"Das sind viele kleine Texte, die sind still und langsam und auch kurz. Das sind Mauerblümchentexte."
Man weiß bei Arnold Stadler nie, ob er so bescheiden ist und die Geschichten und Prosaskizzen in seinem neuen Buch "New York machen wir das nächste Mal" wirklich für "Mauerblümchentexte" hält. Oder ob er kokettiert und selbst genau weiß, dass diese vermeintlichen Blümchen eher einem Strauß zart duftender, aber leuchtender Blumen ähneln. Wahrscheinlich gehört beides untrennbar zusammen: Stadlers Bescheidenheit resultiert aus einer haargenauen Kenntnis des eigenen Könnens:
"Ich hab da gar keine Sorge, ich weiß, was ich geschrieben habe. Ich bin mir ganz sicher bei diesem Buch. Das kann ich nicht von allen Büchern sagen, das war manchmal riskant, was ich geschrieben habe. Für mich selbst auch, dachte ich: Was machst du denn da? Ich schätze das Buch doch sehr. Ich kann Ihnen nicht mal genau sagen, warum."
Nun gut, dann müssen wir Leser das wohl herausfinden. Zunächst mal hat das Buch eine ungewöhnliche Form: Es enthält Erzählungen, Geschichten, Gedichte, aber auch ganz kurze Szenenbeschreibungen, Einwürfe oder gar nur Aperçus. Was auf den ersten Blick wie eine Materialsammlung aussieht, entpuppt sich bei konzentrierterem Hinsehen als genau durchkomponiert. Das Buch ist gegliedert in zehn Kapitel, deren Überschriften Stadler sorgfältig gewählt hat und die die Stimmung der Kapitel einfangen. "Himmelreich oder Unvergessliches. So-gut-wie-nichts" heißt zum Beispiel Nummer eins, oder, Nummer zwei: "Geschichten, in denen das Fahren mit dem Sehen zusammenfiel und das Leben mit dem Sterben".
"Das ist wie ein Haus gebaut, aber nicht konstruiert, sondern eher wie eine Partitur komponiert. Sie können es vergleichen mit einer Partitur. Die Partitur hat ja zehn Teile, sie hat Überschriften, einzelne Sätze. Und in der Musik ist das auch so: Die sind länger und kürzer und folgen bestimmten Gesetzen."
So viel zur Bauweise von "New York machen wir das nächste Mal". Aber wovon erzählt Stadler nun? Von "linkshändigen Träumern", wie es einmal über Picasso heißt und eigentlich für alle Figuren gilt. Die vielleicht prägnanteste und grausamste Miniatur des Buches geht so:
"Möglicher Schlusssatz:
In der Nacht vom 21. auf den 22. Juni stürzte er sich vor den Zug.
Es war sein erstes Lebenszeichen."
So gnadenlos schlagen zwar nicht alle Texte Stadlers zu, aber der Generalbass sind durchaus enttäuschte Hoffnungen. Der vertröstende Satz aus dem Titel "New York machen wir das nächste Mal" zieht sich wie ein Leitmotiv durch das Buch. Und natürlich wird das Versprechen nie eingelöst. Nicht zufällig sind es Kinder, die diesen schrecklichen Satz, der ein nahes Abenteuer ins nicht mehr Greifbare verlagert, zuerst zu hören bekommen:
"Kinder, die unterwegs sind, um einen Onkel abzuholen auf dem Flughafen in New York, von Scranton aus, das ist eine armselige Stadt am Fuße der Appalachen, kalt und windig und verkommen, heruntergekommen, eine Bergarbeiterstadt. Und da sind die unterwegs und holen einen Onkel ab, der aus Italien anreist. Und die bekommen von ihrem Vater versprochen, der aber dann lieber ins Bordell geht, dann haben sie keine Zeit, kein Geld mehr, um nach New York zu fahren, sondern nur auf den Flughafen. Dann sehen sie New York in der Ferne, ein paar Hochhäuser. Vielleicht das Lincoln Center oder ich weiß nicht, was man damals gesehen hat, Empire State Building. Und bekommen gesagt von ihrem Vater: 'New York machen wir das nächste Mal.' Also die kindliche Hochgemutheit des Reisens, wenn man zum ersten Mal unterwegs ist, und dann vertröstet wird. Und so geht es weiter. Dieser Satz ist doch - ähnliche Sätze, der ist den Menschen, die aufmerksam leben und ein Sehnsuchtspotential haben, ein sehr geläufiger Satz."
