Attraktionen und ich glaube, das hängt auch stark mit einer Perspektive zusammen, die jüdische Intellektuelle um 1900 haben, wo sie zunehmen von politischen und rassistischen Formierungen in immer prekärere Formationen gelangen und Salten und Mayer antworten auf diese Probleme, indem sie einen utopischen Raum konstruieren und ich denke, dass das für viele ihrer Leser von dem her ein sehr attraktiver Text gewesen ist.
Nun wandern alle durch die dunklen Alleen zurück zur Stadt, innig verbunden, die der Wein, die Liebe und die laue Frühlingsnacht zueinander gesellte. (...) Aus den fernen Gründen der Auen schleichen die Strizzi herauf und die Strotter durch die Nacht und lockern das Messer im Gürtel; auf entlegenen Posten streifen dort in den Büschen die Polizeimänner, die Hand am Revolver und spähen kampfbereit in das Dunkel. Tiefe Stille auf allen Wegen und in den Wipfeln der Bäume. – Der große Wurstel ist zur Ruhe gegangen.
Siegfried Mattl / Klaus Müller-Richter / Werner Michael Schwarz (Hg):
Felix Salten: Wurstelprater. Ein Schlüsseltext zur Wiener Moderne
Promedia, 256 S., EUR 19,90