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Sinnliche Ästhetik des Widerstands

René Char gilt als literarischer Klassiker. Seine Anerkennung verdankte der Franzose nicht nur seiner unkonventionellen Prosa-Dichtung, sondern auch seinem Engagement als Widerstandskämpfer.

Von Carmela Thiele |
    "Bei jedem gemeinsamen Mahl bitten wir die Freiheit an unseren Tisch. Der Platz bleibt leer, aber das Gedeck liegt bereit."

    Der Dichter René Char notiert die Gedanken und Empfindungen des Widerstandskämpfers, der er selbst auch ist. Entstanden sind die Aphorismen und Prosagedichte 1943/44 während der deutschen Besatzung in Südfrankreich. Veröffentlicht werden sie unter dem Titel "Hypnos, Aufzeichnungen aus dem Maquis" nach dem Zweiten Weltkrieg von Albert Camus, der sich dem Dichter tief verbunden fühlt.

    Hypnos, das ist der griechische Gott des Schlafs, der Bruder des Todes Thanatos. René Char wählt sich Hypnos zum Pseudonym, der Zustand zwischen Leben und Tod im Schlaf wird ihm zu einer Leitmetapher seiner Existenz im Untergrund. Paul Celan hat das Werk ins Deutsche übersetzt.

    "Hypnos ergriff den Winter und kleidete ihn in Granit. Der Winter wurde zu Schlaf, Hypnos zu Feuer. Das weitere ist Sache der Menschen."

    Was Char seinen berühmten Aufzeichnungen voranstellt, verrät, dass seine Dichtung nicht vollständig erschließbar ist. Sie steht in der Tradition dunkler Bilder Baudelaires, die als hermetische Dichtung bezeichnet wird. Hypnos verwandelt sich in Feuer, hier verbirgt sich ein Hinweis auf Heraklit, für den die Erde aus dem göttlichen Urfeuer entstanden ist. Die Sammlung der Aufzeichnungen aus dem Maquis, die in der "Abgespanntheit", im "Zorn" und "unter Ängsten" entstanden sind, gelten als zentrale Schrift der Resistance-Literatur. Char verbindet in ihnen, was neu war, Wirklichkeitssplitter mit philosophischer Tiefe. In den Jahren nach dem Krieg dominieren in seiner unkonventionellen Prosadichtung Naturbilder.

    "Und wer die Erde zu sehen versteht, wie sie Früchte treibt, den erschüttert kein Scheitern, hätt' er auch alles verloren."

    Die heimische Natur wird dem Dichter zum Garanten einer ursprünglichen Kraft. Olivenbaum und Lavendel, der Fluß, die Landschaft der Provence bilden das Metaphern-Reservoir des westlich von Avignon geborenen Lyrikers. Der Sohn eines Großhändlers hat zwar die Handelsschule in Marseille besucht, wendet sich jedoch bald der Dichtung zu. 1929 schließt er sich den Surrealisten um André Breton in Paris an. Der Titel einer seiner ersten Textsammlungen "Der herrenlose Hammer" spielt auf den Automatismus an, eine Technik der Surrealisten, um das Bewusstsein auszuschalten. Char betreibt also bereits vor seiner Zeit als Widerstandskämpfer "Ein zorniges Handwerk", wie der Titel eines frühen Gedichts verrät. Aus den surrealen Wortkollisionen entwickelt der Dichter bald seinen einzigartigen Stil. Dabei verschränkt er in seine Wortbilder Gegensätze wie Licht und Dunkel, er schafft Oxymora, Konstruktionen des Sowohl-als-auch.

    "Das Schon der gezählten Minuten, das Schon, das unfähig ist zu umarmen, weil es Geburt ist und Alter."

    In seinem Prosa-Gedicht "Warum der Tag verfliegt", das um 1960 entstanden ist, formuliert er die Einsamkeit des Lyrikers. Der Humanismus, der während der Resistance unter den Widerständlern aufglühte, hat sich als von ihm auch als poetisch begriffener Ausnahmezustand erwiesen. Der Dichter, so weiß Char jetzt, kommt aus dem "Land nebenan, aus dem Himmel, der eben verschlungen ward".

    "Warum der Tag verfliegt / Städte, Provinzen und Vaterländer sind zu selbstherrlich, zu verstaubt, die Geburt des Dichters für sich zu behalten und zu beanspruchen. Der Dichter lehnt sich Zeit seines Lebens an irgendeinen Baum oder ein Meer, einen Abhang oder eine Wolke von bestimmter Färbung, einen Augenblick lang, wie die Gelegenheit will. Die Doppelnatur des Schmerzes verleiht ihm Aufwind."

    René Char, der 1988 in Paris stirbt, hat nach Kriegsende Ämter und Ehrungen verschmäht. Stattdessen zieht er sich nach Südfrankreich zurück, wo er heute vor 100 Jahren in Isle-sur-la-Sorgue am 14. Juni 1907 das Licht der Welt erblickt hat. Er verkörpert nicht nur das gute Gewissen der Franzosen, die sich während des Krieges der Kollaboration schuldig gemacht haben. Seine Lyrik steht für eine sinnliche Ästhetik des Widerstands, die sich nicht im Narrativen erschöpft. Sie ist ein Plädoyer für die Offenheit des Werks, das sich erst im Leser vollendet, gegen festgefügte Ideologien und Gleichgültigkeit gegenüber menschlichen Werten. Auch die müssen immer wieder neu überprüft werden. Das ist das Vermächtnis von René Char.