"Geschichten aus dem Zweistromland" ist deshalb auch ein besonders garstiger Untertitel. Denn immerhin schaffen es einige wenige Figuren bis nach Amerika. Aber zwischen Euphrat und Tigris kommt definitiv niemand an. Stadlers Figuren sind mit ihrer Gegend verwachsen, mit "schwäbisch Mesopotamien", wie es im Buch heißt, der Gegend des badischen Meßkirch, wo Stadler bis heute teilweise lebt.
In "New York machen wir das nächste Mal" kehren viele Sätze und Figuren aus früheren Büchern wieder. Trotzdem möchte Arnold Stadler es nicht als Kondensat seiner bisherigen Bücher betrachtet sehen. Er empfindet sein neues Buch eher als Fortschreibung der vorigen.
"Ich bin ja mit meinen Büchern eigentlich immer an einem Buch, an einem großen Erzählzusammenhang. Ich hab auch nur ein Thema, das sind Umschreibungsversuche. Zum Beispiel: Was ist die Liebe? Liebe ist das Warten auf die Liebe. Das stellt sich dann heraus. Und meine Muse ist, die das alles ins Licht bringt und zum Vorschein bringt, ist die Erinnerung."
Die Erinnerung an verdrängte Kriegserlebnisse zum Beispiel. Ein Vater, der Jahrzehnte lang kein Wort über den Zweiten Weltkrieg und die anschließende Gefangenschaft verlor, schreit Anfang des dritten Jahrtausends plötzlich nachts "Nicht schießen!". Nicht nur bekannte Stadler-Motive, auch vertraute Figuren treten wieder auf. Roland zum Beispiel, Melancholiker und Alter Ego des Autors, der gleich am Anfang des Buches eine der prägnantesten und schönsten Prosaminiaturen bekommt, die sich wie ein Vorwort liest:
"Wenn Roland sein uraltes, handgeschriebenes Buch mit den Telefonnummern und den Adressen durchging, stieß er auf eine Welt von Enttäuschten. Selbst Kinder gehörten dazu. Und sein eigener Name, den er schon auf der ersten Seite lesen konnte, war der allererste in der Liste derer, die enttäuscht waren. Er, das war jener, der von allen der Enttäuschteste war. Von allem, von allen, und am meisten vielleicht von sich selbst. Und doch hörte er Menschen sagen, dass sie glücklich waren. Glücklich, dass es ihn gab. Manchmal gehörte er selbst zu diesen Menschen. Glück! - und er ertappte sich dabei und musste zu sich sagen: Jetzt gerade warst du glücklich."
"Ein glücklicher Mensch muss nicht beschrieben werden und muss nicht schreiben. Das nicht ganz Übereinstimmen mit der Welt und das eigene Leben in der Welt - diese kleine Differenz ist ja der Ausgangspunkt des Schreibens."
Ein Buch von Arnold Stadler lesen, das ist fast, wie in eine Messe gehen: Die großen Sinnfragen nach Leben, Sterben, Liebe und Einsamkeit werden aufgeworfen, und Stadler weiß selbst, dass seine Bücher, die allem auf den Grund gehen wollen, Gefahr laufen könnten, rührselig zu werden. Ein Mittel dagegen ist sein Humor:
"Versuch über Zeit und Vergänglichkeit, und schon ist es Abend."
"Sonst könnte es manchmal zu elegisch werden oder pathetisch auch. Das sind meine Absicherungen immer. Aber ich will eigentlich keine Absicherung. Ich möchte einfach Unmittelbarkeit und Nähe. Und durchaus das Risiko, so wie man auch an einer Kante steht und abstürzen kann. Warum soll es nicht so sein dürfen in der Literatur?"
Arnold Stadler stürzt nicht ab, denn er hat eine weitere Absicherung: seine Sprache. Er hat als Lyriker angefangen und setzt seine Worte präzise. Ob er weit ausholt oder knapp beschreibt – Stadler trifft den richtigen Ton. Auf hohes Pathos folgt scheinbar Banales, auf scheinbar Dahingesagtes Gültiges. Einzelne Sätze stehen da wie in Stein gemeißelt und fügen sich doch ein in den Fluss des Textes.
"Die Sehnsucht war damals meine Zukunft, so wie die Erinnerung nun mein Heimweh ist, sagte er sich und nahm sich an diesem Abend fest vor, sich nicht zu besaufen."
Oder, wie Arnold Stadler selbst es in "New York machen wir das nächste Mal" formuliert:
"Wenn es schon keine Menschen fürs Leben gibt, dann gibt es doch Sätze."
Arnold Stadler: "New York machen wir das nächste Mal. Geschichten aus dem Zweistromland", Verlag S. Fischer, 224 Seiten, 17,95 Euro, ISBN: 978-3-10-075137-9
Man weiß bei Arnold Stadler nie, ob er so bescheiden ist und die Geschichten und Prosaskizzen in seinem neuen Buch "New York machen wir das nächste Mal" wirklich für "Mauerblümchentexte" hält. Oder ob er kokettiert und selbst genau weiß, dass diese vermeintlichen Blümchen eher einem Strauß zart duftender, aber leuchtender Blumen ähneln. Wahrscheinlich gehört beides untrennbar zusammen: Stadlers Bescheidenheit resultiert aus einer haargenauen Kenntnis des eigenen Könnens:
"Ich hab da gar keine Sorge, ich weiß, was ich geschrieben habe. Ich bin mir ganz sicher bei diesem Buch. Das kann ich nicht von allen Büchern sagen, das war manchmal riskant, was ich geschrieben habe. Für mich selbst auch, dachte ich: Was machst du denn da? Ich schätze das Buch doch sehr. Ich kann Ihnen nicht mal genau sagen, warum."
Nun gut, dann müssen wir Leser das wohl herausfinden. Zunächst mal hat das Buch eine ungewöhnliche Form: Es enthält Erzählungen, Geschichten, Gedichte, aber auch ganz kurze Szenenbeschreibungen, Einwürfe oder gar nur Aperçus. Was auf den ersten Blick wie eine Materialsammlung aussieht, entpuppt sich bei konzentrierterem Hinsehen als genau durchkomponiert. Das Buch ist gegliedert in zehn Kapitel, deren Überschriften Stadler sorgfältig gewählt hat und die die Stimmung der Kapitel einfangen. "Himmelreich oder Unvergessliches. So-gut-wie-nichts" heißt zum Beispiel Nummer eins, oder, Nummer zwei: "Geschichten, in denen das Fahren mit dem Sehen zusammenfiel und das Leben mit dem Sterben".
"Das ist wie ein Haus gebaut, aber nicht konstruiert, sondern eher wie eine Partitur komponiert. Sie können es vergleichen mit einer Partitur. Die Partitur hat ja zehn Teile, sie hat Überschriften, einzelne Sätze. Und in der Musik ist das auch so: Die sind länger und kürzer und folgen bestimmten Gesetzen."
So viel zur Bauweise von "New York machen wir das nächste Mal". Aber wovon erzählt Stadler nun? Von "linkshändigen Träumern", wie es einmal über Picasso heißt und eigentlich für alle Figuren gilt. Die vielleicht prägnanteste und grausamste Miniatur des Buches geht so:
"Möglicher Schlusssatz:
In der Nacht vom 21. auf den 22. Juni stürzte er sich vor den Zug.
Es war sein erstes Lebenszeichen."
So gnadenlos schlagen zwar nicht alle Texte Stadlers zu, aber der Generalbass sind durchaus enttäuschte Hoffnungen. Der vertröstende Satz aus dem Titel "New York machen wir das nächste Mal" zieht sich wie ein Leitmotiv durch das Buch. Und natürlich wird das Versprechen nie eingelöst. Nicht zufällig sind es Kinder, die diesen schrecklichen Satz, der ein nahes Abenteuer ins nicht mehr Greifbare verlagert, zuerst zu hören bekommen:
"Kinder, die unterwegs sind, um einen Onkel abzuholen auf dem Flughafen in New York, von Scranton aus, das ist eine armselige Stadt am Fuße der Appalachen, kalt und windig und verkommen, heruntergekommen, eine Bergarbeiterstadt. Und da sind die unterwegs und holen einen Onkel ab, der aus Italien anreist. Und die bekommen von ihrem Vater versprochen, der aber dann lieber ins Bordell geht, dann haben sie keine Zeit, kein Geld mehr, um nach New York zu fahren, sondern nur auf den Flughafen. Dann sehen sie New York in der Ferne, ein paar Hochhäuser. Vielleicht das Lincoln Center oder ich weiß nicht, was man damals gesehen hat, Empire State Building. Und bekommen gesagt von ihrem Vater: 'New York machen wir das nächste Mal.' Also die kindliche Hochgemutheit des Reisens, wenn man zum ersten Mal unterwegs ist, und dann vertröstet wird. Und so geht es weiter. Dieser Satz ist doch - ähnliche Sätze, der ist den Menschen, die aufmerksam leben und ein Sehnsuchtspotential haben, ein sehr geläufiger Satz."
"Geschichten aus dem Zweistromland" ist deshalb auch ein besonders garstiger Untertitel. Denn immerhin schaffen es einige wenige Figuren bis nach Amerika. Aber zwischen Euphrat und Tigris kommt definitiv niemand an. Stadlers Figuren sind mit ihrer Gegend verwachsen, mit "schwäbisch Mesopotamien", wie es im Buch heißt, der Gegend des badischen Meßkirch, wo Stadler bis heute teilweise lebt.
In "New York machen wir das nächste Mal" kehren viele Sätze und Figuren aus früheren Büchern wieder. Trotzdem möchte Arnold Stadler es nicht als Kondensat seiner bisherigen Bücher betrachtet sehen. Er empfindet sein neues Buch eher als Fortschreibung der vorigen.
"Ich bin ja mit meinen Büchern eigentlich immer an einem Buch, an einem großen Erzählzusammenhang. Ich hab auch nur ein Thema, das sind Umschreibungsversuche. Zum Beispiel: Was ist die Liebe? Liebe ist das Warten auf die Liebe. Das stellt sich dann heraus. Und meine Muse ist, die das alles ins Licht bringt und zum Vorschein bringt, ist die Erinnerung."
Die Erinnerung an verdrängte Kriegserlebnisse zum Beispiel. Ein Vater, der Jahrzehnte lang kein Wort über den Zweiten Weltkrieg und die anschließende Gefangenschaft verlor, schreit Anfang des dritten Jahrtausends plötzlich nachts "Nicht schießen!". Nicht nur bekannte Stadler-Motive, auch vertraute Figuren treten wieder auf. Roland zum Beispiel, Melancholiker und Alter Ego des Autors, der gleich am Anfang des Buches eine der prägnantesten und schönsten Prosaminiaturen bekommt, die sich wie ein Vorwort liest:
"Wenn Roland sein uraltes, handgeschriebenes Buch mit den Telefonnummern und den Adressen durchging, stieß er auf eine Welt von Enttäuschten. Selbst Kinder gehörten dazu. Und sein eigener Name, den er schon auf der ersten Seite lesen konnte, war der allererste in der Liste derer, die enttäuscht waren. Er, das war jener, der von allen der Enttäuschteste war. Von allem, von allen, und am meisten vielleicht von sich selbst. Und doch hörte er Menschen sagen, dass sie glücklich waren. Glücklich, dass es ihn gab. Manchmal gehörte er selbst zu diesen Menschen. Glück! - und er ertappte sich dabei und musste zu sich sagen: Jetzt gerade warst du glücklich."
"Ein glücklicher Mensch muss nicht beschrieben werden und muss nicht schreiben. Das nicht ganz Übereinstimmen mit der Welt und das eigene Leben in der Welt - diese kleine Differenz ist ja der Ausgangspunkt des Schreibens."
Ein Buch von Arnold Stadler lesen, das ist fast, wie in eine Messe gehen: Die großen Sinnfragen nach Leben, Sterben, Liebe und Einsamkeit werden aufgeworfen, und Stadler weiß selbst, dass seine Bücher, die allem auf den Grund gehen wollen, Gefahr laufen könnten, rührselig zu werden. Ein Mittel dagegen ist sein Humor:
"Versuch über Zeit und Vergänglichkeit, und schon ist es Abend."
"Sonst könnte es manchmal zu elegisch werden oder pathetisch auch. Das sind meine Absicherungen immer. Aber ich will eigentlich keine Absicherung. Ich möchte einfach Unmittelbarkeit und Nähe. Und durchaus das Risiko, so wie man auch an einer Kante steht und abstürzen kann. Warum soll es nicht so sein dürfen in der Literatur?"
Arnold Stadler stürzt nicht ab, denn er hat eine weitere Absicherung: seine Sprache. Er hat als Lyriker angefangen und setzt seine Worte präzise. Ob er weit ausholt oder knapp beschreibt – Stadler trifft den richtigen Ton. Auf hohes Pathos folgt scheinbar Banales, auf scheinbar Dahingesagtes Gültiges. Einzelne Sätze stehen da wie in Stein gemeißelt und fügen sich doch ein in den Fluss des Textes.
"Die Sehnsucht war damals meine Zukunft, so wie die Erinnerung nun mein Heimweh ist, sagte er sich und nahm sich an diesem Abend fest vor, sich nicht zu besaufen."
Oder, wie Arnold Stadler selbst es in "New York machen wir das nächste Mal" formuliert:
"Wenn es schon keine Menschen fürs Leben gibt, dann gibt es doch Sätze."
Arnold Stadler: "New York machen wir das nächste Mal. Geschichten aus dem Zweistromland", Verlag S. Fischer, 224 Seiten, 17,95 Euro, ISBN: 978-3-10-075137-9